Zsófia Bán: "Weiter atmen"
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
176 Seiten, 22 Euro
Das aufgeschlitzte Gewebe des Nachmittags
05:12 Minuten
Zsófia Bán lässt in ihren Erzählungen Frösche und Menschen ebenso aufeinander prallen wie Zirkusartisten und Sülze. "Weiter atmen" handelt von Menschen, denen die Haut aufreißt oder das Herz bricht. Erst auf schmerzhafte Weise wird Nähe zu anderen möglich.
In Zsófia Báns Geschichten "Weiter atmen" steht alles Spitz auf Knopf. Gegensätze prallen so zusammen, dass sich blitzartig die Erkenntnis eines zuvor verborgenen Zusammenhangs einstellt und einem der Atem stockt. Flüchtlinge und Kinderlose fügt Bán zusammen, Zirkusartisten und Sülze, Ausländerhass und Rock’n-Roll-Seligkeit. Und Frösche und Menschen.
Die einen, heißt es in der ersten Erzählung "Hautatmung", leben im Wasser und an Land, die anderen in Vergangenheit und Gegenwart. Beide seien also Amphibien, deren Atmungsorgan Haut nicht mit Fett eingerieben werden sollte, weil sie sonst ersticken.
Zugleich aber trennt die Haut ebenso wie der Vorhang zwischen den Zeiten von dem, was zu Anfang da war, und daher, so Bán, brauche es Werkzeuge, um wieder an den Punkt zu gelangen, "wo die Zeit, die Erinnerung, die Haut, die Wunde aufreißt und das Herz bricht". In "Weiter atmen" geht es zuweilen nicht unblutig zu.
Ein Stück Seife, um die Hände darin zu vergraben
In "Die Voyager-Goldplatte" reist ein reifer Ungar sehnsüchtig zur Jugendgeliebten nach Rio. Die Brasilianerin ist fremd geworden, doch ihre geistig behinderte Schwester ermöglicht den Sprung über drei Jahrzehnte hinweg, als sie den Namen des damals geliebten Hundes und zwei ungarische Wörter ausspricht, mit denen sich die drei einst vergnügten. Im Nu ist das "Gewebe des Nachmittags aufgeschlitzt", und heraus quillt das emotionale Unterfutter der verlorenen Zeit: die miteinander verflochtenen Gefühle von Liebe und Zuneigung, Eros und Zärtlichkeit.
Dieses Simultanitäts-Glück wird anderen beschränkten Menschen nicht zuteil: Das geistig behinderte Kind aus einer Roma-Familie braucht jeden Tag unbedingt ein neues Stück Seife, um darin seine Finger vergraben zu können. Die Hure freut sich über ihre erfolgreich vergrößerte Brust vor zwei an Brustkrebs erkrankten Frauen, eine Kleinbürgerin blendet mit einem gewaltigen Aquarium die Außenwelt aus.
Sie alle suchen das, heißt es einmal, "Es-war-so-und-so-Märchen, immer gleich, immer unbeirrbar, mit dem immer gleichen kühlen Ende". Alle anderen müssen mit dem Unvorhergesehenen zurechtkommen, das "die Haut (…) aufreißt", "das Herz bricht" – und die Nähe zu anderen erlaubt.
Emotionale und rationale Intimität
Zwei, drei Erzählungen fallen schwächer aus, weil die Autorin ihren Unwillen über Ungarn unter Victor Orbán nicht verschweigen mochte. Der Zorn über Gewalt gegen Ausländer, Juden, Bettler, Roma und Sinti, die Wut über Lauheit gegenüber einem Hetzer lassen die irritierende Einheit von Glück und Schrecken zurücktreten.
Mit widersprüchlichen Erfahrungen ist die 1957 in Rio geborene Zsófia Bán vermutlich nicht nur als Professorin für Anglistik in Budapest und als angesehene Kunst- und Literaturkritikerin vertraut, auch als Mensch, der in Brasilien und Ungarn aufwuchs und einige Jahre in den USA lebte.
Ihre intellektuelle Lust an der erzählerischen Konstruktion – sichtbar an der Unmittelbarkeit des Beginns, der Schärfe der Zuspitzungen, den häufigen, die Handlung verlangsamenden Reflektionen, der Montage von zwei Erzählebenen – kommt mit existenzieller Dringlichkeit daher. Bán schenkt emotionale wie rationale Intimität, und Terézia Mora hat beides in ein kraftvoll federndes Deutsch übertragen.