"Zu Schwarz-Rot wird es nicht kommen"

Ottmar Schreiner im Gespräch mit Ulrich Ziegler und Tonia Koch |
Ottmar Schreiner, Mitglied im SPD-Präsidium, hält eine schwarz-rote Koalition im Saarland für "abwegig". Auch an der Saar gelte der eherne Grundsatz: "Man muss mit denen koalieren, mit denen es die größten Schnittmengen und Übereinstimmungen gibt."
Deutschlandradio Kultur: Herr Schreiner, reden wir heute eigentlich mit dem Vorsitzenden des Arbeitnehmerflügels der SPD alleine oder auch schon mit dem künftigen Arbeitsminister im Saarland?

Ottmar Schreiner: Das wird sich zeigen. Im Augenblick wäre es ganz falsch, über Personalien zu reden. Zunächst einmal wollen wir mit dazu beitragen, dass wir hier eine vernünftige Koalition im Saarland zusammenkriegen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Schreiner, die Leute wollen schon wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oskar Lafontaine hat schon gesagt, er geht wieder nach Berlin, wenn er nicht Ministerpräsident wird. Was machen Sie?

Ottmar Schreiner: Gut, das wird ja letztlich auch davon abhängen, wie eine solche Koalition aussieht, ob sie überhaupt zustande kommt. Das ist ja im Moment auch keineswegs absolut sicher, wie sie dann aussieht. Da wird man sich ganz am Schluss darüber unterhalten müssen, wie die einzelnen Bereiche zwischen den Koalitionsparteien aufgeteilt werden. Ich gehe mal davon aus, dass wir zu einer Dreierkoalition kommen. Das liegt auf der Hand. Eine Große Koalition schließe ich aus. Insoweit kann die SPD da auch nicht alleine bestimmen, welche Positionen dann zu vergeben sind. Aber das ist für mich der letzte Punkt eines längeren Prozesses. Insoweit kommt es zunächst einmal darauf an, die Inhalte zu klären.

Deutschlandradio Kultur: Oskar Lafontaine hat definitiv gesagt, er geht zurück nach Berlin. Sie kandidieren für den Bundestag. Aber wenn es zu diesem gewünschten Bündnis Rot-Rot-Grün kommt und der Posten des Arbeitsministers ist frei, dann sind Sie dabei?

Ottmar Schreiner: Ich habe zunächst einmal gesagt, ich stehe zur Verfügung für diesen Bereich im Wahlkampf. Das bleibt auch über den Wahlkampf hinaus. Aber das wird man dann abhängig machen müssen - nochmals - von den Ergebnissen. Bei Oskar Lafontaine verhält es sich ein bisschen anders. Er hat gesagt, er stünde bereit als Ministerpräsident. Dazu ist es nicht gekommen. Das ist definitiv. Insoweit ist es nur konsequent, wenn er sich jetzt wieder auf Berlin konzentriert.

Deutschlandradio Kultur: Warum will die SPD denn ausgerechnet mit der Linken koalieren, eine Partei, die eigentlich relativ profillos ist, die eigentlich hier im Saarland eine One-Man-Show darstellt?

Ottmar Schreiner: Es gibt für die SPD ja nur zwei Möglichkeiten angesichts des Wahlergebnisses, entweder als Juniorpartner in eine Große Koalition hineinzugehen, und das halte ich ganz abwegig aufgrund der massiven Kritik an der Politik der Landesregierung. Das gilt im Besonderen für den Bildungsbereich. Das gilt für die Arbeitsmarktpolitik, es gilt für die Energiepolitik. Eine dritte Möglichkeit gibt das Wahlergebnis nicht her. Die zweite Variante ist eine von der SPD geführte Landesregierung unter Beteiligung der Linkspartei und der Grünen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Schwarz-Rot im Bund wird doch immer diskutiert. Wir haben auch Schwarz-Rot im Bund. Warum soll das im Land nicht klappen?

Ottmar Schreiner: Weil offenkundig im Land die Gegensätze zwischen Schwarz und Rot viel stärker sind als die Unterschiede als zwischen Rot, der Linkspartei und den Grünen. Insoweit - das ist ein eherner Grundsatz - soll man mit dem koalieren, mit dem es die größten Schnittmengen und Übereinstimmungen gibt.

