Zuckerrohrarbeiter in Nicaragua

Die Insel der Witwen

Zuckerrohrpflanzen
Ein Arbeiter bei der Zuckerrohrernte © dpa / RiKa
Von Tom Noga |
Die Arbeit auf Zuckerrohrfeldern ist hart, aber in Nicaragua macht sie auch krank. Jedes Jahr sterben Hunderte von Arbeitern an Nierenversagen. Um den Ursachen auf den Grund zu gehen, fehlt das Geld - und die Plantagenbesitzer schweigen.
Den Weg kennt Juan Salgado wie im Schlaf, so oft ist er hier lang gegangen. Immer um dieselbe Zeit: im Morgengrauen hin, wenn fahles Licht die Wälder um Chichigalpa mit einem bläulichen Schleier überzieht und es mit 24, 25 Grad noch angenehm frisch ist. Und dann zurück in der brennenden Mittagshitze oder der bleiernen Schwüle des Nachmittags, je nachdem, wann er fertig war mit der Arbeit. 36 Jahre ging das so, 36 Jahre hat Juan Salgado als cortador, als Zuckerrohrschneider auf den Feldern im Nordwesten Nicaraguas gearbeitet. Wie die Männer, die jetzt, morgens um fünf, aus Chichigalpa hinausströmen. Durch ein Gewirr von Wellblechsiedlungen, auf einer unbefestigten Straße voller Schlaglöcher, in denen das Regenwasser steht. Darüber tanzen Mückenschwärme.
Die Männer sind verschlafen, sie haben Holster um die Hüften, darin die Machete. Man grüßt sich kaum hörbar, mit einem kurzen Kopfnicken und einem vernuschelten Buen día, Guten Morgen.
„Viajan también para allá... „Die Leute sind auf dem Weg zur Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern. Hier sind überall Felder, das ganze Land gehört der Zuckerfabrik San Antonio, mehr als 30.000 Hektar. Das ist eine riesige Anbaufläche: im Süden bis León, das sind fast 50 Kilometer, im Norden bis zur Provinzhauptstadt Chinandega, das ist nicht ganz so weit. Im Osten geht's weit über die Hauptstraße, die Panamericana hinaus und im Westen bis runter zum Meer. Hier gibt es weit und breit nichts als Zuckerrohr." ... No hay otra cosa más que caña."
Immer schmaler wird die Straße, bis sie nur noch ein Pfad ist. An den Rändern stapelt sich Müll. Die kleinen Siedlungen außerhalb der Stadt sind weder an Trink- und Abwassersystem noch an die Müllentsorgung angeschlossen. Drumherum wogt das Zuckerrohr im Wind, über mannshohe Stängel mit vertrockneten Blättern an den Wurzeln und weißen Blüten: flores de caña.
Juan biegt ab. Auf eine rostige Brücke, die einen Fluss überspannt, eine schwarze Brühe, die träge vor sich hin fließt und die zu benennen sich niemand die Mühe gemacht hat. Hinter der Brücke beginnt La Isla.
„Nosotros le decimos La Isla, verdad.... „Wir sagen La Isla. Aber eigentlich besteht die Siedlung aus fünf Sektoren, und richtig heißt sie Guanacastal Sur. Wir nennen sie La Isla, weil sie von Wasser umgeben ist, von dem großen Fluss, den wir grade überquert haben, und einem kleinen dort hinten." ... por eso se dice La Isla."
Juan Salgado rückt die Brille unter dem grau melierten, welligen Haar zurecht, ein stämmiger Mann, der sich in Zeitlupentempo bewegt. Er ist krank, schwer krank. Und sein Leiden hängt mit La Isla zusammen und den Zuckerrohrfeldern, die das kleine Dorf umschließen.
