Zu den Wurzeln des Zarenreichs

Um den Zustand Russlands heute zu verstehen, sollte man sich auch die Geschichte des Landes vergegenwärtigen. Kaum jemand kann das besser als der Göttinger Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier. In seinem neuesten Buch blickt er bis ins Mittelalter zurück.
Das Markenzeichen des 65 Jahre alten Historikers ist seine Fähigkeit, russische Geschichte auch dem fachlich nicht gebildeten Leser in einer präzisen, plastischen und verständlichen Sprache darzulegen: Manfed Hildermeier berücksichtigt dabei immer wieder auch Ergebnisse der neuesten westlichen Russlandforschung. Dann stellt er sie sowjetischen Deutungen gegenüber und erklärt auf diese Weise die ideologisch begründeten Widersprüche zwischen beiden Lesarten.
Ein Beispiel dafür ist etwa die Frage, ob die Bauern von der Aufhebung der Leibeigenschaft unter Zar Alexander II. 1861 profitierten, was sowjetische Historiker in Zweifel zogen. Sie argumentierten,
"dass es die Befreiungsregularien versäumt hatten, eine solide Grundlage für die Entstehung eines wirtschaftlich kräftigen Bauerntums zu schaffen. Der Agrarsektor sei Not leidend geworden, habe den demographischen Druck nicht auffangen können und ein Protestpotenzial erzeugt, das entscheidend zum Sturz der Monarchie beigetragen habe. Inzwischen ist diese Verelendungstheorie an vielen Stellen durchlöchert worden. Eine direkte Kausallinie zu den Aufständen von 1905 und 1917 lässt sich nicht ziehen. Viele andere Faktoren kamen hinzu."
Ein Beispiel dafür ist etwa die Frage, ob die Bauern von der Aufhebung der Leibeigenschaft unter Zar Alexander II. 1861 profitierten, was sowjetische Historiker in Zweifel zogen. Sie argumentierten,
"dass es die Befreiungsregularien versäumt hatten, eine solide Grundlage für die Entstehung eines wirtschaftlich kräftigen Bauerntums zu schaffen. Der Agrarsektor sei Not leidend geworden, habe den demographischen Druck nicht auffangen können und ein Protestpotenzial erzeugt, das entscheidend zum Sturz der Monarchie beigetragen habe. Inzwischen ist diese Verelendungstheorie an vielen Stellen durchlöchert worden. Eine direkte Kausallinie zu den Aufständen von 1905 und 1917 lässt sich nicht ziehen. Viele andere Faktoren kamen hinzu."
Russische Geschichte durch Autokratie geprägt
Für Hildermeier liegen die wichtigsten Elemente der russischen Geschichte im politischen System der Autokratie begründet. Dazu gehören die Zarenherrschaft, die Leibeigenschaft, die dominierende Agrarwirtschaft, der Vorrang des Adels vor der Stadtbevölkerung, die Verflochtenheit von weltlichem Herrscher und russisch-orthodoxer Kirche.
Der rote Faden, der sein Werk durchzieht, ist das Verhältnis Russlands zu Europa. Dem 18. Jahrhundert, das geprägt war von der Herrschaft Peters des Großen und Katharinas der Großen, widmet er beinahe 300 Seiten. Und das hat seinen Grund: Russland sei im 18. Jahrhundert, also unter Zar Peter dem Großen, in ein europäisches Zeitalter eingetreten.
"Der Aufbau einer Beamtenschaft, die Grundlegung von Eisenhütten und anderen Manufakturen, der Umbau der Sozialordnung, die Schaffung einer säkularen Wissenschaft, die radikale Abkehr von der altrussischen Kultur, einschließlich der Kleidung, des Geschmacks und des Lebensstils: Alle diese Neuerungen haben die Physiognomie des St. Petersburger Kaiserreiches bis an sein Ende in der Revolution von 1917 in charakteristischer Weise geprägt. Der Zar und seine Mitstreiter sowie die Mehrheit seiner Nachfolger und deren Helfer, haben die Annäherung an Westeuropa, die sie anstrebten, als Fortschritt verstanden. Sie betrachteten den Weg nach Europa als den Weg in die Moderne."
