Zuflucht für misshandelte Kinder
Kevin, Lea-Sophie, Jonas - die Misshandlung von Kindern hat in Deutschland viele Namen. In manchen Fällen sind die Behörden auf die Schicksale aufmerksam geworden, als es schon zu spät war. Doch glücklicherweise überleben auch viele Kinder die kaum vorstellbaren häuslichen Bedingungen.
"Ganz plötzlich ist sie abgehauen. Aber sie hat mich ja gefragt. Da kann ich ihr schon vertrauen, dass sie da bis zum Weißbach, bis zur Brücke läuft und nicht weiter. Also so weit kenn ich sie mittlerweile schon."
André Rademacher ist Heilerziehungspfleger. Er wandert mit der 13-jährigen Annabelle durchs Lattengebirge in den Bayerischen Alpen. In den vergangenen drei Jahren ist er für das junge Mädchen zu einer festen Bezugsperson geworden. Vielleicht zur ersten überhaupt in Annabelles Leben. Sie ist ein schlankes, sportliches Mädchen mit feinen Gesichtszügen. Über der Jeans trägt sie einen weißen Rock, dazu Halskette und Ohrringe. Eine 13-Jährige, die weiß, was "in" ist. Aufgewachsen ist sie in einer westdeutschen Großstadt. Auf den ersten Blick ein normales Mädchen. Außer vielleicht, dass sie pausenlos Handstände macht und Räder schlägt - und das auch bergauf.
Annabelle ist über Felsbrocken und Berggeröll auf eine kleine Insel im Weissbach gesprungen - und nun vom vorbeirauschenden Wasser eingeschlossen.
André: "Weißt du noch, welcher das war, wo du vorher rübergesprungen bist?"
Annabelle: "Jaaaa!"
Susanne Weber: "Annabelle war - als sie hierherkam - sehr unsicher, teilweise sehr aggressiv. Aber ich denke, das hängt mit der großen Verunsicherung zusammen. Sie muss die Grenzen austesten, das machen alle Kinder hier. Wie sind die Regeln, wie kann ich mich orientieren, wer ist für mich zuständig? Sie ist sehr vorsichtig gewesen: Wem kann ich eigentlich vertrauen? Wem muss ich misstrauen? Meint es wirklich jeder gut?"
Susanne Weber ist die pädagogische Leiterin von Haus Hohenfried. Zusammen mit ihrem Mann Stephan arbeitet die gebürtige Hamburgerin seit zwölf Jahren in Bayrisch Gmain, einem beschaulichen Dorf mitten in den bayerischen Alpen, zwischen Berchtesgaden und Salzburg. Am Ortsrand haben sie ein Lebensumfeld geschaffen für schwer misshandelte Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland.
Traumatisierte Kinder brauchen zunächst einen sicheren, gewaltfreien Ort mit festen Bezugspersonen. Vertrauen entsteht aber erst, wenn tief sitzende Ängste genommen sind. Ein erster Schritt dazu sind so scheinbar selbstverständliche Dinge wie regelmäßige Mahlzeiten.
Stephan Weber: "Wir arbeiten hier mit einem Entwicklungsmilieu, nennen das auch heilpädagogisches Milieu und versuchen, die Verletzungen, die die Seele des Kindes erlitten hat, zu heilen, auszugleichen. Und lebenspraktisch kann das dann auch so sein, dass Kinder dann im dritten oder vierten Lebensjahr noch nicht gelernt haben, mit Messer und Gabel oder Löffel zu essen, sondern die haben ihr Essen in der Schüssel auf den Boden gestellt bekommen, nicht regelmäßig, sondern dann, wenn die Eltern nicht am PC saßen, im Internet gesurft haben und wenn zufällig auch mal was zu essen zu Hause war."
Die 40 Kinder und Jugendliche leben auf fünf Wohngruppen verteilt. Auf jedem Stockwerk gibt es eine Küche und einen großen Gemeinschaftsraum. Die etwas Älteren wie die 13-jährige Annabelle haben schon ein eigenes Zimmer.
Annabelle: "Ich will gerade Discman hören."
André: "Willst Discman hören? Willst deine Ruhe jetzt haben?"
Annabelle: "Jaaaaaaa!"
Annabelle ist genervt. Ihr Discman funktioniert nicht richtig.
Annabelle: "War doch automatisch drin, hier! … Hör mal auf mit deinem blöden Gerausche! Gefällt mir nicht, du blödes…" (Annabelle haut auf den Discman)
Die noch kurzen Lebensläufe der Kinder in Hohenfried haben Jugendämter und Kinderpsychiater geschrieben. Sie handeln von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch. Annabelle ist ein sogenanntes vernachlässigtes Kind. "Zum Glück ist sie nicht misshandelt worden", mag es einem spontan durch den Kopf gehen, aber:
Karl-Heinz Brisch: "Die frühe Verwahrlosung und Vernachlässigung von Kindern, dass Kinder eben emotional keine positiven Erfahrungen mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen machen können, ist insgesamt sicherlich die gravierendste, schwerwiegendste Schädigung, die ein Gehirn erleiden kann."
Karl-Heinz Brisch ist Kinder- und Jugendpsychiater und Leiter der Abteilung für Kinderpsychosomatik am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München.