Deutschlandradio Kultur: Auch wenn sich die Grünen äußerst schwer tun im Moment, sie verzögern den Prozess, Sondierungsgespräche sollen bis nach dem 27. September stattfinden und möglicherweise noch darüber hinaus. Halten Sie das überhaupt aus?

Ottmar Schreiner: Die Grünen legen offenkundig großen Wert darauf, ihre Entscheidungsprozess sehr nachhaltig mit entsprechenden Voten der Basis der Grünen zu verkoppeln. Das entspricht auch ihrem Parteiverständnis. Insoweit muss man diese Vorgehensweise akzeptieren.

Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal ein Stückchen zurück zu Schwarz-Rot: Jetzt haben wir die Situation in Thüringen, dass Dieter Althaus aufgegeben hat und plötzlich haben sich die Gewichte verschoben. Plötzlich heißt es da, ach ja, das wäre doch eine gute Idee mit Schwarz-Rot. Könnte es denn nicht im Saarland so sein: Sagen wir mal, wir gehen davon aus, dass Peter Müller möglicherweise den Sessel räumt, es kommen andere Leute nach vorne und dann kann man auch eine andere Situation herbeiführen, mit der eine Koalition dann doch möglich wäre.

Ottmar Schreiner: In Thüringen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ob es da zu einer großen Koalition kommt, ist zumindest offen. Die SPD versucht dort sowohl mit der CDU als auch mit der Linkspartei zu reden, auch mit den Grünen da zu reden. Es wird abzuwarten sein, für wen man sich entscheidet.

An der Saar bleibt es dabei. Eine parlamentarische Mehrheit links von der CDU ist möglich. Die SPD hat im Wahlkampf, aber auch in den vergangenen Jahren erhebliche Teile der Politik der CDU-geführten Landesregierung kritisiert. Der politische Wechsel ist möglich. Jetzt muss er auch möglich gemacht werden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn beispielsweise Hubert Ulrich, der grüne Landesvorsitzende, sagt: "Die Wahl zwischen Jamaika, also Schwarz-Gelb-Grün, und Rot-Rot-Grün sei eine Wahl wie zwischen Pest und Cholera", kann man sich schwer vorstellen, wie dann eine stabile Koalition Rot-Rot-Grün in den nächsten vier, fünf Jahren im Saarland stattfinden kann.

Ottmar Schreiner: Ja gut, das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass man sich genauso schwer vorstellen kann, dass Jamaika eine stabile Koalition wäre.

Deutschlandradio Kultur: Also Schwarz-Rot.

Ottmar Schreiner: Nein, zu Schwarz-Rot wird es nicht kommen. Da bin ich außerordentlich zuversichtlich. Dass sich die Grünen sehr schwer tun mit der Linkspartei, hat besondere Gründe, die im Wahlkampf ihre Ursachen, aber auch teilweise weiter zurückliegende Ursachen haben. Bekanntlich ist eine frühere grüne Landtagsabgeordnete vor einiger Zeit zur Linkspartei gewechselt, hatte das Mandat nicht niedergelegt. Dass dies bei den Grünen keine große Begeisterung auslöst, ist verständlich.

Deutschlandradio Kultur: Dann versuchen wir mal über die Schnittmengen zu einer Annäherung zu kommen: Die Linke im Saarland fordert klar, keine weitere Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, keinen Abbau von Arbeitsplätzen, kein weiterer Sozialabbau, ohnehin noch weg mit Hartz IV, keine Rente mit 67. Das hört sich nicht so an, als ob man damit moderne Arbeits- und Sozialpolitik machen könnte. Sie wollen aber Arbeitsminister werden. Wie geht das?

Ottmar Schreiner: Ich sehe zunächst mal den Widerspruch nicht. Wir haben überall im Bundesgebiet die Tendenz, dass teilweise privatisierte Unternehmen, die früher im öffentlichen Verantwortungsbereich waren, dass dieser Prozess wieder zurückgenommen wird. Das gilt nicht nur, aber auch insbesondere für die Wasserwirtschaft, für andere Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge. Insoweit ist diese Position der Linkspartei keine besondere, sondern entspricht dem allgemeinen Trend, den wir überall in der Republik beobachten können.