Wie Peter hat dann auch Katharina II., eine deutsche Prinzessin, Russland technisch-ökonomisch, administrativ-institutionell und geistig-kulturell für westliche Einflüsse geöffnet und das Riesenreich außenpolitisch und militärisch mit Europa verflochten.
Katharinas Ausspruch: "Russland ist eine europäische Macht", stellt denn auch Manfred Hildermeier als Motto seinem Werk voran. Andrerseits hat die riesige geografische Ausdehnung dem Land eine Zweiseitigkeit und eine Brückenfunktion zwischen Europa und Asien gegeben.
"Russland liegt am Rande Europas und wurde mit der Zeit zunehmend in das Beziehungsgeflecht der europäischen Staaten und in die europäische Kultur einbezogen. Die Aufklärung hat es nur oberflächlich berührt, aber die 'klassische Moderne' zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand in St. Petersburg genauso eine Heimstatt wie in Paris, Berlin und München. Zugleich war es aufgrund seiner Ausdehnung nie n u r ein europäischer Staat. Russland focht an zwei Fronten. Auch wenn sein 'Drang nach Osten' geringere kulturelle Rückwirkungen hatte als die Westintegration, blieb die grundsätzliche Doppelgesichtigkeit erhalten. Russland hatte Anteil an beiden Welten und war eben deshalb und aufgrund seiner schieren Größe zugleich eine Welt für sich."
Der rote Faden, der sein Werk durchzieht, ist das Verhältnis Russlands zu Europa. Dem 18. Jahrhundert, das geprägt war von der Herrschaft Peters des Großen und Katharinas der Großen, widmet er beinahe 300 Seiten. Und das hat seinen Grund: Russland sei im 18. Jahrhundert, also unter Zar Peter dem Großen, in ein europäisches Zeitalter eingetreten.
"Der Aufbau einer Beamtenschaft, die Grundlegung von Eisenhütten und anderen Manufakturen, der Umbau der Sozialordnung, die Schaffung einer säkularen Wissenschaft, die radikale Abkehr von der altrussischen Kultur, einschließlich der Kleidung, des Geschmacks und des Lebensstils: Alle diese Neuerungen haben die Physiognomie des St. Petersburger Kaiserreiches bis an sein Ende in der Revolution von 1917 in charakteristischer Weise geprägt. Der Zar und seine Mitstreiter sowie die Mehrheit seiner Nachfolger und deren Helfer, haben die Annäherung an Westeuropa, die sie anstrebten, als Fortschritt verstanden. Sie betrachteten den Weg nach Europa als den Weg in die Moderne."
Wie Peter hat dann auch Katharina II., eine deutsche Prinzessin, Russland technisch-ökonomisch, administrativ-institutionell und geistig-kulturell für westliche Einflüsse geöffnet und das Riesenreich außenpolitisch und militärisch mit Europa verflochten.
Katharinas Ausspruch: "Russland ist eine europäische Macht", stellt denn auch Manfred Hildermeier als Motto seinem Werk voran. Andrerseits hat die riesige geografische Ausdehnung dem Land eine Zweiseitigkeit und eine Brückenfunktion zwischen Europa und Asien gegeben.
"Russland liegt am Rande Europas und wurde mit der Zeit zunehmend in das Beziehungsgeflecht der europäischen Staaten und in die europäische Kultur einbezogen. Die Aufklärung hat es nur oberflächlich berührt, aber die 'klassische Moderne' zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand in St. Petersburg genauso eine Heimstatt wie in Paris, Berlin und München. Zugleich war es aufgrund seiner Ausdehnung nie n u r ein europäischer Staat. Russland focht an zwei Fronten. Auch wenn sein 'Drang nach Osten' geringere kulturelle Rückwirkungen hatte als die Westintegration, blieb die grundsätzliche Doppelgesichtigkeit erhalten. Russland hatte Anteil an beiden Welten und war eben deshalb und aufgrund seiner schieren Größe zugleich eine Welt für sich."