"Also wenn Eltern ihre Kinder emotional versorgen, aber dann schlagen, ist das schwierig und traumatisch. Wenn aber durchgehend das Gehirn nicht emotional versorgt wird, haben wir einen emotionalen Hunger, der 24 Stunden auf die entwickelnden Gehirnstrukturen einwirkt, und das ist höchstproblematisch. Wir wissen heute, dass das eigentlich die gravierendsten, schlimmsten Schäden im Gehirn hinterlässt. Und das ist insgesamt noch wenig bekannt."
Aus Annabelles Akte geht hervor, dass die Eltern ein ausschweifendes Nachtleben führten und dabei das kleine Mädchen immer wieder allein in der Wohnung zurückgelassen haben. Und das über Jahre. Annabelle wurde nicht an einen Schlaf-Wach-Rhythmus gewöhnt und hygienisch nur unzureichend versorgt.
Nicht vermerkt sind die Angstzustände des Kleinkindes, wenn es auf seine Eltern wartet und fürchten muss, für immer allein zu bleiben. Was in einer guten Eltern-Kind-Beziehung passiert, nämlich auf die Signale des Kindes zu hören und darauf zu reagieren, wenn das Kind schreit, es auf den Arm zu nehmen, es zu streicheln, mit ihm zu sprechen - all das hat Annabelle kaum erfahren. Die Eltern haben ihre Tochter emotional "verhungern" lassen. Mit schwerwiegenden Folgen für die hirnorganische Entwicklung des heranwachsenden Kindes.
"Wenn Kinder nämlich emotional hungern, also emotional nicht gut durch ihre Eltern versorgt werden, dann wird das Körperwachstumshormon, was wir brauchen, um überhaupt Wachstum bei Kindern zu haben, nicht mehr gebildet. Und auch das neuronale Wachstumshormon, was dafür zuständig ist, dass sich die Nervenzellen, die wir ja bei Geburt als Baby mitbringen, dass die sich miteinander vernetzen und diese wichtigen Strukturen bilden, damit überhaupt das Gehirn genutzt werden kann - auch die werden dann nicht ausgebildet."
Und Nervenzellen, die nicht in die Gehirnstrukturen eingebunden sind, sterben ab. Die Kinder, die in Einrichtungen wie Hohenfried kommen, wirken oft geistig zurückgeblieben.
"Nicht weil die Kinder vielleicht von der Genetik her die Fähigkeiten dazu nicht mitbringen würden, von ihrer Anlage, sondern weil eben diese frühen Schädigungen dem Gehirn nicht ermöglichen, diese Netzwerke auszubilden und diese frühen Erfahrungen fehlen. Und es ist sehr schwierig, die später auch nachzuholen. Es braucht intensivste Arbeit. Und es ist sehr mühevoll und geht sehr langsam, weil eben die grundlegenden Strukturen dafür fehlen."
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich wohl der klinische Befund von Annabelle verstehen. Eine vom Jugendamt beauftragte Kinder- und Jugendpsychiaterin hat im Frühjahr 2005, also kurz bevor Annabelle nach Hohenfried kam, folgende Diagnosen gestellt:
"Bei Annabelle liegt eine geistige Behinderung mit einer expressiven Sprachentwicklungsstörung vor. Sie hat eine frühkindliche Deprivation und Distanzlosigkeit sowie eine Verhaltensstörung und emotionale Störung."
Auf dem 32 Hektar großen Areal von Haus Hohenfried befindet sich neben den Wohnhäusern, Therapieeinrichtungen und einem Bauernhof auch die Schule.
Zu Unterrichtsbeginn haben sich heute neun Schüler im Klassenraum der zweiten Hauptschulstufe eingefunden. Manche kommen später, weil sie noch in Therapien sind. Vormittags gibt es Gruppenunterricht, nachmittags zweimal die Woche individuell ausgerichteten Förderunterricht.
Annabelle sitzt in einem Nebenraum vor dem Computer und tippt mit zwei Fingern ein Kapitel von Michael Endes "Momo" ab.
Silvia Tombass: "Also sie kann mit viel Zeit, viel Einfühlungsvermögen schon noch sehr viel lernen, aber bei ihr müssen eben einfach erst mal diese Defizite, die sie hat, weil die Grundlagen gar nicht da sind, geschliffen werden. Das heißt: Die Sprache - und das hat sie ja jetzt auch, seitdem sie hier ist, sehr gut gelernt - muss klarer werden."
"Sie hat zum Teil am Anfang noch eine Kleinkindersprache gehabt, das deutet darauf hin, dass man mit ihr halt wohl wenig gesprochen hat zu Hause oder das Sprechenlernen durch die Eltern, das heißt sie hatte dann "Bs" und "Ds" verdreht. Das sind aber Sachen, die sie lernen kann - mit viel Unterstützung. Also es ist nicht so, dass man sagen kann, dass sie das nicht kann, sondern sie weiß gar nicht, wie man es macht. Und das ist bei fast allem so."
Im heilpädagogischen Konzept von Haus Hohenfried wird der Mensch nicht an seinen Defiziten gemessen, sondern seine Stärken werden gefördert. Wenn die Sportgruppe der Schule zur Kletterwand nach Berchtesgaden fährt, ist Annabelle die erfolgreichste der gesamten Schule. Und über die positive Körpererfahrung sollen dann auch die kognitiven Fähigkeiten angeregt und entwickelt werden.
