Zsófia Bán: "Der Sommer unsres Missvergnügens"
Aus dem Ungarischen von Terezia Mora.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019
256 Seiten, 22 Euro
Eine Diagnose für das kränkelnde Europa
06:05 Minuten
Die ungarische Publizistin Zsófia Bán widmet sich in ihrem jüngsten Essayband aktuellen Zeitfragen. Sie interessiert vor allem für die Frage, wie es mit Europa weitergehen könnte. Ein melancholisches, berührendes Werk, findet unsere Kritikerin.
"Der Sommer unsres Missvergnügens" heißt der Essayband der ungarischen Schriftstellering Zsófia Bán, in dem die Autorin einen Blick auf ihre eigene Geschichte und die Geschichte Europas wirft. Zsófia Bán, in Deutschland vor allem als Autorin literarischer Werke bekannt, erzählt in ihren Essays von Verlusten und Leerstellen, von ihrer Mutter, die das KZ überlebt hat, von Bildern, die lügen und der Vitalität des Widerstands. Übersetzt wurde dieses Buch – wie schon Báns Prosawerke – von der Schriftstellerin Terezia Mora, erschienen ist "Der Sommer unsres Missvergnügens" im Berliner Verlag Matthes und Seitz.
"Vor vielen Jahren erzählte mir ein befreundeter Kinderpsychologe, ihm sei eines Tages aufgefallen, dass sich fast alle seine Patienten im Teenageralter auf denselben Film, auf die Figuren und Darsteller dieses Films beriefen, wenn sie nach Vergleichen oder Bildern für ihre eigenen Träume, Sehnsüchte, ihre innere Welt oder ihr Selbstbild suchten. Und da er selbst den Film bis dahin noch nicht gesehen hatte, beschloss er, ihn sich anzuschauen, um seine jungen Patienten besser zu verstehen, ihnen näher zu kommen. Dieser Film war Star Wars."
Es sind Einstiege wie diese, hier zu dem Essay "Der Turulvogel und der Dinosaurier", die Zsófia Báns Essayband "Der Sommer unsres Missvergnügens" zu einem so besonderen, gleichsam unterhaltenden wie gewinnbringenden Leseerlebnis machen.
Identifikation durch Mythen
Die Referenzen und Bezüge, die sich in den zehn Essays dieses Buches finden, reichen von Shakespear und Keats über Nietzsche, Sebald, Péter Nádas und Orhan Pamuk bis eben zu Star Wars, Harry Potter und amerikanischen Werbeslogans. Dennoch handelt es sich bei "Sommer unsres Missvergnügens" mitnichten um einen Band über Kunst- oder Kulturkritik.
In dem Essay "Der Turulvogel und der Dinosaurier" beispielsweise nutzt die Autorin den Einstieg über die Beliebtheit von Hollywoodstoffen wie eben Star Wars oder auch Jurassic Park als Brücke, um uns den Mythos des ungarischen Turulvogels näher zu bringen, der der Sage nach der Urahn der ungarischen Könige ist. Inwieweit stärkt oder hindert die weite Verbreitung und Identifikation mit solchen Mythen ein Volk in seiner Entwicklung? Sollte man an Mythen eher festhalten, sie überdenken oder gar ganz über Bord werfen, um im Europa des 21. Jahrhunderts nicht den Anschluss zu verlieren?
Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren, in Brasilien und Ungarn aufgewachsen und heute als Schriftstellerin und Professorin für Anglistik in Budapest lebend, schafft es in diesem Buch, mit ihren Einstiegen und Referenzen eine Brücke zu schlagen: Eine Brücke, die über persönliche Erlebnisse oder Geschichten Einblicke in weitreichendere, gegenwärtige politische, vor allem europäische Kontexte schafft.
Melancholie und Empowerment
So resümiert sie beispielsweise am Ende des titelgebenden Essays "Der Sommer unsres Missvergnügens", in dem sie sich zunächst dem vom englischen Dichter John Keats geprägten Begriff der "negativen Befähigung" und dann mit dem von Orhan Pamuk eingeführten Begriff "Hüzün", einer Form der Melancholie, die nach Pamuk inhärent in das türkische Volk eingewoben ist, auseinander setzt:
"Auch wir könnten stolz unsere Ruinen annehmen, wir könnten zulassen, dass der Zerfall sich in das Gewebe unserer Stadt (unseres Landes) hineinfrisst und eins damit wird. (…) Oder wir könnten uns den nicht aufgearbeiteten, den nicht aufzuarbeitenden Verlusten hingeben, der von der unüberbrückbaren Wissenslücke verursachten Melancholie. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir richtiger handeln, wenn wir die Keats'sche negative Befähigung aufrufen, die uns in die Lage versetzt, oder zumindest versetzen könnte, 'in einem Zustand voller Unsicherheiten, Geheimnisse und Zweifel' dennoch funktionsfähig zu bleiben – trotz aller Widrigkeiten, oder sogar von ihnen inspiriert. Um auf der Basis der derzeit gegebenen Ruinenstruktur die geheimen Pfade des self-empowerment zu finden."
Stärke aus Verlusten ziehen
Wollte man diesen komplexen Band auf ein einziges Fazit herunter brechen, so müsste es wohl lauten: Wir Europäer sollten unsere Ruinen, unseren Mangel nicht wegschieben, sondern ihn annehmen, wir sollten Stärke aus Verlusten erlangen, Stärke, um uns nach vorn zu bewegen, und nicht in der ewigen Sehnsucht nach dem, was einmal war – oder vielleicht auch nicht – verharren.
Die Kritikerin Daniela Strigl nennt Zsófia Bán im Nachwort des Bandes eine Archäologin der Gegenwart, die sich eher auf Diagnose und Krankheitsgeschichte des kränkelnden Europas konzentriert, statt missionarisch und mit vermeintlichen Wunderheilmitteln daher zu kommen.
Es ist dieser tiefe, analytische Blick gepaart mit der Fähigkeit, zugleich nüchtern und trotzdem persönlich dem Leser zu zeigen, woran unsere Zeit, unser Europa krankt. An ebendiesen von ihr beschriebenen Leerstellen, den unüberbrückbaren Wissenslücken, dem Mangel, dem Verhältnis von Sichtbarkein und Unsichtbarkeit.
Wissensdurst in Bibliotheken stillen
Oder, um es mit der Autorin selbst zu sagen:
"Vielleicht ist es ja doch nicht so ganz sicher, dass man über das, worüber man nicht reden kann, schweigen sollte."
Nicht zuletzt ist es auch die feine, sprachlich ausgefeilte Übersetzung von Térezia Mora, die es schafft, nicht nur Zsófia Báns immenses Wissen und Analysevermögen, sondern auch den Humor und das sich durch sämtliche Texte ziehende Gefühl von Melancholie so zu übertragen, dass man als Leser kaum unberührt bleiben kann, dass man weiter lesen möchte, mehr wissen, mehr verstehen, dass man sich im Internet und in Bibliotheken verlieren möchte, um diese unüberbrückbaren Wissenslücken wenigstens ein bisschen zu füllen, wenigstens ein bisschen besser zu verstehen, womit wir es gerade zu tun haben, in einer Zeit, in der wir unsere Idee von Europa neu überdenken und definieren müssen, um ihr eine bestmögliche Zukunft zu sichern.