Zu milde Aufarbeitung
Mit dem Band "Der Flick-Konzern" liegt eine Unternehmensstudie vor, die sich rühmt, erstmals Licht in das Informations- und Kommunikationssystem des Flick-Konzerns zu bringen. Tatsächlich reserviert sie aber dem Unternehmer Friedrich Flick einen Ehrenplatz im nationalen Geschichtsbuch. Ihn einen skrupellosen Profiteur des NS-Unrechtsstaates zu nennen, verbieten sich die Autoren.
Der Name Flick hat mythischen Rang, aber keinen wirklich guten Klang in der deutschen Öffentlichkeit. Mit ihm verbindet sich eine bizarre Unternehmens- und Unternehmergeschichte, die eng mit den Wechselfällen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft ist. Der Name steht für dreimaligen Aufstieg und Niedergang eines Großindustriellen, für zahlreiche Skandale, für privaten Reichtum, für strategisch und skrupellos genutzte Wirtschafts- und Deutungsmacht.
Nach rasantem Aufstieg in der Weimarer Republik stand Flick in der Weltwirtschaftskrise vor dem Ende, rettete sich mit dem Verkauf größerer Teile seiner Unternehmen, stieg im Dritten Reich abermals zu einem der größten und reichsten Montanindustriellen in Deutschland auf, wurde in Nürnberg von den Amerikanern angeklagt, verurteilt, vorzeitig aus der Haft entlassen und baute im westdeutschen Wirtschaftswunderland zum dritten Mal ein wirtschaftliches Imperium auf. Eine Erfolgsgeschichte ohne Parallele. Eine Familiengeschichte nach der Art eines Hollywood-Melodrams.
In den sechziger Jahren macht der Senior Friedrich Flick (1883-1972) den jüngeren Sohn Friedrich Karl (1927-2006) zu seinem Nachfolger. Der ältere Bruder Otto Ernst, bereits seit der Vorkriegszeit in leitender Stellung im Familienunternehmen, scheidet nach einem erfolglosen Prozess gegen den Vater aus.
Nach dessen Tod steht Friedrich Karl an der Spitze des damals mit rund 18 Milliarden DM Umsatz, über 300 Firmen und 300.000 Beschäftigten größten deutschen Unternehmens. Dreizehn Jahre später gibt es den Konzern nicht mehr. Hat ihn der Sohn an die Deutsche Bank verkauft und die Flick-Gruppe in Einzelfirmen aufgelöst.
Seinen schlechten Klang ist der Name dadurch nicht losgeworden. Im Gegenteil. In den 1980er Jahren hat sich Friedrich Karl Flick durch Partei- und Politiker-Spenden zum Zweck der Steuerhinterziehung in eine langjährige Affäre verwickelt. Sie sorgt für unrühmliche Schlagzeilen, bringt führende Politiker zu Fall und ihn selbst schließlich zur Aufgabe des Familienunternehmens.
Ins Zwielicht gerät der Name Flick zuletzt, als die Familie Flick es ablehnt, sich 2001 an der Stiftung für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter zu beteiligen. Wenig später muss sich der Enkel des Firmengründers, Friedrich Christian, der in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin seine Kunstsammlung (Flick-Collection) ausstellt, von einer verständnislosen Öffentlichkeit fragen lassen, ob diese Kunstwerke denn nicht mit dem Blutgeld des Großvaters zusammengekauft seien.
Nun liegt die erste, natürlich monumentale, dem Mega-Konzern schon äußerlich entsprechende Geschichte des Unternehmens vor. Das Forschungsprojekt ist ausgerechnet von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz initiiert - und, wie es in den Vorworten heißt, durch "eine großzügige finanzielle Ausstattung" ermöglicht worden. Dass es sich um rund eine halbe Million Euro aus dem Vermögen des Flick-Enkels handelt, erfährt der Leser dort nicht. Das macht misstrauisch.
Eine Unternehmensstudie, die sich rühmt, erstmals Licht in das Informations- und Kommunikationssystem des Flick-Konzerns als strategisches Instrument zu bringen und dessen fragwürdige Deutungsmacht zum Gegenstand der Analyse zu machen, gerät selbst ins Zwielicht. Man hätte sich mehr Unabhängigkeit und Souveränität der Verantwortlichen gewünscht und mehr Transparenz der unmittelbaren Vorgeschichte des Projektes, den Geldgeber und seine Motive eingeschlossen.