Die Leitung von Hohenfried hat vor vier Jahren damit begonnen, ihre Mitarbeiter in Traumapädagogik weiterzubilden. Sie sollen befähigt werden, die Symptome der Kinder besser zu deuten und auf die Beeinträchtigungen reagieren zu können. Lutz Besser vom Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen leitet die Fortbildung. Für den Kinder- und Jugendpsychiater sterben bei traumatiserten Kleinkindern nicht nur Nervenzellen ab, …
"…sondern ihr Gehirn hat nicht gelernt, durch die enormen belastenden Erfahrungen kontinuierlich Erfahrungen aneinanderzureihen und dadurch das zu machen, was wir Lernen nennen. Nämlich lernen heißt, auf frühere Erfahrungen zurückgreifen zu können."
Annabelle zeigt ihrem Betreuer André ein Jugendmagazin. Darin ein Interview mit dem Sänger von Tokio Hotel.
Annabelle: "Soll ich, soll ich, soll ich dir mal was vorlesen? Schau! Ich habe schon mal den Geburtstag meiner Mutter vergessen."
André: "Wer hat das gesagt?"
Annabelle: "Der Bill!"
André: "Ach so."
Annabelle (liest): "Ich spiele gerne mit den Barbie-Puppen…"
André: "…auch der Bill?"
Annabelle: "…meiner - nein, das sagt Jonny Depp. Der spielt ja mit Barbe-Puppen!" (Annabelle lacht heftig)
André Rademacher: "Ja, also sie fragt oft nach ihrem Vater oder möchte ihn oft anrufen, aber das ist halt schwierig. Es wurde so ausgemacht vom Jugendamt, dass ihr Vater einfach sich meldet regelmäßig. Und das hat einfach nie stattgefunden, es war ganz unregelmäßig."
"Und von ihrer Mutter redet sie eigentlich weniger, und wenn sie über ihre Mutter redet, dann immer nur schlecht. Aber das passiert dann auch irgendwie immer nur in Situationen, wo sie eh schon aufgebracht ist. Dann sagt sie einfach aus heiterem Himmel 'Ja, da ist irgendwie die Mutter daran schuld, die ist 'ne Schlampe' und irgend so etwas. Aber sonst redet sie halt nix von ihrer Mutter oder spricht selten von ihrer Mutter."
Bettina Lasse: "Also das sind Bilder, die haben wir gemeinsam gemalt. Und zwar war die Aufgabe, dass wir gemeinsam auf einem Blatt malen, wobei zwischen uns auf dem Blatt eine Trennwand steht."
Bettina Lasse, die Kunsttherapeutin von Annabelle in Hohenfried.
"Und das ist natürlich eine große Herausforderung für sie auch zu gucken, was braucht das Bild, um eine Einheit zu werden. Wie kann man da mit den Farben umgehen, was muss man jeweils opfern von sich selbst oder annehmen des anderen? Das fällt ihr schwer, und das natürlich auch umzusetzen, da unterstütze ich sie bei."
Susanne Weber: "André verkörpert für die Annabelle eine wichtige Funktion. Damit erlebt sie noch mal ein anderes Männerbild, dass es nicht nur die Art ihres Vaters gibt. Und er hat die Fähigkeit dadurch, dass es ein Mann ist, der sehr in sich ruht, dass er sehr viel Ruhe in ihr Leben bringt, den richtigen Abstand wahrt und Annabelle dadurch auch eine Orientierung in ihrem Tagesablauf bekommt. Und er da eigentlich ein gutes Gespür hat, wo sie die Grenzen und Regeln braucht und wo man auch ein Stück Freiheit gewähren kann."
Annabelles Vater hatte zunehmend mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Eine liebevolle Verlässlichkeit hat sie bei ihm nicht erlebt. Im Gegenteil: Annabelle sorgte sich um ihn und übernahm Verantwortung, hatte gleichzeitig aber auch Angst vor seinen unkalkulierbaren Gefühlsschwankungen, wenn er betrunken war.
Der Vater wandte sich ans Jugendamt, als seine neue Lebenspartnerin bei ihnen einzog. Von da an gab es für Annabelle keinen Platz mehr. Sie kam im Alter von sechs Jahren in eine Pflegefamilie. Dort machte sie zunächst große Entwicklungsschritte und gewöhnte sich schnell an die neue Familie. Nach und nach wurde sie aber immer aggressiver und hatte plötzliche Wutausbrüche. Annabelle musste wieder aus der Pflegefamilie herausgenommen werden.
Karl-Heinz Brisch: "Oftmals sehen wir, dass diese Kinder am Anfang auch in der Pflegefamilie durchaus - in Anführungszeichen - unauffällig sind und man sich fragt: 'Ja, warum ist dieses Kind jetzt eigentlich vom Jugendamt herausgenommen worden, was war denn da eigentlich los?'"
"Die Kinder haben gelernt, all ihre Gefühle sozusagen zu verstecken, sich einigermaßen zu kontrollieren. Sobald sie anfangen, ein bisschen sich emotional sicherer zu fühlen, dann fangen sie an, ihren Stress zu zeigen. Viele dieser Kinder haben nur ein ganz geringes Stress-Toleranz-Fenster. Das heißt es muss nicht viel passieren, damit sie dann springen, toben, ausflippen und sich überhaupt nicht mehr einbekommen, weil sie eben Stress, Belastung nicht sehr gut regulieren können."