Cover: "Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution"© C.H. Beck Verlag
Rückständigkeit Russlands gegenüber Westeuropa
Daraus leitet der Göttinger Historiker sein Schlüsselkonzept einer gewissen Rückständigkeit Russlands gegenüber Westeuropa ab. Lenin habe die bekannte Formel geprägt vom halbasiatischen Charakter des Zarenreiches, vom Westen ausgebeutet und zugleich den Osten ausbeutend.
"Liberale aller Couleur zogen ein Konzept vor, das sich weitgehend durchgesetzt hat und bis in die jüngste Zeit unangefochten bleibt: Sie sprachen schlicht von Rückständigkeit. (...) Der Begriff war unspezifisch und meinte im Grunde die gesamte materielle Zivilisation (für viele auch die politische Verfassung) einschließlich der kleinen Industrie. Vor allem aber hatte er die Landwirtschaft im Visier. Sie erschien als größtes Hemmnis der Modernisierung. (...) Russland blieb in dieser Sicht nicht bloß ein Agrarland, sondern ein solches, in dem der Ackerbau nicht reüssierte und weder die eigenen Arbeitskräfte ausreichend ernähren, noch gar Industrialisierung und Urbanisierung im nötigen Maße unterstützen konnte."
Manfred Hildermeiers Leistung ist eine gigantische. Das zeigt allein schon das Verzeichnis der von ihm zitierten Literatur: Es umfasst 58 klein bedruckte Seiten, ergänzt von einem akribischen Orts- und Personenverzeichnis. Das alles gibt dem Leser wertvolle und notwendige Orientierungshilfen, die er benötigt, um sich in den komplizierten Details zurechtzufinden.
Wer dieses Geschichtsbuch über Russland nicht nur als Nachschlagewerk versteht, sondern sich die Mühe macht, es gründlich zu lesen, dem fällt auf, wie wenig sich die Mentalität der Herrscher in Russland über Jahrhunderte hinweg bis zur Gegenwart geändert hat: ihre Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Westen, gepaart mit der arroganten Rechtfertigung eines russischen Sonderwegs - in allen Fragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
"Liberale aller Couleur zogen ein Konzept vor, das sich weitgehend durchgesetzt hat und bis in die jüngste Zeit unangefochten bleibt: Sie sprachen schlicht von Rückständigkeit. (...) Der Begriff war unspezifisch und meinte im Grunde die gesamte materielle Zivilisation (für viele auch die politische Verfassung) einschließlich der kleinen Industrie. Vor allem aber hatte er die Landwirtschaft im Visier. Sie erschien als größtes Hemmnis der Modernisierung. (...) Russland blieb in dieser Sicht nicht bloß ein Agrarland, sondern ein solches, in dem der Ackerbau nicht reüssierte und weder die eigenen Arbeitskräfte ausreichend ernähren, noch gar Industrialisierung und Urbanisierung im nötigen Maße unterstützen konnte."
Manfred Hildermeiers Leistung ist eine gigantische. Das zeigt allein schon das Verzeichnis der von ihm zitierten Literatur: Es umfasst 58 klein bedruckte Seiten, ergänzt von einem akribischen Orts- und Personenverzeichnis. Das alles gibt dem Leser wertvolle und notwendige Orientierungshilfen, die er benötigt, um sich in den komplizierten Details zurechtzufinden.
Wer dieses Geschichtsbuch über Russland nicht nur als Nachschlagewerk versteht, sondern sich die Mühe macht, es gründlich zu lesen, dem fällt auf, wie wenig sich die Mentalität der Herrscher in Russland über Jahrhunderte hinweg bis zur Gegenwart geändert hat: ihre Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Westen, gepaart mit der arroganten Rechtfertigung eines russischen Sonderwegs - in allen Fragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands - Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution.
C.H. Beck Verlag, München 2013
1.504 Seiten, 49,95 Euro
C.H. Beck Verlag, München 2013
1.504 Seiten, 49,95 Euro