Was die Frage nach Hartz IV und Rente 67 anbelangt, muss man zunächst mal darauf hinweisen, dass das Bundesthemen sind.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Linke hat damit hier plakatiert.

Ottmar Schreiner: Es sind gleichwohl Bundesthemen. Es sind keine Themen, die im Land geklärt werden können.

Deutschlandradio Kultur: Aber diese Frage, ob es denn von der Saar dann Bundesratsinitiativen gibt, die dann möglicherweise eine Regierung in Berlin mit Beteiligung der SPD ins Schlingern bringen könnten, ist ein Punkt, vor dem fürchtet sich die SPD.

Ottmar Schreiner: Das ist mir jetzt allzu übervorsichtig gedacht. Es hat in der Vergangenheit beispielsweise eine Bundesratsinitiative des Bundeslandes Rheinland-Pfalz zum Gesetzlichen Mindestlohn gegeben, wiewohl klar war, dass die CDU in der Berliner Koalition einem Gesetzlichen Mindestlohn nicht zustimmt. Also, man sollte als Bundesland auch nicht päpstlicher sein als der Papst.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie mir in dem Zusammenhang vielleicht erklären, was der Unterschied zwischen der Linken und der SPD im Saarland ist? Denn die Schnittmengen scheinen ja relativ groß zu sein. Oder haben wir mittlerweile zwei sozialdemokratische Parteien hier an der Saar?

Ottmar Schreiner: Also, in den Kernbereichen - nochmals: Bildungspolitik, Arbeitsmarkt, auch Energiepolitik - gibt es keine wirklich schwerwiegenden Differenzen, weder zwischen der SPD, noch der Linkspartei, noch den Grünen. Auch die Grünen muss man dabei mit ins Boot nehmen. Auch die Grünen sind [für das] Zurückdrängen prekärer, unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, um mal ein Beispiel zu nennen außerhalb der grünen Kernprogrammatik in der Ökologie. Wir haben im Saarland, relativ gesehen, den höchsten Anteil an unsicheren Beschäftigungsverhältnissen an der Gesamtbeschäftigung. Das hat im Wahlkampf eine relativ starke Rolle gespielt. Insoweit sind diese Überschneidungen sind diese Überschneidungen nicht nur zwischen SPD und Linkspartei da, die Grünen sind da eingeschlossen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schreiner, seit 2001 sind Sie Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD. Haben Sie eigentlich in diesen Jahren Ihre Partei stark genug getrieben in die Richtung, in der Sie sie haben wollen, was Sie jetzt ja auch teilweise beklagen, mehr für Arbeitnehmerrechte zu tun? Oder gibt es Nachholbedarf?

Ottmar Schreiner: Na gut, es gab die bekannten Konflikte, insbesondere am Beispiel der Hartz-IV-Regelungen, aber auch bei den Rentenreformen, wo die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen eine deutlich andere Position eingenommen hatte und auch weiter einnimmt. In einer Reihe von Punkten ist Bewegung in die SPD-Programmatik gekommen. Das nehme ich nicht zuletzt auch in Anspruch für diese Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Das gilt beispielsweise für die Einführung von Gesetzlichen Mindestlöhnen, aber das gilt auch für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I. Es gilt für das Zurückdrängen von prekären Beschäftigungsverhältnissen, insbesondere Leiharbeit. Es gilt auch für die allgemeine Aussage der SPD, dass die Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und Rente sicherer gemacht werden müssten. Wie das dann im Einzelnen zu geschehen hat, wird man noch sehen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die SPD rückt nach links, verabschiedet sich von der Agenda 2010, zumindest in kleinen Schritten?

Ottmar Schreiner: Die SPD hat sich in den letzten Jahren in Teilbereichen von der Agenda 2010 weg bewegt. Ob man das jetzt links oder rechts nennt, ist höchst sekundär, jedenfalls in Richtung mehr soziale Sicherheit, stabilere soziale Sicherheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man Oskar Lafontaine zuhört, "das waren wir, das war die Linke. Diese Bewegung, die die SPD jetzt zeigt, ist auf uns zurückzuführen, auf unsere bloße Existenz und nicht darauf, dass ein Ottmar Schreiner als AfA-Vorsitzender hier wirksam war".

