Zuflucht im eigenen Kopf

Von Stefan Keim |
Tim Burton erzählt immer von Außenseitern, Menschen, die mehr im eigenen Kopf als in der Außenwelt leben, Träumern und Künstlern, Maskierten und Monstern. Seine opulente Optik, die schräge Fantasie, die Mischung aus Humor und Emotion macht seinen speziellen Stil aus.
Ein künstlicher Mensch mit Scherenhänden, ein Mann, der sich als Fledermaus verkleidet und Verbrecher bekämpft, ein Filmregisseur, der in seinen Obsessionen lebt nicht sieht, dass die Kulissen wackeln – das sind die Helden Tim Burtons.

Jeder seiner Filme erzählt von Außenseitern, seltsamen Menschen mit starker Fantasie, die sich weder unter- noch einordnen können. Weil sie die normale Welt nicht begreifen, sie als etwas Fremdes, oft als etwas Bedrohliches betrachten. Tim Burton zeigt, was in ihren Köpfen vorgeht, wie sie denken, fühlen, handeln. Mit einer ganz eigenen Mischung aus Begeisterung und Selbstironie, Humor und Emotionalität.

Tim Burton wuchs in Burbank, einem Vorort von Los Angeles auf. Dort arbeiteten fast alle für die Filmindustrie. Burtons Eltern waren Kleinbürger, die in ihrem Sicherheitsbedürfnis so weit gingen, dass sie die zur Straße liegenden Fenster zumauerten. Wenn Burton raus schauen wollte, so hat er es später erzählt, musste er auf einen Schreibtisch klettern und durch Sehschlitze schauen.

Malen und Kino waren seine Leidenschaften, Burton liebte besonders billig gedrehte Horrorfilme wie Ed Woods "Plan 9 from Outer Space".

Tim Burton: " Ich bin in Burbank aufgewachsen und habe neben einem Friedhof gelebt. Als ich zum ersten Mal "Plan 9 from Outer Space" sah, sahen alle Häuser so aus wie in meiner Nachbarschaft. Die Leute erzählten von Friedhöfen, ich lebte neben einem Friedhof. Alles sah für mich so realistisch aus, als könnte es gleich nebenan passieren."

Die Verehrung so genannter B-Filme, die trashige Seite der amerikanischen Popkultur, prägt Tim Burtons Filme bis heute. Um Logik und Psychologie macht er sich kaum Gedanken, ihn faszinieren starke, direkte Symbole, Urbilder der Angst und Erotik.

Burton begann als fest angestellter Zeichner bei Disney, wo er seiner Kreativität freien Lauf lassen durfte. Seine Entwürfe wurden aber selten für Filme verwendet.

Burtons erster Kurzfilm "Vincent" war eine Hommage an den Horrorstar Vincent Price. Der spielte später seine letzte Leinwandrolle in Burtons "Edward mit den Scherenhänden" und äußerte sich begeistert über den jungen Regisseur.

Vincent Price: "Er ist der gleiche Junge mit dem gleichen Enthusiasmus für das Kino. Er hat wunderbare Ideen und nutzt die visuellen Möglichkeiten des Kinos, das ist eins seiner großen Talente."

Tim Burton erzählt von Monstern, Geistern, kopflosen Reitern in perfekt komponierten Bildern. Er dreht selten draußen und häufig in Studios, wo er durchgestylte, künstliche Welten erschaffen kann. Die schrägen Fantasien seiner Helden nehmen hier Gestalt an.

Einige der besten Schauspieler Hollywoods arbeiten regelmäßig mit Burton und akzeptieren auch kleinere Rollen: Jack Nicholson, Christopher Lee, Helena Bonham Carter, Michael Keaton. Immer wenn die Hauptrolle besonders nah an Tim Burton selbst orientiert ist, spielt sie Johnny Depp.

Johnny Depp: "Wenn man irgendjemanden in der Filmindustrie als Künstler betrachten kann, ist es Tim. Ich halte wenige Leute für wirkliche Künstler. Er gehört dazu. Tim ist einer der wenigen Menschen, die man Genie und Visionär nennen kann."

Johnny Depp war Edward mit den Scherenhänden, dessen Punkfrisur dem strubbeligen Haar Burtons sehr ähnelt. Depp spielte Ed Wood, den viele als "schlechtesten Regisseur der Welt" verspotten, den Burton aber als charismatischen Visionär zeigte.

