Zorniger Kampf gegen Musikberieselung

Der Erzähler in Ariel Denis‘ Roman „Stille in Montparnasse“ wirkt ein wenig überheblich, wenn er seitenweise Tiraden gegen vermeintliche Kulturbanausen, die sich mit musikalischen Oberflächlichkeiten abspeisen lassen, vom Stapel lässt. Der Text schärft die Sinne für den Umstand, dass wir allüberall mit Musik und Geräuschen zugedröhnt werden.
Das, was der Titel verheißt, „Stille in Montparnasse“, ist wohl nur selten dort anzutreffen. Kein Wunder, dass der Ich-Erzähler auf Schritt und Tritt seiner Pariser Rundgänge Lärmquellen begegnet: Hintergrundmusik aus Restaurants, Quäken aus den Kopfhörern von Rollschuhfahrern, dem Dröhnen von Tönen in Bars. Eine Qual für einen musischen Spaziergänger, wie ihn Autor Ariel Denis geschaffen hat. Vielleicht ist er gar der feinfühligste Mensch in ganz Paris.

Allerdings ist sein Musikgeschmack ein spezieller, einer, der einen uneingeschränkten Star kennt: Hermann Prey, dessen markanter Stimme der Autor zujubelt wie ein jugendlicher Popfan. Der deutsche Bariton ist dem Erzähler Stimme gewordene himmlische Harmonie. Seine Schallplatte hört er immer wieder daheim, auf einem Stuhl kniend und Kirschwasser nippend – ein Bild voll der Selbstironie eines Musikpuristen.

Mitunter möchte man einstimmen in den Zorn des Erzählers, wenn er schimpft:

„Und jetzt Ruhe, ihr Mikrofonlutscher, Heulbojen aus den Tonstudios, ihr faden Wisperer, Playbacksänger, ihr Bercy-Großkonzertpilger, ihr Kreativ-DJs für hippe Analphabeten und abgedrehte Snobs durchgemachter Nächte.“

Beim Lesen schärft sich das Bewusstsein für die Tatsache, dass man heute nahezu permanent von Musik begleitet lebt: Vom Radio-Wecker bis zum Klingelton am Handy. Voll Mitleid begleitet der Leser den Erzähler auf seinen Spaziergängen durch den Pariser Stadtteil Montparnasse, die zu Leidenswegen eines wahren Musikfreundes werden.

Es ist das erste in Deutschland erschienene Buch von Ariel Denis, eines in Paris lebenden Professors für Kulturwissenschaften. Die Übersetzerin Regine Hermannsdörfer hatte es privat auf französisch gelesen und dann vorerst nur für sich übersetzt.

Allerdings muss sich der Verfasser des „Romanberichts“, wie Denis sein Buch nennt, doch auch den Vorwurf eines intoleranten Hochkulturverteidigers gefallen lassen. Wenn er nach gemeinsamen musikalischen Erlebnissen in der Oper oder einem Konzert mit seinem Schweizer Freund Markus Berger bei Austern und Champagner in der Brasserie „L´Orfeo“ sitzt – selbstverständlich ohne Hintergrundmusik – und die beiden fachsimpeln, klingt das mitunter etwas überheblich. Da steht die klassische Musik als Ausdruck des Absoluten gegen den Rest, die „Diskothekenmusik“, die Denis konsequent kursiv schreibt. Allzu einfach und allzu schnell werden die Menschen in Verstehende und Kulturbanausen eingeteilt. Und dass die zeitgenössische Musik nur deshalb atonal ist, damit sie nicht in die Musikkonserve zwecks Verwendung als Hintergrundmusik passt, muss erst bewiesen werden.

„Stille in Montparnasse“ ist kein langer Text, er liest sich aber dennoch nicht leicht. In seinem Zorn über die Flut von unzulänglicher Musik wurde Denis mit Thomas Bernhard verglichen. Das ist vielleicht ein wenig weit hergeholt, aber im Schreibduktus ist man dennoch an Bernhard erinnert. Für manche Sätze muss man mehrmals Anlauf nehmen, so verschachtelt und in sich gebrochen sind sie. Im ersten Kapitel, gleichsam der Introduktion zum durchaus musikalisch komponierten Werk, findet sich über Seiten kein Punkt. Ein Kapitel – ein Satz.

Und doch gelingt es Denis, auch wenn es sich streckenweise um einen musiktheoretischen Exkurs handelt und eine lineare Handlung fehlt, keine Langeweile aufkommen zu lassen: Immer wieder kommt er auf die Begegnungen des Erzählers mit dem älteren Markus Berger zurück, den er mit großer Hochachtung und Zuneigung beschreibt und dabei den Gleichklang zweier Seelen erkennen lässt. Zweier Seelen, die hoffnungslos allein sind im Meer der musikalischen Ignoranten und Konsumenten künstlerischen Fast-Foods.

Somit ist „Stille in Montparnasse“ vor allem auch ein Roman für Schöngeister, für jene Liebhaber eines fast schon altmodischen Musikgenusses, die sich nach der Lektüre nicht mehr unverstanden und einsam fühlen werden. Der Text wird zudem um eine Dimension bereichert, da ihm auch eine kleine CD mit drei von Hermann Prey interpretierten Liedern beiliegt: „Im Café de la Paix in Paris“, „Mit deinen blauen Augen“ und „O du, mein holder Abendstern“, drei Titel, die der Autor immer wieder im Buch als Ausdruck vollkommenen Genusses zitiert.

Rezensiert von Stefan May

Ariel Denis: Stille in Montparnasse
Übersetzt von Regine Herrmannsdörfer
Atrium Verlag, Zürich 2007
144 S., mit Musik-CD, 17,90 Euro