Karl-Heinz Brisch hat immer wieder mit Pflegeeltern zu tun, die nach professioneller Hilfe suchen, weil sie mit der Betreuung ihres Pflegekindes überfordert sind.
"Das Entscheidende ist, dass Pflegefamilien, die oft mit sehr viel Wärme, Herzblut und Engagement diese Kinder bereitwillig in Pflege nehmen, dass die eine intensivste Begleitung benötigen, dass sie eine Aufklärung darüber brauchen, was mit diesen Kindern eigentlich zu erwarten ist."
"Die gute emotionale Versorgung in der Pflegefamilie reicht nicht aus, um die seelischen Wunden, die Vernachlässigung, auszugleichen. Diese Kinder müssen in einem viel dichteren therapeutischen eins-zu-eins Beziehungskontext neue Erfahrungen sammeln, die ihnen dann ermöglichen, viele von diesen Verletzungen und Wunden langsam einzubringen, zu zeigen. Und dort kann dann auch Heilung stattfinden."
Im vergangenen Jahr haben Jugendämter in Deutschland 3.500 vernachlässigte Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Heime, Ärzte und Familiengerichte sind mit einer steigenden Zahl von schwer traumatisierten Kindern konfrontiert. Hohes persönliches Engagement und neue Planstellen reichen dafür bei weitem nicht aus. Für diese Kinder müssen bessere Betreuungsstrukturen geschaffen werden, mit speziell dafür geschulten Fachkräften und therapeutischer Einzelbegleitung.
In Hohenfried sorgt nicht nur der Therapeut für emotionale Neuerfahrungen. Hier nutzt man noch weitere Ressourcen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern wie Annabelle.
Sandra Gallrapp: "Halt ihn fest."
Annabelle: "Bleib hier, komm! … Also ich bin fertig."
Sandra Gallrapp: "Wenn du fertig geputzt hast, dann räumst du bitte den Striegel auf, und dann können wir los."
Sandra Gallrapp ist Psychomotorikerin und betreut die tiergestützte Therapie in Hohenfried. Dazu gehört neben Pferden und Eseln auch eine Herde mit 17 Lamas. Seit einem Jahr arbeitet sie pädagogisch mit Annabelle auf der Koppel, unweit der Gleise der Salzburger Bergbahn.
Sandra Gallrapp: "Sie hat immer den Apollo, das ist ihr Lieblingslama, den hat sie sich selbst ausgesucht, und inzwischen ist der Apollo so, dass er auch zu ihr kommt, dass er sich fangen lässt von ihr. Sie braucht kaum mehr Hilfe von mir, hin und wieder Anleitung jetzt vom Motorischen mit dem Halfter oder so, wenn sie dann nervös ist oder wenn der Apollo manchmal zappelt oder so was."
"Aber ansonsten kann sie das Lama komplett alleine halftern, einfangen, putzen, führen und dann spezielle Aufgaben mit dem Lama erledigen, zum Beispiel mit ihm über einen Bach gehen. Brücken überqueren kann sie inzwischen sehr, sehr gut. Und das ist rein auf Vertrauensbasis, dass das Lama ihr auch folgt. Das baut natürlich das Selbstbewusstsein ganz stark auf, wenn man weiß, es vertraut mir jemand so, ich kann machen, was ich will, und der geht mit mir mit."
Annabelle hält Apollo fest am Strick und rennt mit ihm den Hang hoch. Mal schnell, dann wieder langsam. Auf der Anhöhe bleiben sie stehen, sie schaut das Lama an, das einen Kopf größer ist als sie. Gemeinsam stürmen sie dann den Hügel hinunter ins Tal. Im Gegensatz zu Hunden, die gerne mal an einem hochspringen, sind Lamas Tiere, die immer eine freundliche Distanz wahren, gleichzeitig aber neugierig sind und sehr sensibel auf Menschen reagieren.
"Für traumatisierte Kinder ist es halt sehr schön, etwas langsam und tastend zu erfahren und nicht vor Tatsachen gestellt zu werden, sondern sich selber zu spüren. Und da sind ja die Lamas sehr gut, weil die sehr feinfühlig sind und selber auch sehr tastend ihre Umwelt wahrnehmen. Und durch das Vertrauen, das sie dem Lama entgegenbringen, können sie ja mit mir wieder leichter als Mensch dann Vertrauen aufbauen, und dadurch kann man die Beziehungsarbeit sehr stärken. Und ich sag mal, die Arbeit mit dem Lama ist eigentlich so die Vorarbeit, um dann richtig therapeutische Beziehungsarbeit zu machen."
Annabelle hat noch einen langen Weg vor sich. Viele traumatisierte Kinder, die vor dem dritten Lebensjahr extrem vernachlässigt wurden, werden später nie ein eigenständiges Leben führen können. Von den 40 Kindern in Hohenfried hat Annabelle nach Einschätzung der Heimleitung noch die besten Aussichten. Mit dem Förderschulabschluss hätte sie Chancen auf eine Berufsausbildung und betreutes Wohnen könnte für sie durchaus einmal in Frage kommen. Bis dahin wird Annabelle noch viele Erfahrungen machen. Auch mit Apollo.
Annabelle: "Du gehst jetzt auch in den Stall und jetzt komm mit hier. Du kannst danach fressen, du kriegst von mir noch eine Belohnung, weil du so toll gerannt, gerannt bist."