Im neuen Film "Charlie und die Schokoladenfabrik" ist Johnny Depp der Kakaokünstler Willy Wonka, der sich – angeekelt durch Korruption und Verrat - von der Welt verabschiedet und seine Firma geschlossen hat. Er hat sich eine fantastische Traumwelt errichtet, die er mit Hilfe eines kleinwüchsigen Urwaldstamms, den Umpa-Lumpas, aufrechterhält.

Wonka hat eine Riesenfabrik so gestaltet, dass sie seiner Fantasie gehorcht. Nichts anderes hat Tim Burton mit der Filmindustrie geschafft. Seine Filme bewegen sich außerhalb von Marktstudien und Genregrenzen. Er ist sein eigenes Label geworden. Nach Jahren des Phantomdaseins lädt Willy Wonka fünf Kinder in sein Reich ein.

Filmszene:
"Ihr seid alle recht klein, oder?
Ja, wir sind ja auch Kinder.
Das ist keine Entschuldigung. Ich war nie so klein.
Klar waren Sie das.
War ich nicht. Ich weiß ganz genau, dass ich schon immer einen Hut auf meinem Kopf hatte. Seht euch eure kurzen, kleinen Ärmchen an. Ihr könntet gar nicht dran kommen.
Können Sie sich denn an Ihre Kindheit noch erinnern?
Klar kann ich das. Oder?"

Johnny Depp spielt einen stark geschminkten, affektierten Mann voller Ängste und Komplexe, dessen bizarre Bewegungen gelegentlich an Michael Jackson erinnern. Willy Wonkas Spielart des "Neverland" birgt viele Gefahren. Vier der fünf Kinder stammen aus reichen und bürgerlichen Familien, haben einen fiesen Charakter, sind gierig, verfressen, arrogant. Sie werden in den Müll geschmissen, blau gefärbt und aufgeblasen, geschrumpft und platt gewalzt.

Tim Burtons Herz gehört wieder den Außenseitern, dem zarten, weltfremden Willy Wonka und dem armen Jungen namens Charlie, der mit seiner Familie in einem kleinen, extrem schiefen Häuschen wohnt. Vier Großeltern liegen in einem Bett, es gibt nur Kohlsuppe zu essen, der Vater wird arbeitslos. Würde der Film in unserer Gegenwart spielen, bekäme er einen sozialkritischen Unterton. Das verhindert Tim Burton.

Tim Burton: " Man weiß nicht, wo es wirklich passiert. Es ist eine Fabel. Wenn man diese Geschichte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit spielen lässt, verliert wie ihren Charme und ihre Magie. Ich erzähle sie in einer ganz eigenen Stadt, ohne zu beschreiben, wo sie wirklich ist."

Wo spielen Märchen? "Im Märchenland, zur Märchenzeit" – so steht es in vielen Theaterstücken und Kinderopern. Tim Burton hat sein eigenes, zeitloses Kinomärchenland entwickelt, in dem er immer neue Kontinente entdeckt. Was die Volkssagen für die Brüder Grimm waren, sind für ihn die Mythen der Popkultur, Frankenstein und Batman, Geistergeschichten und Kinderbücher.

Burtons Filme wirken direkt, sind witzig und gefühlvoll, aber in ihnen steckt auch ein ausgefeiltes Zeichensystem voller Anspielungen und Verweise. Als Willy Wonka in einer Rückblende das rote Band zur Eröffnung seiner Schokoladenfabrik durchschneidet, sieht er einen Moment lang aus wie Edward mit den Scherenhänden. Was Tim Burton damals über Edward gesagt hat, trifft auf alle seine Helden zu, besonders wenn sie von Johnny Depp gespielt werden.

Tim Burton: " Wenn ich Edward ansehe, bekomme ich sehr gemischte Gefühle. Da ist etwas in seinem Inneren, was gar nichts damit zu tun hat, wie er aussieht. Er ist einfach, kompliziert, schön, Angst einflössend, elegant, trottelig, alles, was im Leben so vorkommt…"

Service:

"Charlie und die Schokoladenfabrik" startet am 11. August in den deutschen Kinos.

Ein lesenswertes Buch über Tim Burton hat Helmut Merschmann geschrieben: "Tim Burton. (film: 5)", erschienen 2000 im Dieter Bertz Verlag, Berlin
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