Erklärt dieser Umstand, dass die materialreiche, akribische, hochdifferenzierte und methodisch ambitionierte Darstellung zwar die Gründung, die Organisations-, Expansions-, Führungs- und politische Kooperationsgeschichte des Unternehmers Friedrich Flick minutiös abhandelt, die Anklage und Verurteilung durch das Nürnberger Militärtribunal natürlich nicht übergeht, aber die Selbststilisierung der Unternehmensleitung nach 1945 zum Opfer des Krieges und der "Siegerjustiz" kritiklos als Ausfluss situationsangemessener Deutungsmacht bewertet und das in unsere Gegenwart reichende, unrühmliche Ende des Kapital- und Konzern-Giganten diskret auslässt?
Das Buch nähert sich zum Ende einer Festschrift, reserviert dem Unternehmer einen Ehrenplatz im nationalen Geschichtsbuch. Ihn einen skrupellosen Profiteur der NS-Unrechtsstaates, des Weltkrieges und seiner Gewaltverbrechen zu nennen, verbieten sich die Autoren der imponierenden, in der problemgeschichtlichen Einordnung und Bewertung aber doch diskussionsbedürftigen Studie.
Als müsse ihm, der sich am Unrecht, am Leid und Elend anderer in großem Stil bereichert hat, im Lebensabend verdiente (!) Ehrung und Dankbarkeit entgegengebracht werden, betonen die Autoren, Flick habe schließlich "doch noch" das "so sehr gewünschte Bundesverdienstkreuz" erhalten - zur "Krönung seines Lebenswerkes". Heuss hatte es ihm zunächst nicht verleihen wollen. Und hatte Gründe dafür.
Ab dem 15.März 1947 muss sich Flick mit mehreren leitenden Angestellten seiner Unternehmensgruppe vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Die Ermittlung der ihnen zur Last gelegten Straftaten in der Zeit des Nationalsozialismus macht das Gericht zugleich zu einem riesigen Forschungsinstitut - lange bevor sich die Geschichtswissenschaft dafür interessiert.
Die Autoren erkennen und würdigen das durchaus. Aber sie bringen das Militärtribunal, das erste Weltgericht der Geschichte, doch ins Zwielicht, wenn sie immer wieder betonen, dass die "neu etablierten völkerrechtlichen Normen" ihre "Durchsetzungsfähigkeit" in den Verfahren erst noch beweisen mussten.
Gewiss, sie sind klug genug, nicht von "Siegerjustiz" zu sprechen, wie das damals nicht nur für die Angeklagten und ihre Verteidiger offenbar selbstverständlich war, sondern auch für renommierte Strafrechtler und Historiker der besiegten Deutschen. Aber zwischen den Zeilen scheint doch der Vorwurf auf, das IMT hätten gegen das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege) verstoßen und damit gegen einen rechtsstaatlichen Grundsatz.
So überrascht es nicht, dass die Autoren mit viel Sympathie und Verständnis schildern, mit welchem Geschick Flick und seine mitangeklagten leitenden Angestellten ihre Deutungsmacht benutzten. Eine Mitschuld bestritten sie, Verantwortung externalisierten sie und sich selbst stellten sie als Opfer dar. Was dem Zeitgeist entsprach, den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Verwandlungspolitik der frühen Nachkriegsjahre. Zahlreiche Schicksalsgruppen, Ausgebombte, Kriegsgefangene und -versehrte, Flüchtlinge, Vertriebene usw. flüchteten in die insoweit vorteilhafte Opferrolle, die nicht zuletzt Schutz versprach vor Nachforschungen und Sanktionen.
Umso wichtiger wäre es gewesen, dass die Autoren ihre ganz auf Flick, seine Mitarbeiter, Unternehmen und Beteiligungen fokussierte Geschichte am Schluss perspektivisch geöffnet hätten. Mit einem Ausblick weit in die Bundesrepublik. Vor allem aber hin zu einer kollektiven Biografie jener Gruppe der Manager und Eigentümerunternehmer, die man mit Tim Schanetzky die "Profiteure des Unrechts" nennen kann.
Nicht nur Flick, viele von ihnen mussten sich in Nürnberg verantworten und hatten sich zuvor in Konkurrenz und Zusammenarbeit durch exorbitante Gewinne bereichert: an der Rüstungsproduktion, durch Enteignung jüdischer Unternehmer, durch Ausbeutung und Versklavung zwangsverpflichteter Arbeiter aus den besetzten europäischen Ländern.
Die Autoren deuten zumindest an, dass sie diesen Anschluss auch gesehen haben. Es hat ja seinen Grund, dass nicht nur die Sauckel und Speer, Schacht und Funk auf den Listen der Amerikaner standen, sondern eben auch Krupp, Röchling, Flick, die Manager der IG Farben, der Reichswerke "Hermann Göring" usw.
