Zufall und Schicksal
Eine ukrainische Studentin, ein schwer kranker Deutscher und ein portugiesischer Polizist: Eigentlich haben diese Figuren nichts miteinander zu tun - und doch laufen ihre Geschichten zielstrebig aufeinander zu. Norbert Zähringer erkundet dabei das Spiel von Zufall und Notwendigkeit.
Die eine Geschichte beginnt in der Ukraine, die andere in Portugal. Und auch wenn die Handlungsketten zunächst nichts miteinander zu tun haben, laufen sie zielstrebig aufeinander zu. Norbert Zähringer ist in seinen Romanen stets dem Spiel von Zufall und Notwendigkeit auf der Spur. Er will wissen, ob es tatsächlich so etwas wie "Schicksal" gibt, oder ob das, was wir "Biografie" nennen, eher eine erzählerische Konvention ist: die Kunst, Unzusammengehöriges zusammenzufügen, sodass daraus eine Geschichte entsteht.
In "Bis zum Ende der Welt" genügen ihm drei Figuren, um dieses Experiment in Gang zu setzen. Da ist zunächst die ukrainische Studentin Anna, die ihrem brutalen Vater und seinen Saufkumpanen entkommen möchte. Sie wendet sich an eine Partnerschaftsagentur, die sie an einen älteren Deutschen vermittelt. Gerhard Laska holt sie in sein Haus nach Berlin-Kladow. Er ist ein Hobby-Astronom, der sich nichts sehnlicher wünscht, als einen unbekannten Kometen zu entdecken. Nach einigen Wochen gesteht er ihr, schwer krank zu sein, er habe nur noch ein halbes Jahr zu leben. Er bietet ihr 20.000 Euro, wenn sie bis zum Ende bei ihm bleibt und ihn nach Portugal begleitet, wo er ein Haus besitzt.
Kurz vor der Mitte des Romans taucht dann plötzlich eine dritte Figur auf, völlig unverbunden mit dem bisherigen Handlungsstrang. Lange bevor Laska und Anna in Portugal eintreffen, wird die Geschichte des portugiesischen Polizisten Yuri Fernao Gouvea aufgerollt, der einst als Sohn des mit einem Mokick gefeierten millionsten Gastarbeiters in der Bundesrepublik aufwuchs. Sein Vater, ein Kommunist, verehrte Gagarin. So kam Yuri zu seinem Namen. Ein menschlicher Finger am Strand der Algarve führt zu einem afrikanischen Bootsflüchtling und schließlich zu einem Überfall in einer Apotheke. Diese Ereignisse haben nichts miteinander zu tun, ergeben sich aber auseinander, sodass schließlich auch Anna und Yuri einander begegnen wie zwei Kometen im All.
Anna ist im Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren – ihr Vater verlor dort ein Bein und offenbar auch den Verstand. Ihre Begegnung mit Yuri beim Überfall in der Apotheke ereignet sich am 11.3. 2011, dem Tag der Katastrophe von Fukushima. Über einen Großvater Annas gerät zudem der Weltallbahnhof Baikonur in den Blick, wo noch vor Gagarin der Hund Laika ins All geschossen wurde. Bevor der Großvater dort im Wach-Bataillon Dienst tat, war er Wachmann in Spandau bei den zu "Gespenstern" mutierten gefangenen Alt-Nazis.
Zähringer ist immer auch ein an Geschichte und speziell der deutschen Katastrophengeschichte interessierter Autor. Zum Spiel der Zufälle, das die Biografien bestimmt, gehört eben auch der historische Rahmen, in dem sich die Lebensläufe ereignen und aus deren Verwicklungen sich umgekehrt das große Ganze ergibt. Sein Blick auf die Geschichte ist jedoch moralfrei, wie der Blick eines Astronomen auf das Geschehen am Himmel. Es ist bewundernswert, mit welcher erzählerischen Eleganz er den Zufall zähmt, wie er seine Geschichten unaufdringlich miteinander verbindet oder sie auch nur umeinander kreisen lässt wie ferne Planeten um die Sonne.