„Yo trabajé muchos años en la caña... „Auf den Feldern habe ich gearbeitet, wie alle hier, sehr, sehr lange, insgesamt 36 Jahre. Im Jahr 2001 musste ich aufhören, wegen der Krankheit. Ich war damals 54, nein: 53. „Du bist zu oft im Krankenhaus", hieß es, „in unserem privaten Krankenhaus, immer wieder gehst du zum Arzt." Ich musste zugeben, dass ich ein chronisches Nierenleiden hatte, und sie haben mich nicht weiter arbeiten lassen." ... que no puedo seguir trabajando."
Zuckerrohrpflanzen
Die Ernte der stabilen Zuckerrohrpflanzen ist sehr mühsam.© picture-alliance / RiKa
Nierenversagen ist die Todesursache Nummer eins
Juan bleibt im Schatten einer Eiche stehen. Die wenigen Schritte haben ihn angestrengt, direktes Sonnenlicht muss er ohnehin meiden. "Die Krankheit", wie er es ausdrückt, ist Todesursache Nummer eins im Nordwesten Nicaraguas. Besonders stark ist La Isla betroffen. Hier leiden zwei von drei Männern an Niereninsuffizienz. Im Volksmund heißt der Ort La Isla de la viudas, die Insel der Witwen.
"Das Problem ist, dass die Nieren immer kleiner werden und irgendwann nicht mehr funktionieren. Meine schrumpfen wenigstens nicht weiter, das kommt immer wieder beim Ultraschall heraus. Sie funktionieren nicht zu 100 Prozent, aber zu 80. Das reicht zum Überleben, sagt mein Arzt, wenn ich mich schone, wird die Krankheit nicht schlimmer. Aber anfangs war ich niedergeschlagen, viele Kollegen sind ja an Niereninsuffizienz gestorben, sicher mehr als 6.000. Aktuell leiden 4.000 Menschen an der Krankheit, alles Arbeiter der Zuckerfabrik San Antonio."
Juan Salgado ist wie die anderen nierenkranken Zuckerrohrarbeiter inzwischen Objekt der Forschung, und zwar an der UNAN, der autonomen Universität von León, eine halbe Autostunde entfernt von Chichigalpa. Genauer: am Lehrstuhl von Doctora Aurora Aragón, einer Dame mit helmartiger Frisur und schwarzer Hornbrille. Sie sitzt in der Mensa der UNAN, ihr gegenüber Mervin González, ihr engster Mitarbeiter.
"An chronischer Niereninsuffizienz leiden normalerweise Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck oder Fettleibigkeit, wobei mindestens zwei dieser Ursachen zusammenkommen. Und es sind meist ältere Menschen, weil mit dem Alter das Risiko dieser Erkrankungen steigt. Hier dagegen erkranken vor allem junge Leute, bei denen keine dieser Ursachen vorliegen. Es sind Leute, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Sie arbeiten körperlich, unter freiem Himmel."
Krankheit grassiert in vielen Ländern Mittelamerikas
Doctora Aragón schaltet ihren Laptop an und klickt auf eine interaktive Karte. In vielen Ländern Mittelamerikas, der Karibik, aber auch im Norden Kolumbiens sind Teile der Küstenregion rot eingefärbt – dort grassiert die Krankheit. Aber nirgends ist es so schlimm wie in Nicaragua. Sie öffnet eine andere Datei.
"Nach dieser Studie hatten wir von 1988 bis 2007 855 Todesfälle, wobei 80 Prozent des Opfer Männer waren, 88 um genau zu sein. Nur in Chichigalpa, im Ort selbst und im Landkreis, der insgesamt aus 52 Gemeinden besteht. Aktuellere Zahlen haben wir nicht, in anderen Landkreisen sind noch nicht einmal Studien gemacht worden. Wir durchforsten deshalb die Akten der Standesämter. Dabei haben wir 2.420 weitere Todesfälle verifiziert."
Doctora Aragón seufzt. Die Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, sind begrenzt. Sehr begrenzt, wie sie es ausdrückt. Bisher konnten die Arbeitsmediziner noch nicht einmal die Hälfe aller Standesämter in den isolierten Dörfern inmitten der Zuckerrohrplantagen überprüfen. Und die Zahlen selbst, fügt Mervin González hinzu, die muss man richtig einordnen.