Warum fällt nur ein Seitenblick auf Hitlers rüstungswirtschaftliche Eliten? Warum begnügen sich die Autoren mit einem milden Ausblick auf die dritte Erfolgsgeschichte Flicks im Aufbau der Bundesrepublik? Gewiss, Flick war eine singuläre Erscheinung, aber doch ein Akteur, der seine Wirtschafts- und Deutungsmacht im Rahmen einer Funktionselite erworben, ausgespielt und seine unternehmerische Karriere über alle Systemwechsel hinweg erfolgreich verfolgt hat. In Kooperation und Konkurrenz mit den Spitzen seiner Klasse der Eigentümer und Manager von industrieller Wirtschaftsmacht.
Flicks Aufstieg und sein Versagen werden verständlich wohl erst, wenn man ihn als Repräsentanten dieser Funktionselite sieht und die politisch-systemischen Brüche ebenso wie die gesellschaftlichen Kontinuitäten zwischen Reich und Republik einbezieht.
Flick ist 1948 in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, wird aber bereits im August 1950 aus dem Landsberger Gefängnis entlassen. Das kommt einer moralischen Rehabilitierung gleich, von der auch andere "Kriegsverurteilte" - wie es im beschönigenden Nachkriegsdeutsch heißt - profitieren. Und dann folgt schon der Schlusssatz zu Nürnberg und zu dem, was nach Nürnberg kommt und was wir kennen, die Erfolgsstory der Bundesrepublik, an der Flick wieder kräftig mitverdient:
"Während Flick und den meisten seiner Spitzenmanager das Tor zur Rückkehr in die gesellschaftliche Elite letztlich offen stand, sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis das Leid der Zwangsarbeiter öffentlich wahrgenommen und entschädigt wurde."
Als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen den Sachverhalten beider Sätze. Warum haben die Autoren nicht hier, nicht ein einziges Mal, nicht am Ende ihres wichtigen, verdienstvollen und ungeheuer fleißigen Werkes die moralische Kraft, die Begrenzung ihrer positivistischen Geschichtsdarstellung aufzuheben und den Großindustriellen am Maß des menschlichen Anstands zu messen, und zu erklären: Flick hätte es in der Hand gehabt, den Arbeitern, an denen er sich während des Krieges bereichert hatte, eine Entschädigung anzubieten, in einer symbolischen Geste das begangene Unrecht einzugestehen. Es hätte ihn wenig gekostet, aber vielleicht doch genützt, seinen blutverschmierten Namen von einer Schande zu befreien.
Rezensiert von Peter Reichel
Johannes Bähr u. a.: "Der Flick-Konzern im Dritten Reich"
Oldenbourg Verlag, München, 2008
1018 Seiten, 64,80 Euro
Nach rasantem Aufstieg in der Weimarer Republik stand Flick in der Weltwirtschaftskrise vor dem Ende, rettete sich mit dem Verkauf größerer Teile seiner Unternehmen, stieg im Dritten Reich abermals zu einem der größten und reichsten Montanindustriellen in Deutschland auf, wurde in Nürnberg von den Amerikanern angeklagt, verurteilt, vorzeitig aus der Haft entlassen und baute im westdeutschen Wirtschaftswunderland zum dritten Mal ein wirtschaftliches Imperium auf. Eine Erfolgsgeschichte ohne Parallele. Eine Familiengeschichte nach der Art eines Hollywood-Melodrams.
In den sechziger Jahren macht der Senior Friedrich Flick (1883-1972) den jüngeren Sohn Friedrich Karl (1927-2006) zu seinem Nachfolger. Der ältere Bruder Otto Ernst, bereits seit der Vorkriegszeit in leitender Stellung im Familienunternehmen, scheidet nach einem erfolglosen Prozess gegen den Vater aus.
Nach dessen Tod steht Friedrich Karl an der Spitze des damals mit rund 18 Milliarden DM Umsatz, über 300 Firmen und 300.000 Beschäftigten größten deutschen Unternehmens. Dreizehn Jahre später gibt es den Konzern nicht mehr. Hat ihn der Sohn an die Deutsche Bank verkauft und die Flick-Gruppe in Einzelfirmen aufgelöst.
Seinen schlechten Klang ist der Name dadurch nicht losgeworden. Im Gegenteil. In den 1980er Jahren hat sich Friedrich Karl Flick durch Partei- und Politiker-Spenden zum Zweck der Steuerhinterziehung in eine langjährige Affäre verwickelt. Sie sorgt für unrühmliche Schlagzeilen, bringt führende Politiker zu Fall und ihn selbst schließlich zur Aufgabe des Familienunternehmens.
