Zügele deine Paranoia!
Von Cäsar bis John Lennon, von der Bombe gegen Hitler bis zum 11. September: Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider philosophiert über Attentate und öffentliche Morde, über den Furor der Täter und die wahnhafte Reaktion der Gesellschaft darauf.
Zu den tragischen Zügen der Gegenwart gehört, dass Attentate etwas Alltägliches haben. Es knallt nicht jeden Tag, aber jeden Tag könnte es passieren, in Afghanistan, im Irak, in den Städten der westlichen Welt, in der U-Bahn oder im Gymnasium.
Wie lässt sich damit leben, ohne verrückt zu werden? Auf den 700 Seiten, die Manfred Schneider über "Das Attentat" verfasst hat, finden sich keine Ratschläge. Aber der Bochumer Literaturwissenschaftler bettet das öffentliche Morden in eine Geschichte und in eine Theorie ein – und hilft so, etwas zu verstehen, ohne die Bedrohung zu verdrängen, kleinzureden oder zu übertreiben.
Auf den ersten Blick berichtet dieses Buch wahre Geschichten aus zwei Jahrtausenden. Alles beginnt mit den Iden des März 44 vor Christus., als Caesar im römischen Senat mit 23 Dolchstichen niedergestreckt wurde. Der erste Tyrannenmord war auch ein Familiendrama. Caesars leiblicher Sohn Brutus führte die Verschwörer an. Und weil der politische Mord am "Vater des Vaterlandes" eine historische Wirkungsmacht entfaltete wie kein zweiter, kann Schneider formulieren: Die Attentäter der Geschichte sind "Nachfahren des Brutus", "Söhne Caesars".
Besonders augenfällig wird dies bei den Anschlägen auf Napoleon, der selbst cäsarische Züge trug. Der Mörder Abraham Lincolns wiederum, nachdem er in einer Theaterloge seine Pistole abgedrückt hatte, stilisierte sich zum Brutus, der Amerika vor Lincolns Krönung zum König bewahrt habe.
Manfred Schneider beschreibt, wie der revolutionäre Hassprediger Jean-Paul Marat 1793 in der Badewanne erstochen wurde. Er setzt ein Denkmal für Georg Elser, der nach einsamer Vorbereitung im November 1939 eine Bombe gegen Hitler zündete. Er erzählt von den Schüssen auf Andy Warhol 1963, John Lennon 1980, Ronald Reagan 1981, von den Ereignissen des 11. September 2001.
Kaum ein öffentlicher Mord der abendländischen Geschichte fehlt, und doch handelt es sich nicht um herkömmliche Historiographie. Denn Schneider verwebt seine Fallgeschichten mit Thesen, die sich zu einer allgemeinen, wenn auch bruchstückhaften Theorie des Attentats fügen. Beispielsweise verkörpert der Attentäter die Kontingenz – das nicht Notwendige, Unvorhersehbare – der Geschichte, die jede Politik zu verdrängen sucht. Und jedes Attentat hat etwas Bilderstürmerisches, indem es sich gegen den Cäsarenkult oder die Symbolhaftigkeit der Türme von New York auflehnt.
Der eigentliche Ehrgeiz dieses großen Buches aber steckt im Untertitel: "Kritik der paranoischen Vernunft". Bei Kant findet Manfred Schneider ein Verständnis von Paranoia (vulgo: Verfolgungswahn), das diese nicht einfach als Unvernunft abtut, sondern in ihr eine Überfunktion erkennt: Sie folgt den Gesetzen der Logik, bezieht aber die Zeichen der Welt fiebrig, in ungünstiger Weise auf sich selbst. Eine rasende Vernunft.
Genau dies ist die Lage des Attentäters. Griff Cäsar tatsächlich nach der totalen Alleinherrschaft, wie Brutus meinte? Lee Harvey Oswald, der Mörder John F. Kennedys, sah lauter Parallelen zwischen sich selbst und seinem Opfer: Beide liebten Bücher, beide litten unter Leseschwäche, beide hatten einen Bruder namens Robert, und sicher würde er, Oswald, in 20 Jahren Präsident sein.
Die Haltung der Attentat-Interpreten ist ähnlich paranoisch wie die des Täters: "Wir wissen nicht, warum Oswald Kennedy ermordet hat", hält Schneider lakonisch fest. Und doch folgt dem 16-bändigen Bericht der JFK-Untersuchungskommission, dieser "amerikanischen Ilias", eine nicht enden wollende Unmasse von Spekulationen, was wohl eigentlich dahinter gesteckt haben mag.
Paranoia prägt schließlich auch das Gegenüber des Attentäters. Als im November 2004 der holländische Regisseur Theo van Gogh umgebracht wurde, machte sich die Öffentlichkeit ein eindeutiges Bild von seinem Mörder. Sie sah in ihm nicht den irregeleiteten, todessehnsüchtigen Einwanderersohn, der voll und ganz in der niederländischen Kultur geprägt war. "Die Öffentlichkeit wollte lieber glauben, dass jetzt ein Krieg zwischen der muslimischen Gemeinschaft und der liberalen Gesellschaft ausgebrochen sei, der die gesamte Freiheit, die Offenheit und die Kultur der Niederlande mit einem Schlag beseitigte." Dem "Wahn der bewaffneten Hand" entspricht ein "Wahn der Geheimdienste".
Den unausgesprochenen Imperativ dieser umsichtigen, gelehrten, eleganten, anregenden Studie könnte man so zusammenfassen: Zügele deine Paranoia, auch wenn sie unausweichlich ist.
Besprochen von René Aguigah
Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft
Matthes & Seitz, Berlin 2010
767 Seiten, 39,90 Euro
Wie lässt sich damit leben, ohne verrückt zu werden? Auf den 700 Seiten, die Manfred Schneider über "Das Attentat" verfasst hat, finden sich keine Ratschläge. Aber der Bochumer Literaturwissenschaftler bettet das öffentliche Morden in eine Geschichte und in eine Theorie ein – und hilft so, etwas zu verstehen, ohne die Bedrohung zu verdrängen, kleinzureden oder zu übertreiben.
Auf den ersten Blick berichtet dieses Buch wahre Geschichten aus zwei Jahrtausenden. Alles beginnt mit den Iden des März 44 vor Christus., als Caesar im römischen Senat mit 23 Dolchstichen niedergestreckt wurde. Der erste Tyrannenmord war auch ein Familiendrama. Caesars leiblicher Sohn Brutus führte die Verschwörer an. Und weil der politische Mord am "Vater des Vaterlandes" eine historische Wirkungsmacht entfaltete wie kein zweiter, kann Schneider formulieren: Die Attentäter der Geschichte sind "Nachfahren des Brutus", "Söhne Caesars".
Besonders augenfällig wird dies bei den Anschlägen auf Napoleon, der selbst cäsarische Züge trug. Der Mörder Abraham Lincolns wiederum, nachdem er in einer Theaterloge seine Pistole abgedrückt hatte, stilisierte sich zum Brutus, der Amerika vor Lincolns Krönung zum König bewahrt habe.
Manfred Schneider beschreibt, wie der revolutionäre Hassprediger Jean-Paul Marat 1793 in der Badewanne erstochen wurde. Er setzt ein Denkmal für Georg Elser, der nach einsamer Vorbereitung im November 1939 eine Bombe gegen Hitler zündete. Er erzählt von den Schüssen auf Andy Warhol 1963, John Lennon 1980, Ronald Reagan 1981, von den Ereignissen des 11. September 2001.
Kaum ein öffentlicher Mord der abendländischen Geschichte fehlt, und doch handelt es sich nicht um herkömmliche Historiographie. Denn Schneider verwebt seine Fallgeschichten mit Thesen, die sich zu einer allgemeinen, wenn auch bruchstückhaften Theorie des Attentats fügen. Beispielsweise verkörpert der Attentäter die Kontingenz – das nicht Notwendige, Unvorhersehbare – der Geschichte, die jede Politik zu verdrängen sucht. Und jedes Attentat hat etwas Bilderstürmerisches, indem es sich gegen den Cäsarenkult oder die Symbolhaftigkeit der Türme von New York auflehnt.
Der eigentliche Ehrgeiz dieses großen Buches aber steckt im Untertitel: "Kritik der paranoischen Vernunft". Bei Kant findet Manfred Schneider ein Verständnis von Paranoia (vulgo: Verfolgungswahn), das diese nicht einfach als Unvernunft abtut, sondern in ihr eine Überfunktion erkennt: Sie folgt den Gesetzen der Logik, bezieht aber die Zeichen der Welt fiebrig, in ungünstiger Weise auf sich selbst. Eine rasende Vernunft.
Genau dies ist die Lage des Attentäters. Griff Cäsar tatsächlich nach der totalen Alleinherrschaft, wie Brutus meinte? Lee Harvey Oswald, der Mörder John F. Kennedys, sah lauter Parallelen zwischen sich selbst und seinem Opfer: Beide liebten Bücher, beide litten unter Leseschwäche, beide hatten einen Bruder namens Robert, und sicher würde er, Oswald, in 20 Jahren Präsident sein.
Die Haltung der Attentat-Interpreten ist ähnlich paranoisch wie die des Täters: "Wir wissen nicht, warum Oswald Kennedy ermordet hat", hält Schneider lakonisch fest. Und doch folgt dem 16-bändigen Bericht der JFK-Untersuchungskommission, dieser "amerikanischen Ilias", eine nicht enden wollende Unmasse von Spekulationen, was wohl eigentlich dahinter gesteckt haben mag.
Paranoia prägt schließlich auch das Gegenüber des Attentäters. Als im November 2004 der holländische Regisseur Theo van Gogh umgebracht wurde, machte sich die Öffentlichkeit ein eindeutiges Bild von seinem Mörder. Sie sah in ihm nicht den irregeleiteten, todessehnsüchtigen Einwanderersohn, der voll und ganz in der niederländischen Kultur geprägt war. "Die Öffentlichkeit wollte lieber glauben, dass jetzt ein Krieg zwischen der muslimischen Gemeinschaft und der liberalen Gesellschaft ausgebrochen sei, der die gesamte Freiheit, die Offenheit und die Kultur der Niederlande mit einem Schlag beseitigte." Dem "Wahn der bewaffneten Hand" entspricht ein "Wahn der Geheimdienste".
Den unausgesprochenen Imperativ dieser umsichtigen, gelehrten, eleganten, anregenden Studie könnte man so zusammenfassen: Zügele deine Paranoia, auch wenn sie unausweichlich ist.
Besprochen von René Aguigah
Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft
Matthes & Seitz, Berlin 2010
767 Seiten, 39,90 Euro