Ottmar Schreiner: Na gut, das Letztere sagt er nicht, aber man kann sich vorstellen, dass möglicherweise verschiedene Initiativen da zum Erfolg unserer Bemühungen innerparteilich geführt haben. Aber dass von der Linkspartei auch Impulse ausgegangen sind, die andere Parteien aufgegriffen haben, ist auch nicht zu bestreiten. Ähnliches war vor 25 Jahren bei den Grünen zu beobachten. Plötzlich redeten alle Parteien über Umweltpolitik.

Deutschlandradio Kultur: Würden Sie auch Herrn Steinmeier, dem Kanzlerkandidaten zustimmen? Der sagt: "Die SPD ist nach den Landtagswahlen zurück", und das, obwohl das schlechteste Ergebnis im Saarland hatte, 10 % in Sachsen und nicht mal 20 % in Thüringen. Ist die SPD überhaupt noch eine Volkspartei.

Ottmar Schreiner: Sie ist zumindest machtpolitisch zurück. Jede Partei will ja auch politisch gestalten und nicht nur mitreden. Wenn man politisch gestalten will, braucht man eine Machtperspektive. Die gibt es an der Saar. Ohne Zweifel ist das Wahlergebnis für die SPD nicht befriedigend. Knapp 25 % ist nicht das, was wir uns vorgestellt haben. Auf der anderen Seite hat die CDU derart massive Verluste erlitten, dass das Kernziel sehr wohl erreicht worden ist, nämlich einen politischen Machtwechsel und einen politischen Gestaltungswechsel unter Führung der SPD zu ermöglichen.

Deutschlandradio Kultur: Ist diese Schwäche der SPD, die sich in ihrem Ergebnis bei der Wahl ausdrückt, ein temporäres Problem? Wird sich das lösen und wie kann man es lösen?

Ottmar Schreiner: Alle Probleme sind temporäre Probleme, wenn man entsprechende Lösungsansätze angeht. Ich glaube, wir haben hier an der Saar - anders sind die starken Wahlergebnisse für die Linkspartei nicht zu erklären - nach wie vor Vertrauensverluste bei Teilen der Industriearbeitnehmerschaft. Es gibt kaum ein anderes Bundesland mit einem so hohen relativen Anteil von Industriearbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern, wie hier an der Saar. Nehmen Sie nur die Industrie von Mettlach, Villeroy & Boch, über Merzig, Villinger Stahlwerke, Fordwerke Saarlouis, Völklinger Hütte bis zu den Eisenwerken in Saarbrücken. Hier ist es ohne jeden Zweifel so, dass wir nach wie vor Vertrauensprobleme haben. Das hängt mit bekannten politischen Feldern in der Vergangenheit zusammen. Dort muss man dann zu Lösungen kommen, die verlorenes Vertrauen wieder zurückgewinnen lassen.

Deutschlandradio Kultur: Die Saar-SPD stand aber immer auf der linken Seite. Sie stand im Grunde genommen bei dem, was sie tat, immer auf der Seite der Arbeitnehmer, konnte sich aber in der Bundes-SPD mit diesen Ansätzen wenig durchsetzen. Dieses Problem wird doch verbleiben.

Ottmar Schreiner: Ja gut, ich habe ja eben einige Beispiele genannt, wo wir uns auf der Bundesebene durchgesetzt haben, obwohl wir zunächst einsame Rufer in der Wüste waren. Es gilt - nochmals - für Mindestlöhne. Es gilt für das Zurückdrängen prekärer Beschäftigung. Heiko Maas hat diese mehrfach zu einem starken Thema in der Wahlkampfführung hier an der Saar gemacht. Die Menschen wissen, wovon man redet. Wir haben hier überproportional viel Leiharbeit, Minijobs, zeitlich befristete Jobs usw., usf. Also, wir begreifen uns da schon als Motor in der Gesamtpartei und in Teilen haben wir uns da ja auch durchgesetzt.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Lösung heißt immer Sozialtransfers?