Sandra Gallrapp: "Dadurch, dass das Lama so eine weiche Nase hat, ist es total schön, wenn es aus der Hand frisst."
Annabelle: "Du bist cool." (lacht) "Apollo, das ganze Essen fliegt weg. … Na, ah, ah! Du hast schon deine Belohnung gekriegt. Gieriges, kleines Lama!"
André Rademacher ist Heilerziehungspfleger. Er wandert mit der 13-jährigen Annabelle durchs Lattengebirge in den Bayerischen Alpen. In den vergangenen drei Jahren ist er für das junge Mädchen zu einer festen Bezugsperson geworden. Vielleicht zur ersten überhaupt in Annabelles Leben. Sie ist ein schlankes, sportliches Mädchen mit feinen Gesichtszügen. Über der Jeans trägt sie einen weißen Rock, dazu Halskette und Ohrringe. Eine 13-Jährige, die weiß, was "in" ist. Aufgewachsen ist sie in einer westdeutschen Großstadt. Auf den ersten Blick ein normales Mädchen. Außer vielleicht, dass sie pausenlos Handstände macht und Räder schlägt - und das auch bergauf.
Annabelle ist über Felsbrocken und Berggeröll auf eine kleine Insel im Weissbach gesprungen - und nun vom vorbeirauschenden Wasser eingeschlossen.
André: "Weißt du noch, welcher das war, wo du vorher rübergesprungen bist?"
Annabelle: "Jaaaa!"
Susanne Weber: "Annabelle war - als sie hierherkam - sehr unsicher, teilweise sehr aggressiv. Aber ich denke, das hängt mit der großen Verunsicherung zusammen. Sie muss die Grenzen austesten, das machen alle Kinder hier. Wie sind die Regeln, wie kann ich mich orientieren, wer ist für mich zuständig? Sie ist sehr vorsichtig gewesen: Wem kann ich eigentlich vertrauen? Wem muss ich misstrauen? Meint es wirklich jeder gut?"
Susanne Weber ist die pädagogische Leiterin von Haus Hohenfried. Zusammen mit ihrem Mann Stephan arbeitet die gebürtige Hamburgerin seit zwölf Jahren in Bayrisch Gmain, einem beschaulichen Dorf mitten in den bayerischen Alpen, zwischen Berchtesgaden und Salzburg. Am Ortsrand haben sie ein Lebensumfeld geschaffen für schwer misshandelte Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland.
Traumatisierte Kinder brauchen zunächst einen sicheren, gewaltfreien Ort mit festen Bezugspersonen. Vertrauen entsteht aber erst, wenn tief sitzende Ängste genommen sind. Ein erster Schritt dazu sind so scheinbar selbstverständliche Dinge wie regelmäßige Mahlzeiten.
Stephan Weber: "Wir arbeiten hier mit einem Entwicklungsmilieu, nennen das auch heilpädagogisches Milieu und versuchen, die Verletzungen, die die Seele des Kindes erlitten hat, zu heilen, auszugleichen. Und lebenspraktisch kann das dann auch so sein, dass Kinder dann im dritten oder vierten Lebensjahr noch nicht gelernt haben, mit Messer und Gabel oder Löffel zu essen, sondern die haben ihr Essen in der Schüssel auf den Boden gestellt bekommen, nicht regelmäßig, sondern dann, wenn die Eltern nicht am PC saßen, im Internet gesurft haben und wenn zufällig auch mal was zu essen zu Hause war."
Die 40 Kinder und Jugendliche leben auf fünf Wohngruppen verteilt. Auf jedem Stockwerk gibt es eine Küche und einen großen Gemeinschaftsraum. Die etwas Älteren wie die 13-jährige Annabelle haben schon ein eigenes Zimmer.
Annabelle: "Ich will gerade Discman hören."
André: "Willst Discman hören? Willst deine Ruhe jetzt haben?"
Annabelle: "Jaaaaaaa!"
Annabelle ist genervt. Ihr Discman funktioniert nicht richtig.
Annabelle: "War doch automatisch drin, hier! … Hör mal auf mit deinem blöden Gerausche! Gefällt mir nicht, du blödes…" (Annabelle haut auf den Discman)
Die noch kurzen Lebensläufe der Kinder in Hohenfried haben Jugendämter und Kinderpsychiater geschrieben. Sie handeln von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch. Annabelle ist ein sogenanntes vernachlässigtes Kind. "Zum Glück ist sie nicht misshandelt worden", mag es einem spontan durch den Kopf gehen, aber:
Karl-Heinz Brisch: "Die frühe Verwahrlosung und Vernachlässigung von Kindern, dass Kinder eben emotional keine positiven Erfahrungen mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen machen können, ist insgesamt sicherlich die gravierendste, schwerwiegendste Schädigung, die ein Gehirn erleiden kann."
Karl-Heinz Brisch ist Kinder- und Jugendpsychiater und Leiter der Abteilung für Kinderpsychosomatik am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München.
"Also wenn Eltern ihre Kinder emotional versorgen, aber dann schlagen, ist das schwierig und traumatisch. Wenn aber durchgehend das Gehirn nicht emotional versorgt wird, haben wir einen emotionalen Hunger, der 24 Stunden auf die entwickelnden Gehirnstrukturen einwirkt, und das ist höchstproblematisch. Wir wissen heute, dass das eigentlich die gravierendsten, schlimmsten Schäden im Gehirn hinterlässt. Und das ist insgesamt noch wenig bekannt."
