Zuflucht an der Grenze
Vor 20 Jahren wurde in Görlitz die erste Bahnhofsmission der neuen Bundesländer eröffnet. Heute versorgen die Mitarbeiterinnen täglich rund 40 Gäste – wohnungslose und verlassene Menschen, die Gesellschaft suchen oder Schutz vor Kälte.
Wieder einmal spielen sie "Mensch ärgere dich nicht". Ausgerechnet dieses Brettspiel, bei dem es darum geht, den anderen möglichst rasch und häufig ins Aus zu befördern. Aber sie nehmen es mit Humor, wenn wieder einmal einer vom Spielfeld fliegt.
Sie – das sind zwei Männer und zwei Frauen fortgeschrittenen Alters. Sie sitzen an einem Tisch, den eine orange Wachstuchdecke vor Kaffeespritzern und Essensresten schützt. Vielleicht schützt die Decke auch die Besucher vor dem Anblick des Tischs: Ein besonders schönes Exemplar wird es wohl nicht sein.
Aber dafür ist es wenigstens warm und trocken in den Räumen der Görlitzer Bahnhofsmission, die in einem flachen Gebäude vor dem Eingang des Bahnhofs untergebracht ist. Ein Zimmer für die Gäste, eine Küche, ein Wickeltisch, Toiletten. Für mehr ist hier kein Platz. Miete, Wasser und Strom bezahlt die Deutsche Bahn. Für die übrigen Kosten kommen katholische, evangelische und öffentliche Träger auf oder sie werden aus Spenden finanziert.
Ungefähr 40 Gäste kommen jeden Tag. Manche von ihnen sind wohnungslos, fast alle haben seit Jahren keinen Job. Eine der Frauen erzählt, was sie in der Bahnhofsmission macht:
Eine Frau: "'Mensch ärgere dich nicht' spielen, unterhalten, Radio hören, schöne Schlager hören und die Andacht hören. Und man muss ja nicht den ganzen Tag bloß in der Bude hängen. Ich hab in Forst gelernt, Weberin. Na und dann: DDR-Zeit, Bekleidungswerk, arbeitslos. Jetzt bin ich eben auch Rentnerin."
Die Andacht – das ist das "Wort zum Tage", das ein Radiosender bringt. Renate Tietz schaltet es immer wieder gern ein. Sie ist die andere Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielerin am Tisch. 59 Jahre ist sie alt und lebt von Hartz IV. Trotzdem findet die ehemalige Kindergärtnerin die Kraft für ein Ehrenamt. Bis zu 20 Stunden pro Woche hilft die streng gläubige Frau in der Bahnhofsmission aus. Renate Tietz:
"Jeder ist angenommen, und jeder ist willkommen, egal, ob er stinkt, ob er abgerissen ist, es wird ihm geholfen. Und wenn er den Mut hat und sich helfen lässt, dann hilft man ihm auch wieder aufzustehen."
Die meisten Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission sind ehrenamtlich tätig. Wer möchte, kann sich von ihnen Tee bringen lassen oder ein Brot mit Marmelade. Das gibt’ s immer und für jeden, ohne Einschränkung. Heute hat ein junger Mann eine Kiste mit Kuchen abgegeben, der bei einer Veranstaltung übrig geblieben war. Solche Lebensmittelspenden kommen häufig. Sie werden dann an die Gäste verteilt.
Es ist eng in der Küche. Neben der Spüle stehen Käse und Margarine. Auf einem Schreibtisch liegt Papierkram. An der Wand hängt ein Kreuz. Es erinnert daran, dass die Bahnhofsmissionen von den beiden großen Kirchen getragen werden. Die Erste entstand 1894 in Berlin.
Damals kamen viele Frauen vom Land in die Städte, um sich als Fabrikarbeiterinnen zu verdingen. Viele waren ortsunkundig und ahnungslos. Sie gerieten in die Fänge von Zuhältern, die sie zur Prostitution nötigten. Vertreter der Kirche wollten das verhindern – und nahmen die Frauen an den Zügen in Empfang. Während der ersten Tage in der Stadt halfen sie ihnen.
Später kümmerten sich die Bahnhofsmissionen auch um andere Menschen, die auf Reisen hilfsbedürftig wurden. Und um Menschen ohne Obdach. Selbst die DDR hat die Bahnhofsmissionen bis in die 50er-Jahre geduldet, obwohl viele Christen vom Staat schikaniert wurden. Gudrun Heinze aus Görlitz nennt die Gründe:
"Die Frauen, die damals hier am Bahnhof, wo diese Kriegstransporte, also Flüchtlingstransporte hier waren, haben unwahrscheinlich viel geleistet. Die waren so notwendig hier, die haben die Leute versorgt, ja. Hier sind ja welche gestrandet, die ihre Angehörigen gesucht haben."
1956 wurden alle Bahnhofsmissionen in der DDR auf Beschluss des Politbüros der SED geschlossen. Es bezichtigte die Mitarbeiter, dass sie am Bahnhof für westliche Geheimdienste spionieren würden. So etwas wie soziale Probleme durfte es in der DDR auch eigentlich gar nicht geben. Und falls doch, kümmerte sich nun die Volkssolidarität darum, eine staatliche Wohlfahrtsorganisation.
Gudrun Heinze hat von älteren Görlitzern Berichte über diese Zeit gehört. Die 63-Jährige stammt aus einer evangelischen Familie. In der DDR arbeitete sie als Handweberin. Als sie nach der Wende ihren Job verlor, bot ihr die evangelische Stadtmission eine ABM-Stelle in der Bahnhofsmission an. Die wurde am 22. November 1991 eröffnet. Heute ist Heinze Rentnerin und ehrenamtlich in der Bahnhofsmission tätig:
"Ich hatte zu DDR-Zeiten schon das Wort Bahnhofsmission gehört, konnte mir aber kaum was vorstellen drunter."
Warum ausgerechnet Görlitz die erste Stadt war, weiß Gudrun Heinze nicht. Jedenfalls wurden die Mitarbeiterinnen dringend gebraucht:
"Von unserer Stadt kamen Leute, die also schon zu DDR-Zeiten Probleme hatten mit Alkohol und Krankheiten, psychisch krank waren, für die kam dann der Knick nach der Wende. Und eigentlich drohte ihnen die Wohnungslosigkeit. Deswegen kamen sie dann zu uns und haben uns dann gefragt: Können Sie uns helfen, dass das bei uns, bei mir weitergeht? Wir haben sie dann vermittelt an die Stellen, wo sie dann Hilfe kriegten, haben auch Wohngeldanträge ausgefüllt oder geholfen, sie auszufüllen. Wir haben sie zur Suchtberatung geschickt oder zum Arzt begleitet."
Die Bahnhofsmission war bis 1995 in einem Bauwagen untergebracht: sieben Meter lang und zwei Meter fünfzig breit. Zwölf Gäste fanden dort gleichzeitig Platz, eine Miniküche und ein Minibüro. Immerhin gab es ein Telefon, was damals in den neuen Bundesländern nicht selbstverständlich war. Es dauerte nicht lange, bis Gudrun Heinze den ersten Wohnungslosen kennenlernte. Er hatte früher auf dem Flughafen in Frankfurt am Main gearbeitet. Gudrun Heinze:
"Und da seine Frau schwer krank war, und er sie gepflegt hat, ist er wahrscheinlich daran zerbrochen. Berührt hat mich damals, dass er sein ganzes Fotoalbum von der Familie mithatte. Er konnte mir das alles erklären, wie das in seinem Leben gelaufen ist, anhand von Bildern. Also, er hatte auch alles im Gepäck: sein Schlafzimmer, seine Küche. Und früh, wenn ich dann die Bahnhofsmission wieder aufgeschlossen hab, war ich froh, dass der Mann wieder vor der Tür stand. Denn im November ist es ja schon ganz schön kalt. Hat dann hier auch gewohnt mehrere Jahre, ist dann aber verstorben."
Wie dieser Mann reisten damals viele Menschen in die Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. Sie wollten neue Kontakte knüpfen, billig einkaufen oder einfach etwas erleben. Es kamen britische Touristen, bulgarische Großfamilien auf der Durchreise zu Verwandten in Deutschland, Abenteuerlustige aus halb Europa. Gudrun Heinze:
"Manche blieben auch hier hängen. Die schliefen dann in Telefonzellen oder an der Toilette, wo's warm war. Wir haben dann die Leute zu uns geholt, haben ihnen heißen Tee gegeben, haben sie weiter versorgt und zugesehen, dass sie dann wieder weiterkamen. Sie kamen und haben dann im Nachhinein das Kreuz gesehen an der Wand und haben uns dann gefragt, waren daran interessiert, das zu wissen, wo wir herkommen. Manche wollten darüber reden über die Kirche, wollten was mit der Kirche wissen. Aber manche haben gesagt, das können wir lassen. Wir haben alle Menschen so angenommen, wie sie sind, ohne Ansehen der Person."
Und das gilt bis heute – auch für die drei bis vier Menschen, die jede Woche aus der polnischen Nachbarstadt Zgorzelec herüberkommen. Die Suppenküche dort wurde im vorigen Jahr geschlossen. Renate Tietz:
"Meistens sind das Gäste, denen man ansieht, dass es ihnen gar nicht gut geht. Der Mensch an sich wird zu wenig gewertschätzt. Und damit wollen wir eigentlich ein bisschen aufräumen. Und das können wir nur machen durch unsere Arbeit miteinander hier."
Sie – das sind zwei Männer und zwei Frauen fortgeschrittenen Alters. Sie sitzen an einem Tisch, den eine orange Wachstuchdecke vor Kaffeespritzern und Essensresten schützt. Vielleicht schützt die Decke auch die Besucher vor dem Anblick des Tischs: Ein besonders schönes Exemplar wird es wohl nicht sein.
Aber dafür ist es wenigstens warm und trocken in den Räumen der Görlitzer Bahnhofsmission, die in einem flachen Gebäude vor dem Eingang des Bahnhofs untergebracht ist. Ein Zimmer für die Gäste, eine Küche, ein Wickeltisch, Toiletten. Für mehr ist hier kein Platz. Miete, Wasser und Strom bezahlt die Deutsche Bahn. Für die übrigen Kosten kommen katholische, evangelische und öffentliche Träger auf oder sie werden aus Spenden finanziert.
Ungefähr 40 Gäste kommen jeden Tag. Manche von ihnen sind wohnungslos, fast alle haben seit Jahren keinen Job. Eine der Frauen erzählt, was sie in der Bahnhofsmission macht:
Eine Frau: "'Mensch ärgere dich nicht' spielen, unterhalten, Radio hören, schöne Schlager hören und die Andacht hören. Und man muss ja nicht den ganzen Tag bloß in der Bude hängen. Ich hab in Forst gelernt, Weberin. Na und dann: DDR-Zeit, Bekleidungswerk, arbeitslos. Jetzt bin ich eben auch Rentnerin."
Die Andacht – das ist das "Wort zum Tage", das ein Radiosender bringt. Renate Tietz schaltet es immer wieder gern ein. Sie ist die andere Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielerin am Tisch. 59 Jahre ist sie alt und lebt von Hartz IV. Trotzdem findet die ehemalige Kindergärtnerin die Kraft für ein Ehrenamt. Bis zu 20 Stunden pro Woche hilft die streng gläubige Frau in der Bahnhofsmission aus. Renate Tietz:
"Jeder ist angenommen, und jeder ist willkommen, egal, ob er stinkt, ob er abgerissen ist, es wird ihm geholfen. Und wenn er den Mut hat und sich helfen lässt, dann hilft man ihm auch wieder aufzustehen."
Die meisten Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission sind ehrenamtlich tätig. Wer möchte, kann sich von ihnen Tee bringen lassen oder ein Brot mit Marmelade. Das gibt’ s immer und für jeden, ohne Einschränkung. Heute hat ein junger Mann eine Kiste mit Kuchen abgegeben, der bei einer Veranstaltung übrig geblieben war. Solche Lebensmittelspenden kommen häufig. Sie werden dann an die Gäste verteilt.
Es ist eng in der Küche. Neben der Spüle stehen Käse und Margarine. Auf einem Schreibtisch liegt Papierkram. An der Wand hängt ein Kreuz. Es erinnert daran, dass die Bahnhofsmissionen von den beiden großen Kirchen getragen werden. Die Erste entstand 1894 in Berlin.
Damals kamen viele Frauen vom Land in die Städte, um sich als Fabrikarbeiterinnen zu verdingen. Viele waren ortsunkundig und ahnungslos. Sie gerieten in die Fänge von Zuhältern, die sie zur Prostitution nötigten. Vertreter der Kirche wollten das verhindern – und nahmen die Frauen an den Zügen in Empfang. Während der ersten Tage in der Stadt halfen sie ihnen.
Später kümmerten sich die Bahnhofsmissionen auch um andere Menschen, die auf Reisen hilfsbedürftig wurden. Und um Menschen ohne Obdach. Selbst die DDR hat die Bahnhofsmissionen bis in die 50er-Jahre geduldet, obwohl viele Christen vom Staat schikaniert wurden. Gudrun Heinze aus Görlitz nennt die Gründe:
"Die Frauen, die damals hier am Bahnhof, wo diese Kriegstransporte, also Flüchtlingstransporte hier waren, haben unwahrscheinlich viel geleistet. Die waren so notwendig hier, die haben die Leute versorgt, ja. Hier sind ja welche gestrandet, die ihre Angehörigen gesucht haben."
1956 wurden alle Bahnhofsmissionen in der DDR auf Beschluss des Politbüros der SED geschlossen. Es bezichtigte die Mitarbeiter, dass sie am Bahnhof für westliche Geheimdienste spionieren würden. So etwas wie soziale Probleme durfte es in der DDR auch eigentlich gar nicht geben. Und falls doch, kümmerte sich nun die Volkssolidarität darum, eine staatliche Wohlfahrtsorganisation.
Gudrun Heinze hat von älteren Görlitzern Berichte über diese Zeit gehört. Die 63-Jährige stammt aus einer evangelischen Familie. In der DDR arbeitete sie als Handweberin. Als sie nach der Wende ihren Job verlor, bot ihr die evangelische Stadtmission eine ABM-Stelle in der Bahnhofsmission an. Die wurde am 22. November 1991 eröffnet. Heute ist Heinze Rentnerin und ehrenamtlich in der Bahnhofsmission tätig:
"Ich hatte zu DDR-Zeiten schon das Wort Bahnhofsmission gehört, konnte mir aber kaum was vorstellen drunter."
Warum ausgerechnet Görlitz die erste Stadt war, weiß Gudrun Heinze nicht. Jedenfalls wurden die Mitarbeiterinnen dringend gebraucht:
"Von unserer Stadt kamen Leute, die also schon zu DDR-Zeiten Probleme hatten mit Alkohol und Krankheiten, psychisch krank waren, für die kam dann der Knick nach der Wende. Und eigentlich drohte ihnen die Wohnungslosigkeit. Deswegen kamen sie dann zu uns und haben uns dann gefragt: Können Sie uns helfen, dass das bei uns, bei mir weitergeht? Wir haben sie dann vermittelt an die Stellen, wo sie dann Hilfe kriegten, haben auch Wohngeldanträge ausgefüllt oder geholfen, sie auszufüllen. Wir haben sie zur Suchtberatung geschickt oder zum Arzt begleitet."
Die Bahnhofsmission war bis 1995 in einem Bauwagen untergebracht: sieben Meter lang und zwei Meter fünfzig breit. Zwölf Gäste fanden dort gleichzeitig Platz, eine Miniküche und ein Minibüro. Immerhin gab es ein Telefon, was damals in den neuen Bundesländern nicht selbstverständlich war. Es dauerte nicht lange, bis Gudrun Heinze den ersten Wohnungslosen kennenlernte. Er hatte früher auf dem Flughafen in Frankfurt am Main gearbeitet. Gudrun Heinze:
"Und da seine Frau schwer krank war, und er sie gepflegt hat, ist er wahrscheinlich daran zerbrochen. Berührt hat mich damals, dass er sein ganzes Fotoalbum von der Familie mithatte. Er konnte mir das alles erklären, wie das in seinem Leben gelaufen ist, anhand von Bildern. Also, er hatte auch alles im Gepäck: sein Schlafzimmer, seine Küche. Und früh, wenn ich dann die Bahnhofsmission wieder aufgeschlossen hab, war ich froh, dass der Mann wieder vor der Tür stand. Denn im November ist es ja schon ganz schön kalt. Hat dann hier auch gewohnt mehrere Jahre, ist dann aber verstorben."
Wie dieser Mann reisten damals viele Menschen in die Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. Sie wollten neue Kontakte knüpfen, billig einkaufen oder einfach etwas erleben. Es kamen britische Touristen, bulgarische Großfamilien auf der Durchreise zu Verwandten in Deutschland, Abenteuerlustige aus halb Europa. Gudrun Heinze:
"Manche blieben auch hier hängen. Die schliefen dann in Telefonzellen oder an der Toilette, wo's warm war. Wir haben dann die Leute zu uns geholt, haben ihnen heißen Tee gegeben, haben sie weiter versorgt und zugesehen, dass sie dann wieder weiterkamen. Sie kamen und haben dann im Nachhinein das Kreuz gesehen an der Wand und haben uns dann gefragt, waren daran interessiert, das zu wissen, wo wir herkommen. Manche wollten darüber reden über die Kirche, wollten was mit der Kirche wissen. Aber manche haben gesagt, das können wir lassen. Wir haben alle Menschen so angenommen, wie sie sind, ohne Ansehen der Person."
Und das gilt bis heute – auch für die drei bis vier Menschen, die jede Woche aus der polnischen Nachbarstadt Zgorzelec herüberkommen. Die Suppenküche dort wurde im vorigen Jahr geschlossen. Renate Tietz:
"Meistens sind das Gäste, denen man ansieht, dass es ihnen gar nicht gut geht. Der Mensch an sich wird zu wenig gewertschätzt. Und damit wollen wir eigentlich ein bisschen aufräumen. Und das können wir nur machen durch unsere Arbeit miteinander hier."