Ottmar Schreiner: Die Lösung heißt gerade nicht Sozialtransfers. Die Lösung der CDU sind zur Zeit Transfers.

Deutschlandradio Kultur: Also Umverteilung?

Ottmar Schreiner: Die CDU will staatlich teilfinanzierte Löhne. Wir sagen: Ein Unternehmen, dessen Geschäftsgrundlage darauf beruht, dass Hungerlöhne gezahlt werden, hat in der sozialen Marktwirtschaft keinen Bestand. Das machen andere Länder so. Das machen die Franzosen so, die Belgier, die Briten, die Luxemburger hier in der Nachbarschaft. Warum soll das nicht in Deutschland funktionieren? Es ist nicht Aufgabe des Staates, in einer Marktwirtschaft den Unternehmen Teile der Löhne zu subventionieren.

Deutschlandradio Kultur: Ihre Antwort ist dann?

Ottmar Schreiner: Der Mindestlohn.

Deutschlandradio Kultur: Aber allein damit kann man die Probleme nicht lösen, weil die [Arbeitgeber] schon angekündigt haben, wenn es denn dazu kommt, dann wird das zu Lasten der Beschäftigung gehen. Und alles, was zu Lasten der Beschäftigung geht, wird im Endeffekt dazu führen, dass Sozialtransfers notwendig werden, weil diese Menschen dann aufgefangen werden müssen.

Ottmar Schreiner: Das ist die Behauptung einiger Arbeitgeberverbände. Es gibt eine Reihe von anderen Arbeitgebern, die das genaue Gegenteil fordern. Die sagen, wir brauchen Mindestlöhne, um sicherzustellen, dass wir überhaupt noch Bestand haben über das Jahr 2011 hinaus. Ab 2011 gilt nämlich in Europa die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das gilt dann auch für polnische oder slowakische oder tschechische Arbeitnehmer. Wenn wir in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt keine Mindestlöhne haben, dann können Betriebe aus dem europäischen Ausland in Deutschland Arbeit für zwei oder drei Euro die Stunde anbieten. Damit kann ein deutscher Unternehmer nicht mehr konkurrieren. Schon aus diesen Gründen ist die Einführung von Gesetzlichen Mindestlöhnen in möglichst rascher Zeit absolut unabdingbar.

Deutschlandradio Kultur: Das kann ja ein Schritt sein. Ein anderer Schritt ist der, dass man sagt: Wir brauchen eine Veränderung der Industriestruktur hierzulande. Die Grünen haben ein Beispiel vorgestellt. Sie sagen " green ecology". Also, wir brauchen eine Erneuerung der Industrie im ökologischen Sinne, damit dort zusätzliche Arbeitsplätze generiert werden können. Ist das die flankierende Maßnahme, die mindestens genauso wichtig ist, die auch parallel laufen (kann)?

Ottmar Schreiner: Das ist mindestens genauso wichtig. Im Übrigen ist das ja auch das Kernstück des Beschäftigungsplans von Frank-Walter Steinmeier, der gesagt hat, wir wollen damit innerhalb einer überschaubaren Zeit mehrere zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Ob das nun besonders sinnvoll ist, sich angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre auf genaue Zahlen festzulegen, sei dahingestellt, aber im Kern ist diese Initiative absolut unabdingbar. Wir wissen aus vielen Untersuchungen oder aus den Erfahrungen der Vergangenheit, dass uns eine stärkere Ökologisierung unserer Volkswirtschaft weltweit nach vorne bringen würde, weil die weltweite Nachfrage nach umweltfreundlichen Produkten immer stärker zunehmen wird.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schreiner, wir haben einen Aufbau von Beschäftigung gehabt, wenn auch nicht einen Aufbau von Beschäftigung, so wie Sie ihn sich gewünscht haben. Aber es gab diesen Aufbau von Beschäftigung. Parallel dazu ist trotzdem die Armut gewachsen. Was kann man dagegen tun?