Aus Annabelles Akte geht hervor, dass die Eltern ein ausschweifendes Nachtleben führten und dabei das kleine Mädchen immer wieder allein in der Wohnung zurückgelassen haben. Und das über Jahre. Annabelle wurde nicht an einen Schlaf-Wach-Rhythmus gewöhnt und hygienisch nur unzureichend versorgt.
Nicht vermerkt sind die Angstzustände des Kleinkindes, wenn es auf seine Eltern wartet und fürchten muss, für immer allein zu bleiben. Was in einer guten Eltern-Kind-Beziehung passiert, nämlich auf die Signale des Kindes zu hören und darauf zu reagieren, wenn das Kind schreit, es auf den Arm zu nehmen, es zu streicheln, mit ihm zu sprechen - all das hat Annabelle kaum erfahren. Die Eltern haben ihre Tochter emotional "verhungern" lassen. Mit schwerwiegenden Folgen für die hirnorganische Entwicklung des heranwachsenden Kindes.
"Wenn Kinder nämlich emotional hungern, also emotional nicht gut durch ihre Eltern versorgt werden, dann wird das Körperwachstumshormon, was wir brauchen, um überhaupt Wachstum bei Kindern zu haben, nicht mehr gebildet. Und auch das neuronale Wachstumshormon, was dafür zuständig ist, dass sich die Nervenzellen, die wir ja bei Geburt als Baby mitbringen, dass die sich miteinander vernetzen und diese wichtigen Strukturen bilden, damit überhaupt das Gehirn genutzt werden kann - auch die werden dann nicht ausgebildet."
Und Nervenzellen, die nicht in die Gehirnstrukturen eingebunden sind, sterben ab. Die Kinder, die in Einrichtungen wie Hohenfried kommen, wirken oft geistig zurückgeblieben.
"Nicht weil die Kinder vielleicht von der Genetik her die Fähigkeiten dazu nicht mitbringen würden, von ihrer Anlage, sondern weil eben diese frühen Schädigungen dem Gehirn nicht ermöglichen, diese Netzwerke auszubilden und diese frühen Erfahrungen fehlen. Und es ist sehr schwierig, die später auch nachzuholen. Es braucht intensivste Arbeit. Und es ist sehr mühevoll und geht sehr langsam, weil eben die grundlegenden Strukturen dafür fehlen."
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich wohl der klinische Befund von Annabelle verstehen. Eine vom Jugendamt beauftragte Kinder- und Jugendpsychiaterin hat im Frühjahr 2005, also kurz bevor Annabelle nach Hohenfried kam, folgende Diagnosen gestellt:
"Bei Annabelle liegt eine geistige Behinderung mit einer expressiven Sprachentwicklungsstörung vor. Sie hat eine frühkindliche Deprivation und Distanzlosigkeit sowie eine Verhaltensstörung und emotionale Störung."
Auf dem 32 Hektar großen Areal von Haus Hohenfried befindet sich neben den Wohnhäusern, Therapieeinrichtungen und einem Bauernhof auch die Schule.
Zu Unterrichtsbeginn haben sich heute neun Schüler im Klassenraum der zweiten Hauptschulstufe eingefunden. Manche kommen später, weil sie noch in Therapien sind. Vormittags gibt es Gruppenunterricht, nachmittags zweimal die Woche individuell ausgerichteten Förderunterricht.
Annabelle sitzt in einem Nebenraum vor dem Computer und tippt mit zwei Fingern ein Kapitel von Michael Endes "Momo" ab.
Silvia Tombass: "Also sie kann mit viel Zeit, viel Einfühlungsvermögen schon noch sehr viel lernen, aber bei ihr müssen eben einfach erst mal diese Defizite, die sie hat, weil die Grundlagen gar nicht da sind, geschliffen werden. Das heißt: Die Sprache - und das hat sie ja jetzt auch, seitdem sie hier ist, sehr gut gelernt - muss klarer werden."
"Sie hat zum Teil am Anfang noch eine Kleinkindersprache gehabt, das deutet darauf hin, dass man mit ihr halt wohl wenig gesprochen hat zu Hause oder das Sprechenlernen durch die Eltern, das heißt sie hatte dann "Bs" und "Ds" verdreht. Das sind aber Sachen, die sie lernen kann - mit viel Unterstützung. Also es ist nicht so, dass man sagen kann, dass sie das nicht kann, sondern sie weiß gar nicht, wie man es macht. Und das ist bei fast allem so."
Im heilpädagogischen Konzept von Haus Hohenfried wird der Mensch nicht an seinen Defiziten gemessen, sondern seine Stärken werden gefördert. Wenn die Sportgruppe der Schule zur Kletterwand nach Berchtesgaden fährt, ist Annabelle die erfolgreichste der gesamten Schule. Und über die positive Körpererfahrung sollen dann auch die kognitiven Fähigkeiten angeregt und entwickelt werden.
Die Leitung von Hohenfried hat vor vier Jahren damit begonnen, ihre Mitarbeiter in Traumapädagogik weiterzubilden. Sie sollen befähigt werden, die Symptome der Kinder besser zu deuten und auf die Beeinträchtigungen reagieren zu können. Lutz Besser vom Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen leitet die Fortbildung. Für den Kinder- und Jugendpsychiater sterben bei traumatiserten Kleinkindern nicht nur Nervenzellen ab, …
"…sondern ihr Gehirn hat nicht gelernt, durch die enormen belastenden Erfahrungen kontinuierlich Erfahrungen aneinanderzureihen und dadurch das zu machen, was wir Lernen nennen. Nämlich lernen heißt, auf frühere Erfahrungen zurückgreifen zu können."