Ins Zwielicht gerät der Name Flick zuletzt, als die Familie Flick es ablehnt, sich 2001 an der Stiftung für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter zu beteiligen. Wenig später muss sich der Enkel des Firmengründers, Friedrich Christian, der in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin seine Kunstsammlung (Flick-Collection) ausstellt, von einer verständnislosen Öffentlichkeit fragen lassen, ob diese Kunstwerke denn nicht mit dem Blutgeld des Großvaters zusammengekauft seien.
Nun liegt die erste, natürlich monumentale, dem Mega-Konzern schon äußerlich entsprechende Geschichte des Unternehmens vor. Das Forschungsprojekt ist ausgerechnet von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz initiiert - und, wie es in den Vorworten heißt, durch "eine großzügige finanzielle Ausstattung" ermöglicht worden. Dass es sich um rund eine halbe Million Euro aus dem Vermögen des Flick-Enkels handelt, erfährt der Leser dort nicht. Das macht misstrauisch.
Eine Unternehmensstudie, die sich rühmt, erstmals Licht in das Informations- und Kommunikationssystem des Flick-Konzerns als strategisches Instrument zu bringen und dessen fragwürdige Deutungsmacht zum Gegenstand der Analyse zu machen, gerät selbst ins Zwielicht. Man hätte sich mehr Unabhängigkeit und Souveränität der Verantwortlichen gewünscht und mehr Transparenz der unmittelbaren Vorgeschichte des Projektes, den Geldgeber und seine Motive eingeschlossen.
Erklärt dieser Umstand, dass die materialreiche, akribische, hochdifferenzierte und methodisch ambitionierte Darstellung zwar die Gründung, die Organisations-, Expansions-, Führungs- und politische Kooperationsgeschichte des Unternehmers Friedrich Flick minutiös abhandelt, die Anklage und Verurteilung durch das Nürnberger Militärtribunal natürlich nicht übergeht, aber die Selbststilisierung der Unternehmensleitung nach 1945 zum Opfer des Krieges und der "Siegerjustiz" kritiklos als Ausfluss situationsangemessener Deutungsmacht bewertet und das in unsere Gegenwart reichende, unrühmliche Ende des Kapital- und Konzern-Giganten diskret auslässt?
Das Buch nähert sich zum Ende einer Festschrift, reserviert dem Unternehmer einen Ehrenplatz im nationalen Geschichtsbuch. Ihn einen skrupellosen Profiteur der NS-Unrechtsstaates, des Weltkrieges und seiner Gewaltverbrechen zu nennen, verbieten sich die Autoren der imponierenden, in der problemgeschichtlichen Einordnung und Bewertung aber doch diskussionsbedürftigen Studie.
Als müsse ihm, der sich am Unrecht, am Leid und Elend anderer in großem Stil bereichert hat, im Lebensabend verdiente (!) Ehrung und Dankbarkeit entgegengebracht werden, betonen die Autoren, Flick habe schließlich "doch noch" das "so sehr gewünschte Bundesverdienstkreuz" erhalten - zur "Krönung seines Lebenswerkes". Heuss hatte es ihm zunächst nicht verleihen wollen. Und hatte Gründe dafür.
Ab dem 15.März 1947 muss sich Flick mit mehreren leitenden Angestellten seiner Unternehmensgruppe vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Die Ermittlung der ihnen zur Last gelegten Straftaten in der Zeit des Nationalsozialismus macht das Gericht zugleich zu einem riesigen Forschungsinstitut - lange bevor sich die Geschichtswissenschaft dafür interessiert.
Die Autoren erkennen und würdigen das durchaus. Aber sie bringen das Militärtribunal, das erste Weltgericht der Geschichte, doch ins Zwielicht, wenn sie immer wieder betonen, dass die "neu etablierten völkerrechtlichen Normen" ihre "Durchsetzungsfähigkeit" in den Verfahren erst noch beweisen mussten.
Gewiss, sie sind klug genug, nicht von "Siegerjustiz" zu sprechen, wie das damals nicht nur für die Angeklagten und ihre Verteidiger offenbar selbstverständlich war, sondern auch für renommierte Strafrechtler und Historiker der besiegten Deutschen. Aber zwischen den Zeilen scheint doch der Vorwurf auf, das IMT hätten gegen das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege) verstoßen und damit gegen einen rechtsstaatlichen Grundsatz.