"Nehmen wir mal an, ich habe Herzprobleme, ausgelöst durch chronische Niereninsuffizienz im Endstadium. Ich erleide einen Herzschlag und sterbe. Im Standesamt wird dann als Todesursache Herzversagen angegeben. Kein Wort über Niereninsuffizienz. Nur auf dem Totenschein, wenn denn einer ausgestellt wird, kann der Arzt das vermerken. Die Dunkelziffer ist also vermutlich sehr hoch, auch weil nicht jeder hier das Ableben eines Familienmitglieds meldet."
"Hola señora."
In La Isla ist Juan Salgado bei Priscilla angekommen, einer fülligen Dame mit grauen, zum Zopf gebundenen Haaren und verhärmten Gesichtszügen. Priscilla ist ein Deckname, den echten möchte sie nicht preisgeben.
"Ich habe zwei Männer verloren. Der erste ist an Kreatinin gestorben, an der chronischen Niereninsuffizienz. Der zweite auch. Der erste war nur 34, der zweite 50. Es fing damit an, dass sie sich ständig übergeben mussten, mit Entzündungen, Kopfschmerzen, Mattigkeit. Der Blutdruck fiel ab und so weiter und so weiter – alle möglichen schlimmen Dinge. Der erste ist einen Monat nach den ersten Anzeichen gestorben. Als sie ihn untersucht haben, hatte er einen Kreatininwert von 24, normal sind 0,6, 0,5. Bei so hohen Werten wie bei ihm geht es ganz schnell."
Priscillas Lebensumstände sind ausgesprochen prekär. Sie bewohnt ein kleines Haus, fensterlos, ein einziger Raum, der Boden nicht befestigt. Wenn es regnet steht drinnen das Wasser knöcheltief. Gekocht wird draußen, über Herd und Spüle ist eine Plastikfolie gespannt. Wasser holt Priscilla aus einer Zisterne. Bis vor gut zehn Jahren hatten es die cortadores, die Zuckerrohrschneider, noch besser, erzählt Juan Salgado, sie lebten in modernen Häusern auf dem Gelände der Zuckerfabrik San Antonio. Dann wurde die Wohnsiedlung abgerissen, von einem Tag auf den anderen, und die Menschen sind in Hüttendörfer wie La Isla gezogen.
"Ich denke, die Bosse wollten verhindern, dass es auf dem Werksgelände zu Todesfällen kommt, also haben sie die Leute lieber rausgeworfen, damit sie woanders sterben. Tote auf dem Gebiet der Fabrik wären schlecht fürs Image gewesen."
Priscilla brüht Kaffee auf. Sie ist zum dritten Mal verheiratet. Ihren Mann stellt sie als Carlos Alberto vor, auch er möchte seinen wahren Namen nicht verraten, auch er leidet unter chronischer Niereninsuffizienz. Carlos Alberto ist nur noch Haut und Knochen, mit Anfang 50 wirkt er wie ein Greis. Hätte zur Arbeit gehen sollen, konnte aber nicht.
Wegen des Geldes verzichten die Arbeiter auf Trinkpausen
"Während der Ernte verdienst du 3000 Córdobas im Monat, manchmal nur 2800, je nachdem, wie viel Zuckerrohr du schlägst. Davon kannst du nicht leben, also verzichtest du auf Trinkpausen, isst wenig, Und du arbeitest länger, damit du ein bisschen mehr verdienst."
Eigentlich ist die Arbeitszeit auf den Plantagen begrenzt, von fünf Uhr morgens bis 11 Uhr vormittags. Danach steigen die Temperaturen in den schattenlosen Zuckerrohrfeldern auf bis zu 40 Grad. Aber wie alle hat Carlos Alberto oft bis in den Nachmittag gearbeitet oder am frühen Abend noch eine Schicht eingelegt. Und nebenbei eine Finca betrieben, einen kleinen Bauernhof. Zuckerrohr ist Saisonarbeit, geerntet wird von November bis April. Mit dem Verkauf von Gemüse und Eiern aus eigenem Anbau auf dem Markt in Chichigalpa, hat er sich außerhalb der Erntezeit über Wasser gehalten. Nun kämpft Carlos Alberto um seine Rente. Für die staatliche Grundsicherung, gerade mal 1500 Córdobas, umgerechnet 42 Euro, muss er in seinem Erwerbsleben 125 Wochen gearbeitet haben – diese Voraussetzung erfüllt er. Aber auf die ebenfalls erforderlichen 26 Wochen im letzten Arbeitsjahr kommt Carlos Alberto nicht. "Zu oft krank gewesen", murmelt er.
Für Juan Salgado ist Carlos Alberto alles andere als ein Einzelfall. Vor allem jüngere cortadores erfüllen bei Arbeitsunfähigkeit oft nicht einmal die Voraussetzungen für die staatliche Grundrente. "Erzähl von deinem Sohn", fordert er Priscilla auf. Ihr Sohn, nennen wir ihn Santiago, ist 32 und seit vier Jahren nierenkrank.
Heute arbeitet Santiago auf einem Feld im Süden von La Isla, sagt Priscilla. Theoretisch kann man dort mal vorbeischauen, aber Vorsicht: Betriebsfremde werden auf den Feldern nicht gerne gesehen, Reporter erst recht nicht.
Wo La Isla endet, beginnen die Zuckerrohfelder. Drei, vier Meter hoch wogen die Stängel im Wind, so weit das Auge reicht. Nach der weißen Blüte der Zuckerrohrs, der flor de caña, hat sich der der Rumhersteller benannt. Juan Salgado reißt ein vertrocknetes Blatt ab und zermalmt es zwischen seinen Fingern.
"Früher wurden auch diese Felder bei der Ernte abgebrannt. Aber die Leute aus la Isla haben sich beschwert, über den Ruß und den Rauch. Mit Erfolg, heute wird hier maschinell geerntet."
Ein kleiner Erfolg zwar, aber nur für La Isla. Überall sonst, fährt er fort, werden die Felder weiter abgebrannt, auch in der Nähe von Siedlungen. Das ist billiger und schneller.
Es ist halb zwölf vormittags. Eigentlich sollte die Schicht für die cortadores längst zu Ende sein, aber auf dem Feld südlich von La Isla hat noch keiner der Arbeiter die Machete niedergelegt. Einer von ihnen ist Santiago, der Sohn von Priscilla, der zweifachen Witwe- Santiago ist fast zwei Meter groß, schlank und muskulös, mit Millimeter kurzen Haaren.
Ein paar kräftige Hiebe, schon platzen die vertrockneten Blätter am Fuße des Stängels ab. Mit zwei senkrechten Schlägen kurz über dem Boden fällt er den Stiel und stopft ihn in einen mannshohen Köcher. Die Stängel enthalten den Zucker, erklärt Juan. Am Ende der Ernte werden sie gewogen, bezahlt wird nach Gewicht.
Juan winkt Santiago zu, mit einer flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Handbewegung Santiago nickt. Wir sehen uns später.
In der Mensa der UNAN, der Universität von León, klappt Doctora Aragón ihren Laptop zu. Es ist kompliziert, die genaue Anzahl der Opfer herauszufinden und noch viel komplizierter ist es, die Ursachen für die vielen Nierenkranken zu erforschen. Im Grunde, gibt Doctora Aragón zu, tappen sie und Mervin González noch weitgehend im Dunklen.
"Wir glauben nicht, dass es die eine Ursache gibt. Bei den Fällen, die wir untersuchen, stoßen wir immer wieder auf Faktoren die den Ausbruch der Krankheit begünstigen: Armut, schlechte Ernährung, schwere körperlicher Arbeit bei großer Hitze, als Folge davon häufige Dehydrierung. Die Ernte beginnt mit dem großflächigen Abbrennen der Felder, so dass nur noch die Zuckerrohrstängel übrig bleiben – das erzeugt zusätzliche Hitze."
In den letzten Jahren haben sich viele Opfer zu – meist kurzlebigen – Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. Sie glauben, dass die Verseuchung des Grundwassers sie krank gemacht hat. Die Arbeitsmediziner können das aber nicht bestätigen. Etwas anderes gibt ihnen zu denken: Kuba ist nach offiziellen Angaben im Gegensatz zu den mittelamerikanischen Ländern nicht von der Epidemie betroffen. Auch dort wird Zuckerrohr angebaut, auch dort im heißen Küstenstreifen. Anders als in Nicaragua wird in Kuba maschinell geerntet – das dürfte eine Erklärung sein. Und es werden wegen des Handelsembargos keine US-amerikanischen Pflanzenschutzmittel gesprüht. Wissenschaftler in El Salvador erforschen diesen Zusammenhang – bislang allerdings ebenfalls ohne greifbare Ergebnisse.
Auch Doctora Aragón und Mervin González vermuten, dass der Boden verseucht ist. Baumwolle wurde hier bis in die 1950er Jahre angebaut, Unmengen an Chemikalien dafür verwendet. Auch Zuckerrohr wird mit Pflanzenschutzmitteln behandelt. Ist es ein Cocktail hochgiftiger Substanzen, der da im Boden schlummert?
"Wir würde gerne auf Metamidophos testen, ein Insektizid, das nach unseren Informationen bis heute verwendet wird. Aber es baut sich so schnell ab, dass man es kaum nachweisen kann. Und auf Herbizide wie Glyphosat und 2,4D. Aber dafür fehlen uns die geeigneten Laborbedingungen."
"Letztlich ist das eine Frage der Kosten. Für eine Bodenanalyse brauchen wir drei Proben, die Analyse jeder einzelnen Probe kostet umgerechnet 60 Euro. Bei der Größe des Gebiets und der Vielzahl der eingesetzten Mittel würde wahnsinnig teuer."
Für Doctora Aragón und Mervin González ist dies der eigentliche Skandal. Vom Staat bekommen sie kaum Unterstützung, auch nicht von der Pellasgruppe, dem größten Firmenkonsortium Nicaraguas. Der Pellasgruppe gehören Flor de Caña und über die Firma NSEL auch die Zuckerfabrik San Antonio. Sie betreibt eine Bank, einen Fernsehsender, einen Telefonprovider, sie ist Generalimporteur japanischer Auto und der einzige Hersteller von aus Zuckerrohr gewonnenem Biosprit im Land. Aber für epidemische Nierenerkrankungen auf ihren Plantagen fühlt sich die Firma nicht zuständig, weder für Forschung, noch für Prävention oder die Versorgung der Erkrankten. In León gibt es exakt 20 Dialyseplätze. Die Wartezeit für eine Behandlung beträgt aktuell über zwei Jahre – für viele Nierenkranke ist das zu lang. Wer etwas über den Einsatz von Pestiziden und Herbiziden wissen möchte, erfährt nichts. Eine Interviewanfrage bei NSEL wurde an Ariel Granera verwiesen, den Kommunikationsdirektor der Pellasgruppe – und von dort wieder zurück. Für Doctora Aragón ist das Alltag, vor allem seit NSEL dazu übergegangen ist, Zuckerrohrarbeiter über Subunternehmer zu beschäftigen.
"Bei diesen Beschäftigungsformen ist letztlich niemand für das Wohlergehen der Arbeiter verantwortlich. Ein Mann kommt zu mir, er hat einen Hitzschlag erlitten und deswegen seinen Job verloren. Ich frage in der Zuckerfabrik nach: 'Hat er bei euch gearbeitet?' Für uns nicht, heißt es, vielleicht für einen Subunternehmer. Also klappere ich die Subunternehmer ab. Wenn ich den richtigen gefunden habe, frage ich nach. Die Antwort lautet vielleicht: 'Wir haben den Mann doch nicht wegen der Krankheit entlassen, sondern weil er schlecht gearbeitet hat.' Oder er sagt, dass er Anweisungen bekommen hätte. Aber es gibt nie etwas Schriftliches."
Nachmittags um fünf im La Vista, auf Deutsch: die Aussicht, dem einzigen Hotel und Restaurant Chichigalpas. Im offenen Innenhof plätschert ein Springbrunnen, unter den zum Schutz gegen die Sonne weitheruntergezogen Schindeldächern surren Ventilatoren. Draußen auf der Hauptstraße schieben sich klapprige Lastwagen vorbei, vollgepackt mir Zuckerrohr, die Stängel abenteuerlich verzurrt. Das ist die Ernte des Tages von den entlegeneren Feldern, sagt Santiago der cortador, als er verspätet zur Verabredung kommt. Er wirkt erschöpft, bis vor einer Stunde hat er gearbeitet. Mehr als sein halbes Leben ist Santiago schon cortador. Angefangen hat er mit 15, sein leiblicher Vater war da schon ein paar Jahre tot und sein Stiefvater gerade an Niereninsuffizienz erkrankt. Seit die Krankheit vor vier Jahren auch bei ihm diagnostiziert wurde, arbeitet er über einen Subunternehmer auf den Zuckerrohrfeldern.
"In der prallen Sonne kannst Du gar nicht genug trinken"
"Was sollte ich machen? Ich hatte schon Familie und musste Geld verdienen, um sie zu ernähren. Ich bin cortador, von klein auf. Das ist harte Arbeit, die härteste überhaupt in der Zuckerfabrik San Antonio. Du fängst an, sobald die Sonne aufgeht und hörst auf, wenn es dunkel wird, manchmal noch später. Wenn du in dieser Hitze in der prallen Sonne arbeitest, kannst du gar nicht genug trinken. Die Leute kriegen einen Sonnenstich, ihnen wird schwindlig, sich müssen sich übergeben."
Santiago bestellt ein Bier und kippt es hastig hinunter. Natürlich hat er mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, La Isla zu verlassen. Nicht für sich selbst, sondern für seine Kinder, die beide Jungen, zwölf und sieben Jahre alt, und für die fünfjährige Tochter. Für ihre Zukunft, damit sie später nicht auch auf den Zuckerrohrfeldern arbeiten müssen. Aber am Ende aller Überlegungen hat er sich immer wieder fürs Bleiben entscheiden. Wie die meisten hier.
"Wir haben keine Alternative, wir müssen weiter arbeiten, auch wenn wir krank sind. Es gibt hier keine andere Arbeit. Niemand schafft Jobs, weder die Regierung, noch sonstige Institutionen, noch die Firma. Niemand kümmert sich um die Menschen in Chichigalpa."
Noch ein Bier. Santiago trinkt es wieder in einem Zug aus. Dann verabschiedet er sich. Eine Stunde möchte er vor dem Schlafengehen noch mit seiner Familie verbringen. In La Isla, seinem Dorf, das sie die Insel der Witwen nennen, weil die cortadores, die Männer dort, nicht alt werden. Santiago ist 32 Jahre alt. Morgen früh bei Sonnenaufgang wird er wieder Zuckerrohr schlagen.
Tom Noga: "Von der Reportagereise wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben das Gespräch mit Carlos Alberto, vor allem der Zustand, in dem der Mann war. Man sieht ihm an, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat. Und dann seine Frau daneben, die wegen derselben Krankheit bereits zwei Männer verloren hat, die für dieselbe Fabrik gearbeitet haben, und jetzt wird sie in einer sicher nicht allzu fernen Zukunft ihren dritten Mann verlieren."
Tom Noga
Tom Noga© privat
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