Annabelle zeigt ihrem Betreuer André ein Jugendmagazin. Darin ein Interview mit dem Sänger von Tokio Hotel.
Annabelle: "Soll ich, soll ich, soll ich dir mal was vorlesen? Schau! Ich habe schon mal den Geburtstag meiner Mutter vergessen."
André: "Wer hat das gesagt?"
Annabelle: "Der Bill!"
André: "Ach so."
Annabelle (liest): "Ich spiele gerne mit den Barbie-Puppen…"
André: "…auch der Bill?"
Annabelle: "…meiner - nein, das sagt Jonny Depp. Der spielt ja mit Barbe-Puppen!" (Annabelle lacht heftig)
André Rademacher: "Ja, also sie fragt oft nach ihrem Vater oder möchte ihn oft anrufen, aber das ist halt schwierig. Es wurde so ausgemacht vom Jugendamt, dass ihr Vater einfach sich meldet regelmäßig. Und das hat einfach nie stattgefunden, es war ganz unregelmäßig."
"Und von ihrer Mutter redet sie eigentlich weniger, und wenn sie über ihre Mutter redet, dann immer nur schlecht. Aber das passiert dann auch irgendwie immer nur in Situationen, wo sie eh schon aufgebracht ist. Dann sagt sie einfach aus heiterem Himmel 'Ja, da ist irgendwie die Mutter daran schuld, die ist 'ne Schlampe' und irgend so etwas. Aber sonst redet sie halt nix von ihrer Mutter oder spricht selten von ihrer Mutter."
Bettina Lasse: "Also das sind Bilder, die haben wir gemeinsam gemalt. Und zwar war die Aufgabe, dass wir gemeinsam auf einem Blatt malen, wobei zwischen uns auf dem Blatt eine Trennwand steht."
Bettina Lasse, die Kunsttherapeutin von Annabelle in Hohenfried.
"Und das ist natürlich eine große Herausforderung für sie auch zu gucken, was braucht das Bild, um eine Einheit zu werden. Wie kann man da mit den Farben umgehen, was muss man jeweils opfern von sich selbst oder annehmen des anderen? Das fällt ihr schwer, und das natürlich auch umzusetzen, da unterstütze ich sie bei."
Susanne Weber: "André verkörpert für die Annabelle eine wichtige Funktion. Damit erlebt sie noch mal ein anderes Männerbild, dass es nicht nur die Art ihres Vaters gibt. Und er hat die Fähigkeit dadurch, dass es ein Mann ist, der sehr in sich ruht, dass er sehr viel Ruhe in ihr Leben bringt, den richtigen Abstand wahrt und Annabelle dadurch auch eine Orientierung in ihrem Tagesablauf bekommt. Und er da eigentlich ein gutes Gespür hat, wo sie die Grenzen und Regeln braucht und wo man auch ein Stück Freiheit gewähren kann."
Annabelles Vater hatte zunehmend mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Eine liebevolle Verlässlichkeit hat sie bei ihm nicht erlebt. Im Gegenteil: Annabelle sorgte sich um ihn und übernahm Verantwortung, hatte gleichzeitig aber auch Angst vor seinen unkalkulierbaren Gefühlsschwankungen, wenn er betrunken war.
Der Vater wandte sich ans Jugendamt, als seine neue Lebenspartnerin bei ihnen einzog. Von da an gab es für Annabelle keinen Platz mehr. Sie kam im Alter von sechs Jahren in eine Pflegefamilie. Dort machte sie zunächst große Entwicklungsschritte und gewöhnte sich schnell an die neue Familie. Nach und nach wurde sie aber immer aggressiver und hatte plötzliche Wutausbrüche. Annabelle musste wieder aus der Pflegefamilie herausgenommen werden.
Karl-Heinz Brisch: "Oftmals sehen wir, dass diese Kinder am Anfang auch in der Pflegefamilie durchaus - in Anführungszeichen - unauffällig sind und man sich fragt: 'Ja, warum ist dieses Kind jetzt eigentlich vom Jugendamt herausgenommen worden, was war denn da eigentlich los?'"
"Die Kinder haben gelernt, all ihre Gefühle sozusagen zu verstecken, sich einigermaßen zu kontrollieren. Sobald sie anfangen, ein bisschen sich emotional sicherer zu fühlen, dann fangen sie an, ihren Stress zu zeigen. Viele dieser Kinder haben nur ein ganz geringes Stress-Toleranz-Fenster. Das heißt es muss nicht viel passieren, damit sie dann springen, toben, ausflippen und sich überhaupt nicht mehr einbekommen, weil sie eben Stress, Belastung nicht sehr gut regulieren können."
Karl-Heinz Brisch hat immer wieder mit Pflegeeltern zu tun, die nach professioneller Hilfe suchen, weil sie mit der Betreuung ihres Pflegekindes überfordert sind.
