Achtung, Süßigkeiten

Zucker ist das neue Rauchen

Zuckerwürfel auf schwarzem Hintergrund
Zucker hat einen viel zu schlechten Ruf, findet die Autorin und Journalistin Fabienne Hurst. © picture alliance / Zoonar / Serghei Platonov
Gedanken von Fabienne Hurst · 20.12.2022
Süßes gehört zu Weihnachten wie die Kugeln zum Christbaum. Ein Albtraum für all die Gesundheitsbewussten, die Zucker am liebsten ganz vom Speiseplan streichen würden. Die Autorin Fabienne Hurst fordert: Sie sollten sich dringend mal entspannen.
Im Supermarktregal mit den Backzutaten stehen seit neustem reihenweise Zuckerersatzstoffe in großen, bunten Dosen. Neben Marzipanrohmasse und Kuvertüre versprechen Erythrit, Xylit und Co. ein zuckerfreies Weihnachten und Zitat: „Naschen ohne Reue“.
Nicht einmal in der Plätzchenzeit wird die Lebensmittelindustrie müde, uns Süßkram schmackhaft zu machen, der kaum Kalorien hat. Da ist etwa die Stevia-Eiscreme, von der man einen ganzen Becher essen darf, nein – soll. Oder die grell beworbenen Keto-Schokoriegel aus “zuckerfreiem Karamell“, die als „supergesund“ vermarktet werden. Trotz der ganzen Zusatzstoffe.

Zuckerkonsum gilt als Sünde 

Zucker hat einen viel zu schlechten Ruf: Der Fußballspieler Philipp Lahm brüstete sich kürzlich vor Kindern damit, niemals Werbung für Nutella gemacht zu haben. Als stünde sonst sein Saubermann-Image auf dem Spiel. Eine Bekannte hat ihren Sohn sogar aus der Kita genommen, weil es dort einmal Kuchen gab. Sie hat davon so erschüttert berichtet, als hätte jemand ihrem Kind Heroin ins Müsli gemischt.
Eigentlich moderne, kluge Menschen sprechen vom Sündigen – und meinen damit den Verzehr von einfachen Kohlehydraten. Dabei ist Völlerei in einer Gesellschaft, in der Lebensmittel im Überfluss vorhanden sind, längst keine Todsünde mehr. Man isst ja niemandem etwas weg. Gemeint ist mit der Sünde mittlerweile etwas anderes: dick werden.
In den USA hat ein Psychologe ein Experiment durchgeführt: Er hat seinen Probanden einen Schokoladenkuchen gezeigt und dann notiert, was ihnen dabei spontan durch den Kopf ging: Schuld war die Top Antwort. Als sei Hüftspeck etwas, was es schon aus moralischen Gründen unbedingt zu eliminieren gilt. 

Zuckerersatzstoffe fördern Lust auf Süßes

Sobald etwas als zuckerfrei gelabelt wird, glauben viele, es sei automatisch gut. Was ja viel zu einfach gedacht ist. Frittierfett ist auch zuckerfrei. Zigarrenrauch? Zuckerfrei. Erdöl, Asbest, Kerosin? Alles zuckerfrei. Trotzdem greifen vermeintlich gesundheitsbewusste Menschen nur bei Zuckerfreiem ungeniert zu. Sie klicken sich lieber 15 Süßstoff Tabletten in den Kaffee, als sich ab und zu ein Stück Christstollen zu gönnen.
Zuckergegner fühlen sich auf unangenehme Weise ständig überlegen. Es ist wie bei Veganern oder bei Leuten, die keinen Fernseher haben. Woran erkennt man eine Person, die keinen Zucker mehr isst? Sie erzählt es einem. Ständig weist irgendein Gesundheitsapostel darauf hin, wie schlimm Zucker ist. Obwohl es Zahnbürsten gibt – und Fitnessstudios.
Zuckerabstinenz soll angeblich gegen Stress helfen, gegen Pickel, gegen Müdigkeit, gegen Milchstau, gegen Long Covid, gegen Krebs. Zuckerfreiheit – die vermeintliche Supermedizin. Was Forscher hingegen wissen: Zu viel Zuckersatz wirkt sich ungünstig auf die Darmflora aus, und Süßstoff hilft nur Diabetikern. Auch dass man davon abnimmt, ist nicht erwiesen. Im Gegenteil: Künstlicher Zuckerersatz befriedigt die Lust auf Süßes viel weniger – und man isst automatisch mehr. Vielleicht suchen Zuckergegner auch deshalb ständig den Applaus von anderen: Wenn sie sich schon selbst um echten Genuss bringen, wollen sie wenigstens ein bisschen Lob als Ersatzbefriedigung.

Weihnachten braucht die Seele auch mal Zucker

Natürlich ist zu viel Zucker schädlich, für die Leber, die Zähne, die Konzentration. Deshalb isst man ihn ja auch nicht ständig. Süßes ist etwas Besonderes. Ich muss beim Duft von Zimtsternen immer an meine geliebte, verstorbene Großmutter denken. Weihnachtsgebäck ist Love Language für die Seele und den Gaumen, eine Sprache der Liebe, die jeder versteht. Eine Belohnung, eine Tradition, eine Erinnerung an die eigene Kindheit. Es kommt eben – wie so oft – auch beim Zucker auf das richtige Maß an. 

Fabienne Hurst (*1987 in Müllheim/Baden) ist freie Journalistin. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit für die ARD und die Zeit schreibt sie gesellschaftskritische Sketche für Maren Kroymann und Carolin Kebekus sowie Drehbücher für verschiedene Serien (u.a. “King of Stonks“, Netflix). Ihre Doku „Big Mäck: Gangster und Gold“ erscheint im Januar 2023 auf Netflix. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie unter anderem mit zwei Adolf-Grimme-Preisen ausgezeichnet.

Eine Frau mit braunen Haaren im Pullover schaut lächelnd in die Kamera: die Autorin Fabienne Hurst.
© Henning Kretschmer
Mehr zum Thema