So überrascht es nicht, dass die Autoren mit viel Sympathie und Verständnis schildern, mit welchem Geschick Flick und seine mitangeklagten leitenden Angestellten ihre Deutungsmacht benutzten. Eine Mitschuld bestritten sie, Verantwortung externalisierten sie und sich selbst stellten sie als Opfer dar. Was dem Zeitgeist entsprach, den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Verwandlungspolitik der frühen Nachkriegsjahre. Zahlreiche Schicksalsgruppen, Ausgebombte, Kriegsgefangene und -versehrte, Flüchtlinge, Vertriebene usw. flüchteten in die insoweit vorteilhafte Opferrolle, die nicht zuletzt Schutz versprach vor Nachforschungen und Sanktionen.
Umso wichtiger wäre es gewesen, dass die Autoren ihre ganz auf Flick, seine Mitarbeiter, Unternehmen und Beteiligungen fokussierte Geschichte am Schluss perspektivisch geöffnet hätten. Mit einem Ausblick weit in die Bundesrepublik. Vor allem aber hin zu einer kollektiven Biografie jener Gruppe der Manager und Eigentümerunternehmer, die man mit Tim Schanetzky die "Profiteure des Unrechts" nennen kann.
Nicht nur Flick, viele von ihnen mussten sich in Nürnberg verantworten und hatten sich zuvor in Konkurrenz und Zusammenarbeit durch exorbitante Gewinne bereichert: an der Rüstungsproduktion, durch Enteignung jüdischer Unternehmer, durch Ausbeutung und Versklavung zwangsverpflichteter Arbeiter aus den besetzten europäischen Ländern.
Die Autoren deuten zumindest an, dass sie diesen Anschluss auch gesehen haben. Es hat ja seinen Grund, dass nicht nur die Sauckel und Speer, Schacht und Funk auf den Listen der Amerikaner standen, sondern eben auch Krupp, Röchling, Flick, die Manager der IG Farben, der Reichswerke "Hermann Göring" usw.
Warum fällt nur ein Seitenblick auf Hitlers rüstungswirtschaftliche Eliten? Warum begnügen sich die Autoren mit einem milden Ausblick auf die dritte Erfolgsgeschichte Flicks im Aufbau der Bundesrepublik? Gewiss, Flick war eine singuläre Erscheinung, aber doch ein Akteur, der seine Wirtschafts- und Deutungsmacht im Rahmen einer Funktionselite erworben, ausgespielt und seine unternehmerische Karriere über alle Systemwechsel hinweg erfolgreich verfolgt hat. In Kooperation und Konkurrenz mit den Spitzen seiner Klasse der Eigentümer und Manager von industrieller Wirtschaftsmacht.
Flicks Aufstieg und sein Versagen werden verständlich wohl erst, wenn man ihn als Repräsentanten dieser Funktionselite sieht und die politisch-systemischen Brüche ebenso wie die gesellschaftlichen Kontinuitäten zwischen Reich und Republik einbezieht.
Flick ist 1948 in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, wird aber bereits im August 1950 aus dem Landsberger Gefängnis entlassen. Das kommt einer moralischen Rehabilitierung gleich, von der auch andere "Kriegsverurteilte" - wie es im beschönigenden Nachkriegsdeutsch heißt - profitieren. Und dann folgt schon der Schlusssatz zu Nürnberg und zu dem, was nach Nürnberg kommt und was wir kennen, die Erfolgsstory der Bundesrepublik, an der Flick wieder kräftig mitverdient:
"Während Flick und den meisten seiner Spitzenmanager das Tor zur Rückkehr in die gesellschaftliche Elite letztlich offen stand, sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis das Leid der Zwangsarbeiter öffentlich wahrgenommen und entschädigt wurde."
Als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen den Sachverhalten beider Sätze. Warum haben die Autoren nicht hier, nicht ein einziges Mal, nicht am Ende ihres wichtigen, verdienstvollen und ungeheuer fleißigen Werkes die moralische Kraft, die Begrenzung ihrer positivistischen Geschichtsdarstellung aufzuheben und den Großindustriellen am Maß des menschlichen Anstands zu messen, und zu erklären: Flick hätte es in der Hand gehabt, den Arbeitern, an denen er sich während des Krieges bereichert hatte, eine Entschädigung anzubieten, in einer symbolischen Geste das begangene Unrecht einzugestehen. Es hätte ihn wenig gekostet, aber vielleicht doch genützt, seinen blutverschmierten Namen von einer Schande zu befreien.
Rezensiert von Peter Reichel
Johannes Bähr u. a.: "Der Flick-Konzern im Dritten Reich"
Oldenbourg Verlag, München, 2008
1018 Seiten, 64,80 Euro