Ottmar Schreiner: Die Armut ist vor allen Dingen gewachsen, weil immer mehr Menschen, die Arbeit haben - das ist das amerikanische Phänomen "working poor", Armut trotz Arbeit -, zu so genannten Aufstockern gehören. Das heißt, das, was sie an Einkommen erzielen, reicht nicht mehr aus, um ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen. Sie müssen dann bei den Arbeitsagenturen um Aufstockungsbeträge nachsuchen. Da liegt eine zentrale Ursache für die wachsende Armutsspirale. Eine zweite Ursache ist die hohe Armutsquote bei alleinerziehenden Frauen. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass wir nach wie vor keine ausreichende Anzahl von Kinderkrippenplätzen haben. Bei den Kindern unter drei Jahren sind wir hoch defizitär im Vergleich zu anderen Ländern. Hier wird einiges gemacht. Das müsste beschleunigt nach vorne gebracht werden, um die Armut an der Quelle möglichst zu beseitigen.

Deutschlandradio Kultur: Sehr interessant - und das alles unter Mitregierung der SPD im Bund und in vielen Ländern. Hat die SPD mittlerweile begriffen, dass sie dagegen was tun muss? Oder hat sie in den letzten Jahren geschlafen, weil sie ja Mitverantwortung für diese Entwicklung trägt, die Sie beklagen?

Ottmar Schreiner: Ja, Mitverantwortung für diese Entwicklung hat ohne Zweifel die rot-grüne Bundesregierung gehabt. Ich glaube, dass daraus - zumindest in einigen Bereichen - vernünftige Konsequenzen gezogen worden sind. Das gilt insbesondere für den nachhaltigen Ausbau vorschulischer Ganztagseinrichtungen, nicht nur zwischen drei und sechs, auch für Kinder unter drei Jahren. Es gilt für die Forderung, den gesamten Bildungsbogen vom Kindergarten bis zur Universität gebührenfrei zustellen, wie das andere Länder, vor allen Dingen in Skandinavien, auch machen. Es gilt für die Mindestlöhne. Es gilt für das Zurückdrängen prekärer Beschäftigung. Also, da sind in einer ganzen Reihe von Punkten sehr wohl vernünftige Schlussfolgerungen aus Fehlentwicklungen der letzten 10 Jahre gezogen worden.

Deutschlandradio Kultur: Und was fehlt?

Ottmar Schreiner: Was fehlt, ist vor allen Dingen eine Rentenpolitik, die wieder Stabilität und Zuversicht auslöst. Viele Menschen haben eben einfach Angst, dass - wenn sie im fortgeschrittenen Alter arbeitslos werden - sie für den Rest des Lebens arm werden könnten. Da muss deutlich mehr Sicherheit hineinkommen. Die Brücken zwischen Arbeit und Rente müssen deutlich stabiler gebaut werden. Wir brauchen auch eine nachhaltige Diskussion über Hartz IV. Da gibt es ja eine Reihe von Ansätzen, die bis hinein in die CDU diskutiert werden, etwa die Höhe der Regelsätze, eigenständige Kinderregelsätze und andere Punkte auch.

Deutschlandradio Kultur: Das hört sich immer an nach viel Geld, das der Staat ausgeben muss. Wenn wir beispielsweise diesen demographischen Faktor ernst nehmen, dass wir alle älter werden, können wir vielleicht sogar auch ein bisschen länger arbeiten und haben trotzdem längere Zeit noch im Rentenalter, die wir erleben können. Dem muss man doch irgendwie gerecht werden. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass wir möglicherweise dann doch eben bis 67 arbeiten und trotzdem viel länger Rentner sind als vor 20, 30 Jahren. Und die Kassen werden dann nicht völlig überzogen, sondern sie können das noch finanzieren.

Ottmar Schreiner: Ja, Sie als Journalist und ich als Abgeordneter. Wenn ich hier in meinem Wahlkreis die Keramikarbeiterin bei Villeroy & Boch frage, die lange Jahre Wechselschicht arbeitet, wenn ich den Stahlarbeiter der Völklinger Hütte frage, der lange Jahre Wechselschicht arbeitet, Schichtdienst leistet, ob er sich vorstellen kann, bis zum 67. Lebensjahr gesund im Beruf zu verbleiben, dann wird er mir zur Antwort geben, er hat bereits Probleme sich vorzustellen, dass er mit dem 60. Lebensjahr noch gesund seinen Beruf ausüben kann, weil die körperlichen und psychischen Belastungen so enorm sind, dass viele vorher ausscheiden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen sind sehr unterschiedlich. Auf diese Unterschiedlichkeit muss die Rentenpolitik auch vernünftige Antworten finden. Ansonsten leben diese Menschen in Angst, dass sie im Alter arm sind, wiewohl sie jahrzehntelang gearbeitet haben. Und da ist eines Sozialstaates unwürdig.