Vielleicht ist es ein Hirte in Baikonur, der den Satz spricht, von dem aus der Roman zu deuten ist. Der Hirte hat Mitleid mit dem Hund, der im Dienst der Menschheit ins All fliegen muss ohne das begreifen zu können. Als der Genosse Major ihn darauf hinweist, dass das Leben eines Hundes keinen Sinn ergeben muss, sagt der Hirte: "Entweder hat alles einen Sinn oder gar nichts." Wenn das stimmt, gilt es selbstverständlich auch für den Roman selbst. So cool und souverän Zähringer sich auch gibt: Das ist letztlich eine religiöse Empfindung.
Besprochen von Jörg Magenau
Norbert Zähringer: Bis zum Ende der Welt
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2012
272 Seiten, 19,95 Euro
In "Bis zum Ende der Welt" genügen ihm drei Figuren, um dieses Experiment in Gang zu setzen. Da ist zunächst die ukrainische Studentin Anna, die ihrem brutalen Vater und seinen Saufkumpanen entkommen möchte. Sie wendet sich an eine Partnerschaftsagentur, die sie an einen älteren Deutschen vermittelt. Gerhard Laska holt sie in sein Haus nach Berlin-Kladow. Er ist ein Hobby-Astronom, der sich nichts sehnlicher wünscht, als einen unbekannten Kometen zu entdecken. Nach einigen Wochen gesteht er ihr, schwer krank zu sein, er habe nur noch ein halbes Jahr zu leben. Er bietet ihr 20.000 Euro, wenn sie bis zum Ende bei ihm bleibt und ihn nach Portugal begleitet, wo er ein Haus besitzt.
Kurz vor der Mitte des Romans taucht dann plötzlich eine dritte Figur auf, völlig unverbunden mit dem bisherigen Handlungsstrang. Lange bevor Laska und Anna in Portugal eintreffen, wird die Geschichte des portugiesischen Polizisten Yuri Fernao Gouvea aufgerollt, der einst als Sohn des mit einem Mokick gefeierten millionsten Gastarbeiters in der Bundesrepublik aufwuchs. Sein Vater, ein Kommunist, verehrte Gagarin. So kam Yuri zu seinem Namen. Ein menschlicher Finger am Strand der Algarve führt zu einem afrikanischen Bootsflüchtling und schließlich zu einem Überfall in einer Apotheke. Diese Ereignisse haben nichts miteinander zu tun, ergeben sich aber auseinander, sodass schließlich auch Anna und Yuri einander begegnen wie zwei Kometen im All.
Anna ist im Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren – ihr Vater verlor dort ein Bein und offenbar auch den Verstand. Ihre Begegnung mit Yuri beim Überfall in der Apotheke ereignet sich am 11.3. 2011, dem Tag der Katastrophe von Fukushima. Über einen Großvater Annas gerät zudem der Weltallbahnhof Baikonur in den Blick, wo noch vor Gagarin der Hund Laika ins All geschossen wurde. Bevor der Großvater dort im Wach-Bataillon Dienst tat, war er Wachmann in Spandau bei den zu "Gespenstern" mutierten gefangenen Alt-Nazis.
Zähringer ist immer auch ein an Geschichte und speziell der deutschen Katastrophengeschichte interessierter Autor. Zum Spiel der Zufälle, das die Biografien bestimmt, gehört eben auch der historische Rahmen, in dem sich die Lebensläufe ereignen und aus deren Verwicklungen sich umgekehrt das große Ganze ergibt. Sein Blick auf die Geschichte ist jedoch moralfrei, wie der Blick eines Astronomen auf das Geschehen am Himmel. Es ist bewundernswert, mit welcher erzählerischen Eleganz er den Zufall zähmt, wie er seine Geschichten unaufdringlich miteinander verbindet oder sie auch nur umeinander kreisen lässt wie ferne Planeten um die Sonne.
Vielleicht ist es ein Hirte in Baikonur, der den Satz spricht, von dem aus der Roman zu deuten ist. Der Hirte hat Mitleid mit dem Hund, der im Dienst der Menschheit ins All fliegen muss ohne das begreifen zu können. Als der Genosse Major ihn darauf hinweist, dass das Leben eines Hundes keinen Sinn ergeben muss, sagt der Hirte: "Entweder hat alles einen Sinn oder gar nichts." Wenn das stimmt, gilt es selbstverständlich auch für den Roman selbst. So cool und souverän Zähringer sich auch gibt: Das ist letztlich eine religiöse Empfindung.
Besprochen von Jörg Magenau
Norbert Zähringer: Bis zum Ende der Welt
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2012
272 Seiten, 19,95 Euro