"Das Entscheidende ist, dass Pflegefamilien, die oft mit sehr viel Wärme, Herzblut und Engagement diese Kinder bereitwillig in Pflege nehmen, dass die eine intensivste Begleitung benötigen, dass sie eine Aufklärung darüber brauchen, was mit diesen Kindern eigentlich zu erwarten ist."
"Die gute emotionale Versorgung in der Pflegefamilie reicht nicht aus, um die seelischen Wunden, die Vernachlässigung, auszugleichen. Diese Kinder müssen in einem viel dichteren therapeutischen eins-zu-eins Beziehungskontext neue Erfahrungen sammeln, die ihnen dann ermöglichen, viele von diesen Verletzungen und Wunden langsam einzubringen, zu zeigen. Und dort kann dann auch Heilung stattfinden."
Im vergangenen Jahr haben Jugendämter in Deutschland 3.500 vernachlässigte Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Heime, Ärzte und Familiengerichte sind mit einer steigenden Zahl von schwer traumatisierten Kindern konfrontiert. Hohes persönliches Engagement und neue Planstellen reichen dafür bei weitem nicht aus. Für diese Kinder müssen bessere Betreuungsstrukturen geschaffen werden, mit speziell dafür geschulten Fachkräften und therapeutischer Einzelbegleitung.
In Hohenfried sorgt nicht nur der Therapeut für emotionale Neuerfahrungen. Hier nutzt man noch weitere Ressourcen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern wie Annabelle.
Sandra Gallrapp: "Halt ihn fest."
Annabelle: "Bleib hier, komm! … Also ich bin fertig."
Sandra Gallrapp: "Wenn du fertig geputzt hast, dann räumst du bitte den Striegel auf, und dann können wir los."
Sandra Gallrapp ist Psychomotorikerin und betreut die tiergestützte Therapie in Hohenfried. Dazu gehört neben Pferden und Eseln auch eine Herde mit 17 Lamas. Seit einem Jahr arbeitet sie pädagogisch mit Annabelle auf der Koppel, unweit der Gleise der Salzburger Bergbahn.
Sandra Gallrapp: "Sie hat immer den Apollo, das ist ihr Lieblingslama, den hat sie sich selbst ausgesucht, und inzwischen ist der Apollo so, dass er auch zu ihr kommt, dass er sich fangen lässt von ihr. Sie braucht kaum mehr Hilfe von mir, hin und wieder Anleitung jetzt vom Motorischen mit dem Halfter oder so, wenn sie dann nervös ist oder wenn der Apollo manchmal zappelt oder so was."
"Aber ansonsten kann sie das Lama komplett alleine halftern, einfangen, putzen, führen und dann spezielle Aufgaben mit dem Lama erledigen, zum Beispiel mit ihm über einen Bach gehen. Brücken überqueren kann sie inzwischen sehr, sehr gut. Und das ist rein auf Vertrauensbasis, dass das Lama ihr auch folgt. Das baut natürlich das Selbstbewusstsein ganz stark auf, wenn man weiß, es vertraut mir jemand so, ich kann machen, was ich will, und der geht mit mir mit."
Annabelle hält Apollo fest am Strick und rennt mit ihm den Hang hoch. Mal schnell, dann wieder langsam. Auf der Anhöhe bleiben sie stehen, sie schaut das Lama an, das einen Kopf größer ist als sie. Gemeinsam stürmen sie dann den Hügel hinunter ins Tal. Im Gegensatz zu Hunden, die gerne mal an einem hochspringen, sind Lamas Tiere, die immer eine freundliche Distanz wahren, gleichzeitig aber neugierig sind und sehr sensibel auf Menschen reagieren.
"Für traumatisierte Kinder ist es halt sehr schön, etwas langsam und tastend zu erfahren und nicht vor Tatsachen gestellt zu werden, sondern sich selber zu spüren. Und da sind ja die Lamas sehr gut, weil die sehr feinfühlig sind und selber auch sehr tastend ihre Umwelt wahrnehmen. Und durch das Vertrauen, das sie dem Lama entgegenbringen, können sie ja mit mir wieder leichter als Mensch dann Vertrauen aufbauen, und dadurch kann man die Beziehungsarbeit sehr stärken. Und ich sag mal, die Arbeit mit dem Lama ist eigentlich so die Vorarbeit, um dann richtig therapeutische Beziehungsarbeit zu machen."
Annabelle hat noch einen langen Weg vor sich. Viele traumatisierte Kinder, die vor dem dritten Lebensjahr extrem vernachlässigt wurden, werden später nie ein eigenständiges Leben führen können. Von den 40 Kindern in Hohenfried hat Annabelle nach Einschätzung der Heimleitung noch die besten Aussichten. Mit dem Förderschulabschluss hätte sie Chancen auf eine Berufsausbildung und betreutes Wohnen könnte für sie durchaus einmal in Frage kommen. Bis dahin wird Annabelle noch viele Erfahrungen machen. Auch mit Apollo.
Annabelle: "Du gehst jetzt auch in den Stall und jetzt komm mit hier. Du kannst danach fressen, du kriegst von mir noch eine Belohnung, weil du so toll gerannt, gerannt bist."
Sandra Gallrapp: "Dadurch, dass das Lama so eine weiche Nase hat, ist es total schön, wenn es aus der Hand frisst."
Annabelle: "Du bist cool." (lacht) "Apollo, das ganze Essen fliegt weg. … Na, ah, ah! Du hast schon deine Belohnung gekriegt. Gieriges, kleines Lama!"