Deutschlandradio Kultur: Also sollte die SPD so schnell wie möglich diesen Titel "Rente mit 67" wieder aus dem Programm rausnehmen und sagen, wir brauchen flexible Lösungen, je nach Arbeitsplatz, je nach Belastung vor Ort?

Ottmar Schreiner: Wie die Lösungen dann im Einzelnen aussehen, ob individuell oder ob da Branchenlösungen denkbar sind, das ist ein sehr kompliziertes Thema. Man kann es sich zunächst mal ganz einfach machen: Im nächsten Jahr - das ist im Gesetz enthalten - soll eine Überprüfung stattfinden, ob der Beginn der Erhöhung des Renteneintrittsalters ab 2012 überhaupt sinnvoll ist angesichts der dann 2010 zu konstatierenden Arbeitsmarktsituation von Älteren.

Deutschlandradio Kultur: Aber warum wartet die SPD mit entsprechenden Vorschlägen, wenn die Analyse, die Sie angestellt haben, inzwischen in alle Köpfe vorgedrungen ist?

Ottmar Schreiner: Ja, in alle Köpfe ist sie ja nicht vorgedrungen, aber es ist offenkundig so, dass dieses Thema sehr viel Verunsicherung in die Bevölkerung hineingetragen hat, dass sehr viele Menschen da nachfragen, was aus ihnen wird, wenn sich die Entwicklung so darstellt, wie eben angedeutet, dass viele eben nicht bis zu einem bestimmten Lebensalter den Belastungen standhalten können. Das sind völlig berechtigte Fragen, auf die die Politik auch entsprechende Antworten finden muss.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben die ganze Themenpalette schon mal angerissen. Vor einem Jahr haben Sie ein Buch geschrieben, "Die Gerechtigkeitslücke". Laudator war damals Heiner Geißler. Wissen Sie noch, was er Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat?

Er sagte: "Die historische Aufgabe der SPD sei es, sich mittelfristig oder kurzfristig mit der Linken wieder zu vereinen, damit am linken Rand die Gesellschaft nicht auseinanderfällt."

Ottmar Schreiner: Er hat mir in ein anderes Buch reingeschrieben: "Solidarität statt Kapitalismus." Das ist auch typisch Heiner Geißler. Also, ob die parteipolitischen Empfehlungen alle so richtungweisend sind, wage ich hin und wieder zu bezweifeln. Was da wird, ist kurzfristig nicht beantwortbar. Wie sich das mittelfristig entwickelt, wird man sehen müssen. Ich bin eher zuversichtlich, dass sich das allmählich eher aufeinander zu bewegt. Wenn es gelänge, auf lokaler, auf regionaler Ebene entsprechende Zusammenarbeiten zu ermöglichen, dann würde dies auch mittelfristig auf Bundesebene entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen.

Deutschlandradio Kultur: Wäre denn die Saar so ein Testgebiet? Oder herrscht an der Saar eine Sondersituation?

Ottmar Schreiner: Ein Testgebiet können wir schon deshalb nicht sein, weil es eine rot-rote Koalition schon seit langen Jahren in Berlin gibt, die dort erfolgreich arbeitet.

Deutschlandradio Kultur: Ein bisschen anderes Testgebiet wäre es schon, weil es im Westen, eindeutig im Westen war. Berlin ist ja früher zweigeteilt gewesen, wie wir wissen, und ist dann zusammengeführt worden. Es wäre schon was Besonderes.

Ottmar Schreiner: Na gut, es wäre schon was Besonderes auch deshalb, weil es ja eine Dreierkoalition wäre unter Beteiligung der Grünen.

