Die Journalistin Anna Sauerbrey leitet das Ressort Meinung/Causa des Berliner "Tagesspiegels" und ist Mitglied der Chefredaktion. Die promovierte Historikerin kam 2009 als Volontärin zu der Zeitung. Sauerbrey schreibt außerdem für die US-Tageszeitung "New York Times" eine monatliche Kolumne.
Genug der "Nachweltkriegsromantik"
Der Schriftsteller Robert Menasse bekommt die Carl-Zuckmayer-Medaille vom Land Rheinland-Pfalz. Für die Journalistin Anna Sauerbrey ist die Verleihung des Literaturpreises der Anlass, ein anderes, weniger emotionales Erzählen über Europa zu fordern.
Begleitet von anhaltender Kritik erhält der Wiener Schriftsteller Robert Menasse heute die Carl-Zuckmayer-Medaille von Rheinland-Pfalz. Die höchste kulturelle Auszeichnung des Bundeslandes übergibt Minsterpräsidentin Malu Dreyer (SPD) im Staatstheater Mainz. Dem Verfasser des 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans "Die Hauptstadt" wird ein falscher Umgang mit Zitaten und historischen Fakten vorgeworfen.
Falsche Zitate
So beschrieb Menasse als glühender Verfechter einer europäischen Republik nicht nur in seinem fiktionalen Werk "Die Hauptstadt", sondern auch in zahlreichen Essays und Vorträgen eine Rede von Hallstein in Auschwitz, die es nie gegeben hatte, und legte dem deutschen Europa-Politikers Walter Hallstein (1901–1982) Sätze in den Mund, die dieser nie gesagt hatte. Seither wurde der Fall sehr kontrovers diskutiert. Dreyer entschied sich dennoch an der Ehrung mit dem Literaturpreis festzuhalten.
Das Buch "Die Hauptstadt" sei ein großartiger Roman, sagte die Tagesspiegel-Journalistin Anna Sauerbrey im Deutschlandfunk Kultur. Trotzdem müsse man als Publizist sauber arbeiten. "Da geht es natürlich nicht, dass man Zitate verwendet und auch immer wieder recycelt, ohne eigentlich zu wissen, wo sie herkommen, weil sie in das eigene Begründungsgerüst gut reinpassen", sagte Sauerbrey.
Arbeit mit Versatzstücken
Das größere Problem, das dieser Menasse-Debatte zugrunde liege, sei vermutlich, dass das ganze europäische Narrativ sich sehr stark aus der großen Erzählung vom Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg speise. Die Politologin Ulrike Guérot, die mit Menasse eng zusammen arbeitet, habe in einem taz-Interview darauf aufmerksam gemacht, dass man als Autor bei den vielen Texten und Vorträgen oft mit Versatzstücken arbeite, wie aus einem Zettelkasten. Dabei könnten sich Fehler einschleichen.
Weniger EU-Lyrik
"Aber genau das ist das Problem", sagte Sauerbrey. Es gebe eine Art Bausatz, aus dem sich alle großen europäischen Reden der vergangenen Jahre bedienten. Ihrer Meinung nach sollte man von dieser großen Erzählung abrücken. Statt immer von der EU als großem Friedensprojekt zu sprechen, wäre mehr Orientierung an der Praxis gut. Die Europäische Ausrichtung sei notwendiger denn je, aber sie werde zu stark mit "Nachweltkriegsromantik der großen Friedens- und Liebesgemeinschaft" überschüttet
Mehrwert statt Liebe
Sie frage sich, ob man den Staatenbund, in dem man lebe, eigentlich lieben müsse, sagte Sauerbrey. "Das ist schon die Prämisse, die ich nicht teilen würde." Stattdessen sollte die Union funktionieren und für die Bürger einen Mehrwert haben. Sauerbrey wandte sich dagegen, die emotionale Ebene und den europäischen Patriotismus zu stark zu betonen, wie es auch Guérot und Menasse täten. Gebraucht würden in Europa mehr Zusammenhalt, eine stärkere europäische Außenpolitik und ein ernst zunehmenden militärischen Auftritt. (gem)