Zünglein an der Waage?

Die Wahlentscheider in Rheinland-Pfalz

Der rheinland-pfälzische Landtag in Mainz
Der rheinland-pfälzische Landtag in Mainz © picture alliance / dpa
Von Anke Petermann |
FDP, Linke und AfD haben Chancen, in den Mainzer Landtag einzuziehen. Doch wenn aus dem bisherigen Drei-Parteien-Parlament eines mit sechs Parteien wird, geht fast nur noch die Große Koalition. Die Außenseiter könnten daher das politische Schicksal im Land beeinflussen.
Zu Beginn des Wahlkampf-Abends der "Alternative für Deutschland" sitzt der Mittsiebziger Joachim Racky noch allein an einem der langen Tische im Bürgerhaus Mainz-Finthen.
"Wir bitten Sie, den Eingangsbereich freizuhalten, damit die Besucher der Veranstaltung hier durchgehen können."
Davor drängen sich die Gegendemonstranten und machen es den AfD-Anhängern trotz polizeilicher Ermahnung schwer, den Saal zu erreichen. Mit dem zu erwartenden Gerede der AfD-Führung von "Asylchaos" und "Asylmissbrauch" sei dort Hetze programmiert, meinen Demonstranten wie der Alzeyer Gewerkschafter Ulrich Feuerhelm.
"Diese Parolen sind geistige Brandstiftung, und die Brandstiftung folgt auf dem Fuße. Deswegen muss man dagegen demonstrieren. Von Anfang an. Nach 1945 haben auch viele gesagt, wenn wir das gewusst hätten, hätten wir was getan. Es ist jetzt Zeit. Wir müssen jetzt was tun."
Drinnen im Saal beißt Joachim Racky in eine Brezel und blättert das AfD-Wahlprogramm durch. Er ist kein Partei-Mitglied und auch kein glühender Anhänger der Rechtspopulisten, eher ein Interessent. Mit seinem handgestrickten Schal in schrägen Pastelltönen würde der gemütlich wirkende Senior gut auf jede Grünen-Versammlung passen. Und mit einem Grünen hat Racky durchaus etwas gemeinsam.
"Ich bin, sagen wir mal so, ein klassischer Wähler der Mittelschicht."
Das ist aber auch schon alles an Gemeinsamkeiten. Vor sich auf den Tisch hat Racky eine Deutschlandfahne gelegt.
"Ich bin entschieden der Meinung, eine Million Zuwanderer sind zu viel, zumal viele ja danach auf Harzt IV gehen, das wird unser Sozialkassen zu stark belasten. Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber …"
Deutsche Frauen könnten sich nicht mehr sicher fühlen, meint Joachim Racky mit Blick auf die Übergriffe in der Silvesternacht. Der Rentner sucht politische Orientierung - bei Alexander Gauland, dem AfD-Bundesvize im Tweed-Sakko und bei Landeschef Uwe Junge, dem Afghanistan-erprobten Oberstleutnant mit Schnäuzer und stahlblauen Augen. Für seinen abendlichen Ausflug zur AfD-Wahlkundgebung riskiert Racky zuhause den Familienfrieden.
"Meine Frau arbeitet in Budenheim im Flüchtlingshelferkreis mit. Mit 25 Leuten – in Budenheim sind 100 Migranten, und die werden von denen betreut. Meine Frau ist dagegen, dass ich hierher gehe. Sie ist selbst aus dem Osten geflüchtet, also damals von Ost-Berlin nach Westen und sie lehnt das ab. Aber ..."
... eine Ehekrise befürchtet der Pensionär deshalb nicht.
"Meine Frau ist Mitte links und ich bin Mitte rechts, und wir sind schon seit 23 Jahren zusammen."

AfD-Bundesvize Gauland will Grenzen dicht machen

Die Alternative für Deutschland subsummiert Racky noch unter "Mitte rechts", während andere sie als national-konservativ, rechtspopulistisch und immer häufiger sogar als rechtsextremistisch durchsetzt bezeichnen. Den Senior aus Budenheim nördlich von Mainz irritiert das nicht. Inzwischen sitzt er nicht mehr allein am Tisch. Die 300 Plätze im Saal reichen kaum. Racky applaudiert, als AfD-Bundesvize Gauland fordert, die Grenzen dicht zu machen, und auch, als Landeschef Junge Bundeskanzlerin Merkel als "Verräterin" schmäht. Beide Frontmänner waren mal Christdemokraten. Doch die CDU mit Julia Klöckner an der Spitze hat ausgeschlossen, mit ihren ehemaligen Parteifreunden, jetzt AfD, zu koalieren. Über ihr Wahlziel sind sich Gauland und Junge einig.
Gauland: "Wenn wir selber nicht regieren können, dann sage ich aber ganz offen, ist mir Frau Klöckner lieber als Frau Dreyer."
Junge: "Ja, natürlich: Als bürgerlich-konservative Partei haben wir natürlich großes Interesse daran, dass diese Land nicht mehr SPD-geführt regiert wird. Wie es dann ausgeht, werden wir am 13. März abends sehen. Aber sicherlich ist eines der Wahlziele der AfD, die SPD von der Regierungsbank runterzuholen."
Und die Grünen gleich mit. Ob er die AfD wählt, hält sich Joachim Racky offen. Wenn die junge Partei, wie derzeit prognostiziert, mit neun Prozent der Stimmen in den Mainzer Landtag einzöge, würde sie tatsächlich einen Regierungswechsel bewirken. Genau das wäre dem Rentner Recht.
"Das wünsche ich mir, keine SPD-geführte Landesregierung mehr. Die jetzige Dame kann nichts dafür. Mir ist die Dreyer an und für sich nicht unsympathisch. Den Unfug hat der König Kurt gemacht vorher. Von dem hält sie jetzt gar nichts mehr. Aber die Schulden, die er gemacht hat, die müssen wir bezahlen."
Die "sympathische Dame" Dreyer findet die AfD allerdings mehr als unsympathisch, bekennt sie auf dem SPD-Parteitag:
"Eine Partei, die Homosexuelle zählen lassen will, eine Partei, die uns als linke Gesinnungsterroristen bezeichnet, eine Partei, die es für legitim hält, an der Grenze auf Flüchtlinge zu schießen, eine solche Partei darf es bei uns in Rheinland-Pfalz nicht in den Landtag schaffen!"
Doch in den Umfragen hat die AfD Dreyers grünen Koalitionspartner inzwischen auf Platz vier geschoben. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin und SPD-Spitzenkandidatin gilt auch im Wahlkampf eher als Frau der leisen Töne. Warum sie ihre übliche Zurückhaltung ablegt, wenn es um die Rechtspopulisten geht, die potentiell drittstärkste Kraft im Mainzer Landtag nach CDU und SPD?
"Ich möchte nicht, dass eine Partei, die so intolerant ist, teilweise rassistisch ist, dass die Bürger und Bürgerinnen ihnen auf den Leim gehen. Sondern dass wir weiter ein offenes Land bleiben. Und wir stimmen am 13. März auch über die Frage ab, bleiben wir ein offenes Land, ein Land, das Zusammenhalt kennt oder verändern wir uns auch vom Charakter her."
Genau das ist die Absicht der AfD, betont deren stellvertretender Bundesvorsitzender Alexander Gauland.
"Ja, wir möchten, und das ist die wichtigste Aufgabe, die wir haben, dass die Parteien endlich in dieser Flüchtlingspolitik etwas sachlich Sinnvolles tun. Und indem wir ununterbrochen darauf aufmerksam machen, treiben wir sie vor uns her, und das ist gut."
Aus Sicht der AfD lässt sich die Union mit ihrer verunsicherten Wählerschaft gut treiben – nach rechts nämlich.
Genau in die andere Richtung steuert eine weitere Partei, die Aussicht hat, in den Mainzer Landtag einzuziehen, wenn auch nur sehr knapp: die Linke. Programmatisch hat sie maximale Distanz zur AfD. Doch zumindest ein Teil der Wähler beider Parteien hat etwas gemeinsam: den Eindruck nämlich, von der Großen Koalition in Berlin und Rot-Grün in Mainz an den Rand gedrängt zu werden. Elke Friedemann ist Busfahrerin in Koblenz. Jeans und Kurzhaarschnitt, ein resoluter Typ. Die Verdi-Gewerkschafterin ist soeben erst der Linkspartei beigetreten. An diesem Abend trifft sie sich mit Parteifreunden im Keller einer Koblenzer Kneipe. Die soziale Abwärtsspirale empört sie – mit Blick auf den eigenen Beruf und die Gesellschaft.
"Die Busfahrer, da sind wir ziemlich im Hintertreffen und werden von den anderen Parteien belächelt und im Stich gelassen, denn der Lohn wird immer weiter nach unten geschraubt, und für die Arbeit, die wir leisten tagtäglich – wirst du nicht mehr satt von der Arbeit."
Tatsächlich können Busfahrer im Rhein-Main-Ballungsraum kaum noch eine Wohnung auf dem regulären Markt bezahlen. Der Zuzug von Flüchtlingen verschärft das Problem. Doch anders als die AfD machen Linkspartei-Anhänger nicht die Geflüchteten verantwortlich für die Misere, sondern die "neoliberale" Politik der Parteien rechts von ihnen samt Umverteilung von unten nach oben. Jetzt legen die regierenden Sozialdemokraten Förderprogramme für sozialen Wohnungsbau auf, wollen genossenschaftliche Projekte unterstützen und Planungsverfahren beschleunigen. Zu spät, meint Elke Friedemann. Die Busfahrerin fürchtet, dass das Freihandelsabkommen TTIP, das auch die Sozialdemokraten verhandeln wollen, den öffentlichen Sektor und damit ihren kommunalen Arbeitgeber weiter schwächt.
"Und das ist alles eine Mogelpackung und ein Wischi-Waschi da, und das kann man sich nicht mehr mit anhören und angucken."
Ungewohnt scharfe Töne in Rheinland-Pfalz. Das hatte Ministerpräsidentin Malu Dreyer doch zum sozialdemokratischen "Wohlfühlland" formen wollen, mit sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt als Markenzeichen. Nicht eingelöste Versprechen, konstatiert Jochen Bülow, Spitzenkandidat der Linkspartei, mit Blick unter anderem auf den "Aktionsplan Armut" der Regierung. Den betrachtet der Ex-Journalist und Berufspolitiker als Rohrkrepierer:
"Die Armut wächst, die Armut trotz Arbeit wächst, wir haben Wohnungsnot. Wir haben an vielen Stellen eine völlige Diskrepanz zwischen dem, was man tun wollte und dem, was eingetreten ist, und insofern: von Wohlfühlland kann an der Stelle, glaube ich, keine Rede sein."
Doch wer links wählt, schwächt indirekt die Chance auf Rot-Grün. Weil die Linkspartei nicht mit der SPD und die SPD nicht mit der Linkspartei regieren will, ist Rot-Rot-Grün auch keine Alternative. Riskiert also, wer links wählt, den Regierungswechsel zur CDU mit Julia Klöckner? Janine Wissler, Linken-Fraktionschefin im Wiesbadener Landtag, wehrt ab.
"Na ja, aus Hessen wissen wir ja, dass zweimal über eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit verhandelt wurde und es zweimal nicht an der Linken gescheitert ist. Beim ersten Mal eben an der SPD. Beim zweiten Mal haben sich dann die Grünen entschieden, mit der CDU zu regieren. Also von daher glaube ich, umgekehrt wird ein Schuh draus: nur wer die Linke wählt, kann sich sehr sicher sein, dass die Stimme auf Umwegen nicht doch bei Frau Klöckner und der CDU landet, bei SPD und Grünen kann man ja nie sicher sein, ob sie nicht am Ende doch mit der CDU regieren."

Jubel bei der Linkspartei

Der Kaiserslauterer Bundestagsabgeordnete Alexander Ulrich bittet die Hessin auf die Bühne des Koblenzer Kneipenkellers. Zitterpartien um den Einzug in den Landtag hat die Mittdreißigerin, der viele zutrauen, Sarah Wagenknecht als Bundes-Vize nachzufolgen, nicht nur einmal erlebt.
Wissler: "Dreimal."
Ulrich: "Dreimal sogar. Und sie weiß, dass man bis zur letzten Minute kämpfen muss, manchmal noch nachts bis halb eins."
Wissler: "Halb drei."
Ulrich: "Halb drei warten muss. Wahrscheinlich hab‘ ich am Fernseher dann irgendwann mal geschlafen. Ich kann mich gut daran erinnern, als die 5,1 Prozent dann irgendwann mal klar waren."
Erstmal Jubel bei der Linkspartei. Dann Ernüchterung, als sukzessive klar wurde, dass die Grünen mit Tarek Al-Wazir doch mit dem einstigen christdemokratischen Erzfeind Volker Bouffier paktieren würden. Im benachbarten Rheinland-Pfalz will die Linke nun endlich mit der West-Ausdehnung vorankommen. Von der außer- zur innerparlamentarischen Opposition aufzusteigen, ist das Ziel. Das Schmuddelkind-Image, das der Partei hier im tiefen Westen noch anhaftet, begreift die resolute Busfahrerin Elke Friedemann eher als Herausforderung, die zusammenschweißt.
"Also, man muss schon dann durch und sagen: "Ich steh dazu." Und ich steh‘ dazu, ich bin dabei!"
Die Liberalen haben der Linkspartei und der AfD etwas voraus: Sie sind die einzigen der drei Außerparlamentarischen, die Parlaments- und Regierungserfahrung in Rheinland-Pfalz haben. Die goldenen Jahre der Liberalen sind verbunden vor allem mit einer Figur, einer barocken.
Rainer Brüderle: "Selbst ich bin nicht völlig frei von Eitelkeit!" (Lachen)
Der Ehrenvorsitzende Rainer Brüderle, über Jahrzehnte hinweg das Gesicht der rheinland-pfälzischen FDP. Vor knapp einem Jahr beendete er seine Politkarriere, wurde zum ehrenamtlichen Chef des Bundes der Steuerzahlers gewählt und kündigte an, im Wahlkampf zu schweigen. Die FDP werde in den Landtag einziehen, prognostizierte der 70-Jährige damals: Weil es eine Partei geben müsse ...
"... die primär marktwirtschaftlich-freiheitlich orientiert ist. Das ist einfach eine Komponente, die in der Vielfalt der Geisteshaltungen dazu gehört."
Der frühere Bundeswirtschaftsminister war Ressortchef in vier Landesregierungen. Denen von Bernhard Vogel und Carl-Ludwig-Wagner, beide CDU. Denen von Rudolf Scharping und Kurt Beck, beide SPD. Brüderle: flexibel und wendig. Anfang der 90er-Jahre blinkte der Pfälzer zunächst rechts, mit einer Koalitionsaussage zugunsten der CDU. Dann bog er links ab und etablierte gemeinsam mit Kurt Beck eine sozialliberale Landesregierung. Die überdauerte seinen Weggang nach Berlin. Seine FDP trug den Schwenk geschlossen mit, für Schwarz-Gelb hätte es 1991 nicht gereicht. So legte die FDP mit das Fundament für ein Vierteljahrhundert Sozialdemokratie. Nur dass die Liberalen selbst 2011 aus dem Mainzer Landtag flogen und die Grünen mit ihrem Wiedereinzug zum Koalitionspartner der SPD avancierten.
In der Mini-Küche des neonbeleuchteten Andernacher Bootshauses, direkt am Rhein gelegen, schichtet Judith Lehnigk-Emden Laugenbrezeln und Brötchen auf Teller mit blauen, gelben und magentafarbenen Servietten. Alles genau abgestimmt auf die neue Farbgebung der FDP.
"Ja, das Magenta hab' ich jetzt neuerdings dazu – wobei - die Bluse hab' ich schon ein paar Jahre, muss ich jetzt dazu sagen."
Die weiße Bluse mit den blau-gelben Streifen. Selbst die Primeln auf den Stehtischen beteiligt die Stadträtin am liberalen Wahlkampf: sie leuchten in blau, gelb und rosa. Wie die Plakatwand im kleinen Bootshaus-Saal. Dort steht in großen Lettern: "Jeder Einzelne hat es in der Hand – Chance, Veränderung, Aufbruch". In der Mini-Küche hat Judith Lehnigk-Emden das Gelingen des Abends offensichtlich allein in der Hand, Verpflegung, Getränke, Deko, Begrüßung der Gäste – alles ihr Job.
"Meine Mutter war Hauswirtschaftslehrerin, ich kenn's auch nicht viel anders von zuhause. Und bei uns ist halt im Moment so’n bisschen Erkrankung das Problem im Vorstand. Es sind immer dieselben, die helfen. Das ist wie in jedem Verein. Das ist also in der Politik nicht anders als beim Kaninchenzüchterverein – da sind es auch immer die gleichen, die das Kuchenbuffet machen."

FDP will Verschuldung in Rheinland-Pfalz drücken

Die Andernacher Stadträtin seufzt und verteilt die Teller mit Mini-Frikadellen auf den Stehtischen. Die Liberalen im Kreis Mayen-Koblenz haben alle Bürger zum verspäteten Neujahrsempfang mit Häppchen geladen - etwa drei Dutzend kommen, sie wollen dem Spitzenkandidaten für die Landtagswahl lauschen. Doch der Rechtsanwalt, ehemalige Bundestagsabgeordnete und langjährige Brüderle-Stellvertreter an der Spitze der FDP Rheinland-Pfalz, hat nach acht Wahlkampf-Terminen an diesem Tag Verspätung angehäuft und lässt auf sich warten. Als Volker Wissing eintrifft, wollen die beiden Journalisten vom örtlichen Offenen Kanal sofort ein Interview aufzeichnen. Kein Problem für den schmächtigen Mann im schwarzen Anzug. Auch beim neunten Termin des 14-Stunden-Tags ist der Polit-Profi voll konzentriert. Hobby-Moderator Alfred Anders blickt in die Kamera.
"Ja, herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu dem heutigen Politik Aktuell. Politik Aktuell heute aus dem Bootshaus in Andernach. Bei mir ist der Landesvorsitzende der FDP Rheinland-Pfalz, Dr. Volker Wissing. Sie waren im Bundestag der finanzpolitische Sprecher Ihrer Fraktion, und auch heute machen Sie noch viele Aussagen zu bundes- und landespolitischen Themen."
Da liegt die Frage nahe, wie die FDP die hohe Verschuldung in Rheinland-Pfalz drücken will.
Wissing: "Es wäre sinnvoll, sich auf das Investieren in Infrastruktur, aber auch in Bildung zu konzentrieren. Der Staat muss wieder seine Kernaufgaben wahrnehmen,, und dafür hat er genügend Geld, wenn er den Unsinn lässt. Wir brauchen beispielsweise in Rheinland-Pfalz keine Energieagentur. Der Staat muss weder Freizeitparks, noch Hotels noch Achterbahnen bauen."
Ein Seitenhieb auf sozialdemokratische Subventions-Sünden der Ära Beck: Millionen für die Sanierung des Schlosshotels in Bad Bergzabern und für den Nürburgring-Freizeitpark samt eingemotteter Achterbahn, gefolgt von Insolvenzen. Judith Lehnigk-Emden nickt. Mit Beginn des offiziellen Teils hat die Andernacher Stadträtin einen magentafarbenen Blazer über die blau-gelb gestreifte Bluse gezogen. Als Mutter von drei Kindern ist die gelernte Bankkauffrau und frühere Chefsekretärin derzeit mit Familienarbeit und ehrenamtlicher Kommunalpolitik ausgelastet. Gut findet sie, dass ihre Partei und deren Frontmann Wissing einen Schwerpunkt auf kostenfreie frühkindliche Bildung legen.
Lehnigk-Emden: "Bildung ist Bürgerrecht und darf eigentlich nichts kosten."
Wissing: "Wenn Bildung als Bürgerrecht verstanden wird, kommt man zwangsläufig zu diesem Ergebnis. Wir wissen, dass die entscheidenden Bildungsjahre eines Menschen die Lebensjahre drei bis sechs sind. Und es macht doch keinen Sinn zu sagen, in den entscheidenden Bildungsjahren nehmen wir Gebühren und ab der ersten Klasse nehmen wir keine mehr."
Kita-Gebühren planen jedoch die rheinland-pfälzischen Christdemokraten. Sie würden gern mit den Liberalen koalieren, wenn es dazu reicht. Die FDP legt sich nicht fest und scheint beim Thema gebührenfreie Bildung näher bei den Sozialdemokraten, in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik näher bei den Christdemokraten. Wendig sind die Liberalen vermutlich immer noch - wie zu Brüderles Zeiten.
Von der FDP im Andernacher Bootshaus zurück zur AfD im Bürgerhaus Mainz-Finthen. Und zu Joachim Racky, dem Rentner, dessen Ehefrau die "Alternative für Deutschland" ablehnt. Und der dennoch bei dieser Partei politische Orientierung sucht, zum Beispiel in der Frage, wie er als Deutscher seine nationale Identität bewahren kann. Apropos: Racky mit ck und y – ist das eigentlich ein deutscher Name?
"Die Vorfahren Racky, das waren Hugenotten, die sind über Frankreich ausge…, äh geflüchtet, also auch Flüchtlinge - und sind dann über Frankreich, da war wieder Glaubenskrieg, sind dann hier nach Deutschland gekommen."
Rackys Vorfahren: protestantische Glaubensflüchtlinge. Seine Ehefrau betreut ehrenamtlich Asylbewerber. Wäre der Mann mit dem pastellfarbenen Strickschal nicht besser bei einem Treffen der Budenheimer Flüchtlingshilfe aufgehoben? Joachim Racky lächelt.
"Es würde vielleicht meinen Blickwinkel, der vielleicht ein bisschen Scheuklappen hat, den zu ändern. Das wär' vielleicht …"
"Interessant" setzt er nach einer Pause hinzu. Dreimal "vielleicht" in zwei kurzen Sätzen: Ob der Mittsiebziger wirklich erwägt, die Scheuklappen abzunehmen und sich wie seine Frau auf das Abenteuer offene Gesellschaft einzulassen? Die Deutschland-Fahne steckt sich der Senior am Ende der AfD-Kundgebung umgekehrt in die Jackentasche. Seine Stimme hat Racky den Rechtspopulisten noch nicht versprochen – sie ist weiterhin zu haben. Vielleicht.
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