Deutschlandradio Kultur: Aber für die Bundestagswahl, die in gut drei Wochen stattfinden wird, wäre das sicherlich kein so schönes Signal. Oder wäre das genau die Aufbruchsituation, die Sie gerne haben wollten?

Ottmar Schreiner: Für die Bundestagswahl in drei Wochen ist es ohne Zweifel ein schönes Signal, das sage ich mal aus Sicht der SPD natürlich, dass die CDU in zwei Bundesländern geradezu dramatische Einbrüche hatte, in beiden Bundesländern möglicherweise nicht mehr den Ministerpräsidenten stellt. Das ist alles noch offen entlang der Entwicklung. Aber das ist eine Botschaft drei Wochen vor der Bundestagswahl, dass die Bäume der CDU keineswegs in den Himmel wachsen und dass es sehr eng werden könnte für die Absicht von Frau Merkel, in Zukunft mit der FDP zu regieren.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen trotzdem mit einem Amputationsschmerz leben - 20 %-Ghetto der SPD. Sie können machen, was Sie wollen. Sie schaffen es vielleicht noch auf paar und 20, aber viel mehr wird’s nicht werden.

Ottmar Schreiner: Nein, ich habe die Situation auch überhaupt nicht beschönigt. Ich habe darauf hingewiesen, das Hauptziel, das Kernziel ist erreicht. Ein politischer Wechsel ist möglich, aber das parteipolitische Ziel, möglichst ein gutes Ergebnis zu bekommen, ist jedenfalls nicht in dem Maße erreicht worden, wie wir uns das vorgestellt haben. 25 % sind kein befriedigendes Ergebnis. Da haben wir noch sehr viel zu arbeiten in der Zukunft.

Deutschlandradio Kultur: Würde denn eine Ampel der SPD helfen?

Ottmar Schreiner: Auf der regionalen Ebene hier im Saarland?

Deutschlandradio Kultur: Nein, auf der Bundesebene.

Ottmar Schreiner: Auch eine Ampel auf Bundesebene ist, soweit ich das von den Zahlen her übersehe, nicht darstellbar.

Deutschlandradio Kultur: Also, es gibt drei Möglichkeiten, die wir uns mal ausgerechnet haben. Entweder es gibt die schwarz-rote Koalition, Fortführung, weiter so. Die zweite Möglichkeit wäre: Sie gehen in die Opposition und erneuern sich, die Sozialdemokraten. Die dritte Möglichkeit ist, Sie stellen den Kanzler mit irgend so einer Ampel, falls es dazu reicht. Welche Variante würden Sie eigentlich bevorzugen?

Ottmar Schreiner: Ich bevorzuge die Variante, eine möglichst starke SPD in den Deutschen Bundestag zu bekommen. Danach wird man weitersehen. Der Wähler hat das letzte Wort.

Deutschlandradio Kultur: Und wenn Sie Schwarz-Rot fortsetzen, ist das dann auch die Chance, dass sich die SPD auch innerhalb dieser Koalition weiter entwickeln kann?

Ottmar Schreiner: Alle Vorschläge, die gemacht worden sind zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise, kamen von der SPD. Mir ist kein einziges Beispiel bekannt, was von der CDU gekommen wäre. Nehmen Sie die Abwrackprämie. Nehmen Sie die zweimalige Verlängerung des Kurzarbeitergeldes. Nehmen Sie die beiden Konjunkturprogramme. Alles in allem ist es bislang gelungen, die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen einzudämmen, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. All diese eben genannten Beispiele rühren aus der Vorschlagsliste der SPD. Insoweit kann man da einigermaßen zufrieden sein. Erstaunlicher ist es ja eher umgekehrt, dass nach die CDU - relativ gesehen - gute Werte hat.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie sehen keinen Erneuerungsbedarf bei der SPD?

Ottmar Schreiner: Natürlich sehe ich Erneuerungsbedarf. Ich weise nur darauf hin, dass auch als Regierungspartei sehr wohl neue Dinge gemacht werden können, die man früher abgelehnt hat. In der Krise sind angepackt worden, die vorher - jedenfalls von der Konzeption her - nicht denkbar gewesen wären.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schreiner, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch.