Zu allem bereit
Im Mittelpunkt des packenden Thrillers von Tom Rob Smith steht der regimetreue Offizier Leo Demidow. Ihm werden in der Sowjetunion der 50er Jahre die Ermittlungen in einem vermeintlichen Unfall übertragen. Doch im Laufe der Recherchen wachsen seine Zweifel an der offiziellen Todesversion und am System der UdSSR.
Moskau im Winter des Jahres 1953. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Unfall: Ein kleiner Junge spielt an den Bahngleisen, wird von einem Zug erfasst und erliegt seinen Verletzungen. So lautet zumindest die offizielle Version. Die Eltern jedoch glauben, dass ihr Kind das Opfer eines kaltblütigen Mörders geworden ist.
Der Staatssicherheitsdienst schaltet sich ein, und MGB-Offizier Leo Demidow wird abkommandiert, um die Gerüchte mit gezielten Drohungen aus der Welt zu schaffen. Nach seinem Besuch bei den trauernden Eltern und der Befragung einer Zeugin zweifelt auch Demidow für einen kurzen Moment an der Geschichte von dem tragischen Unfall. Zu einer Untersuchung kommt es trotzdem nicht: "Es gibt keine Kriminalität", diese Einsicht gehört zu den Grundfesten der neuen, sozialistischen Gesellschaft.
Tom Rob Smith hat seinen historischen Kriminalroman "Kind 44" in einer ungewöhnlichen Kulisse angesiedelt: in der Sowjetunion der frühen fünfziger Jahre. Der junge britische Autor hat umfangreiche Recherchen geführt - und die kluge Entscheidung getroffen, das menschenverachtende System des Stalinismus aus der Täterperspektive heraus zu beschreiben. Im Mittelpunkt des Thrillers steht der loyale Tschekist Leo Demidow, der seinem Regime trotz des offensichtlich vertuschten Mordes zunächst die Treue hält.
Demidow ist das Gegenteil eines positiven Helden: Getreu dem Motto der sowjetischen Geheimpolizei, dass ein "Agent sein Herz zur Grausamkeit erziehen muss", foltert er Gefangene in den Kellerverliesen des MGB-Hauptquartiers in der Lubjanka, er treibt vermeintliche Staatsfeinde in den Selbstmord und würde sogar seine eigene Frau in den Gulag schicken. "Sein Land hätte alles von ihm verlangen können", heißt es an einer Stelle in diesem ausgesprochen brutalen Thriller: "Er wäre zu allem bereit gewesen".
Erst als Demidow durch eine Intrige in seiner Behörde auf einen Polizeiposten in der Provinz abgeschoben wird und dort mit einem weiteren "tödlichen Unfall" zu tun hat, wendet sich das Blatt. Demidow beginnt auf eigene Faust mit den Ermittlungen und nimmt die blutige Fährte eines Serienmörders auf. Tom Rob Smith bezieht sich dabei auf einen realen Fall, der allerdings zeitlich sehr viel später angesiedelt ist. Der Lehrer Andrej Romanowitsch Tschikatilo hatte in den siebziger und achtziger Jahren mehr als fünfzig Menschen umgebracht, bis er schließlich nach dilettantischen Ermittlungen verhaftet und 1994 zum Tode verurteilt wurde.
Im Roman endet die Jagd nach dem Killer dagegen in einem hochsymbolischen Showdown: Demidow, der im Auftrag Stalins zahllose Menschen in den Tod getrieben hat, trifft auf einen psychisch gestörten Massenmörder. Die Frage, wer die größere Schuld auf sich geladen hat, bleibt offen. Das beste Ende für einen Krimi.
Rezensiert von Kolja Mensing
Tom Rob Smith: Kind 44
Aus dem Englischen von Armin Gontermann
DuMont, Köln 2008
507 Seiten, 19,90 Euro
Der Staatssicherheitsdienst schaltet sich ein, und MGB-Offizier Leo Demidow wird abkommandiert, um die Gerüchte mit gezielten Drohungen aus der Welt zu schaffen. Nach seinem Besuch bei den trauernden Eltern und der Befragung einer Zeugin zweifelt auch Demidow für einen kurzen Moment an der Geschichte von dem tragischen Unfall. Zu einer Untersuchung kommt es trotzdem nicht: "Es gibt keine Kriminalität", diese Einsicht gehört zu den Grundfesten der neuen, sozialistischen Gesellschaft.
Tom Rob Smith hat seinen historischen Kriminalroman "Kind 44" in einer ungewöhnlichen Kulisse angesiedelt: in der Sowjetunion der frühen fünfziger Jahre. Der junge britische Autor hat umfangreiche Recherchen geführt - und die kluge Entscheidung getroffen, das menschenverachtende System des Stalinismus aus der Täterperspektive heraus zu beschreiben. Im Mittelpunkt des Thrillers steht der loyale Tschekist Leo Demidow, der seinem Regime trotz des offensichtlich vertuschten Mordes zunächst die Treue hält.
Demidow ist das Gegenteil eines positiven Helden: Getreu dem Motto der sowjetischen Geheimpolizei, dass ein "Agent sein Herz zur Grausamkeit erziehen muss", foltert er Gefangene in den Kellerverliesen des MGB-Hauptquartiers in der Lubjanka, er treibt vermeintliche Staatsfeinde in den Selbstmord und würde sogar seine eigene Frau in den Gulag schicken. "Sein Land hätte alles von ihm verlangen können", heißt es an einer Stelle in diesem ausgesprochen brutalen Thriller: "Er wäre zu allem bereit gewesen".
Erst als Demidow durch eine Intrige in seiner Behörde auf einen Polizeiposten in der Provinz abgeschoben wird und dort mit einem weiteren "tödlichen Unfall" zu tun hat, wendet sich das Blatt. Demidow beginnt auf eigene Faust mit den Ermittlungen und nimmt die blutige Fährte eines Serienmörders auf. Tom Rob Smith bezieht sich dabei auf einen realen Fall, der allerdings zeitlich sehr viel später angesiedelt ist. Der Lehrer Andrej Romanowitsch Tschikatilo hatte in den siebziger und achtziger Jahren mehr als fünfzig Menschen umgebracht, bis er schließlich nach dilettantischen Ermittlungen verhaftet und 1994 zum Tode verurteilt wurde.
Im Roman endet die Jagd nach dem Killer dagegen in einem hochsymbolischen Showdown: Demidow, der im Auftrag Stalins zahllose Menschen in den Tod getrieben hat, trifft auf einen psychisch gestörten Massenmörder. Die Frage, wer die größere Schuld auf sich geladen hat, bleibt offen. Das beste Ende für einen Krimi.
Rezensiert von Kolja Mensing
Tom Rob Smith: Kind 44
Aus dem Englischen von Armin Gontermann
DuMont, Köln 2008
507 Seiten, 19,90 Euro