Zuflucht oder Zukunft
Auch in Russland ist die Mehrzahl der Blogger unpolitisch. Dennoch kommt dort, wo traditionelle Medien versagen, dem Internet eine wichtige Kontrollfunktion gegenüber dem Staat zu. Dessen Vertreter reagieren entsprechend mit Härte: Russische Cyberoppositionelle müssen mit Verfolgung und Verhaftung rechnen. Geheimdienste setzen Spitzel ein, die sich in den Foren tummeln.
"Einmal haben sie mich aufs Revier gebracht. Sie wollten mich einsperren, obwohl ich meinen Sohn noch gestillt habe. Da sitze ich in der Zelle, und plötzlich schießt Milch aus meiner Brust. Eine irrsinnige Situation. Gott sei dank haben sich die Bürgerrechtler für mich eingesetzt."
Die Polizei ließ die regimekritische Bloggerin Marina Litvinovich frei. Bald darauf haben sie zwei Schläger in Zivil bewusstlos geschlagen.
"Das war schon das zweite Mal, dass ich überfallen wurde. Viele Freunde von mir haben sie in den letzten Jahren getötet: Natalia Estemirowa, Anna Politkowskaja, und viele andere mehr. Das ist nun mal so: Wir leben in einer Zeit, in der wir für das, was wir tun, umgebracht werden können. Ich habe oft daran gedacht aufzuhören, aber nein, ich kann nicht schweigen. Ich kann eine Ungerechtigkeit nicht ertragen, bei mir kocht alles gleich hoch."
Das Internet ist in Russland mehr als ein Medium. Im Land des gleichgeschalteten Fernsehens beanspruchen die Akteure des Runets, die Blogger, die frei gewordene Stelle der Vierten Gewalt besetzt zu haben: Als am Moskauer Flughafen Domodedovo im Januar ein Selbstmordanschlag verübt wurde, verbreitete sich die Nachricht innerhalb von zwei Minuten über Twitter. Bald darauf erschien auf Youtube ein Video vom Tatort. Blogger meldeten erste Schätzungen von Opferzahlen.
Sie berichteten, beschlossen, Überlebenden zu helfen, während im offiziellen Fernsehen noch stundenlang Unterhaltungsshows und Serien liefen. Auch Präsident Medwedew soll über den Anschlag aus Twitter erfahren haben. Der viel gelesene Blogger Alexej Navalnyj bemerkte:
"Wir beobachten derzeit das endgültige Sterben des Fernsehens als Informationsquelle."
Seit drei Jahren deckt Navalny Korruptionsaffären auf, bei denen es um Milliarden geht.
"Bevor Sie das Folgende lesen, schauen Sie bitte in ihr Portemonnaie. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass darin 1100 Rubel beziehungsweise 30 Euro fehlen? Das mag für Sie persönlich nicht so viel sein, aber dieses Geld wurde jedem einzelnen volljährigen Bürger Russlands gestohlen."
Navalny ist Aktionär bei vielen russischen Großunternehmen. Zwar besitzt der Blogger nur jeweils ein, zwei Aktien, aber sie berechtigen ihn, Rechenschaftsberichte einzusehen. Navalny veröffentlicht in seinem Blog Hunderte eingescannte Seiten, die belegen sollten, dass Manager des Konzerns Transneft drei Milliarden Euro Staatsgelder veruntreut und jedem russischen Steuerzahler damit umgerechnet 30 Euro gestohlen haben. 10.000 Menschen haben diesen Blogeintrag kommentiert - das offizielle Fernsehen verlor hingegen kein einziges Wort über die Affäre.
Ohnehin kommen heute viele junge Russen, die in den Großstädten des Landes leben, nur noch dann in die Nähe eines Fernsehgeräts, wenn sie ihre Eltern besuchen oder wenn sie, wie der gesellschaftskritische Rapper Noize MC, in einem Hotel wohnen.
"Der erste Kanal soll sich zum Teufel scheren, der zweite auch, alles derselbe Schrott. Im Dritten und im Vierten und im Fünfzigsten - überall Volltrottel. Also schmeiß ich den Fernseher aus dem Hotelfenster. Er fällt aufs Dach eines Geländewagens – ist mir doch egal, ich bin ja ein Popstar."
Mit seinen Youtube-Clips hat Noize MC landesweite Berühmtheit erlangt. Zunächst richtete sich das Interesse des Offline-Publikums auf ihn, dann das Augenmerk der Obrigkeit.
Während einer Tournee wurde der Rapper verhaftet und für ein polizeikritisches Lied zu 10 Tagen Haft verurteilt. Politische Internetaktivisten - wie Marina Litvinovich - die Korruption und Machtmissbrauch aufdecken, werden noch härter angefasst. Aber es gibt auch Blogger, die sich bestens mit den russischen Begebenheiten arrangieren und es sogar zu beträchtlichem Wohlstand gebracht haben.
Einer von ihnen ist Anton Nossik, der wohl bekannteste Blogger Russlands. Seine Haustür ist mit Zahlenschloss und Gegensprechanlage ausgerüstet. Vor der Wohnung hat er zusätzlich eine Tür aus gepanzertem Stahl installiert. Eine Videokamera überwacht die Besucher. Im Gegensatz zur Internetaktivistin Litvinovich muss Nossik keinen Überfall der Staatsgewalt befürchten. Doch wie alle Mitglieder der wohlhabenden Mittelschicht kommt er nicht umhin, aufwändige Maßnahmen gegen Diebstahl und Einbruch zu treffen.
Aber heute steckt der Schlüssel außen in Nossiks aufwändig gepanzerter Wohnungstür. Der Blogger war gestern Nacht im Szeneclub Roter Oktober unterwegs. Er ist spät nach Hause gekommen und hat bis nach Mittag geschlafen.
Erst nachmittags um eins erscheint Nossik in Sporthose und Trägershirt in der Tür, einen silbernen Davidstern auf der nackten Brust, in der Hand eine brennende Zigarette. "Kann schon vorkommen", sagt er in Bezug auf den Schlüssel.
Nossik ist Mitte vierzig. Er steht im Ruf, Mitte der 90er Jahre das gesamte russischsprachige Internet allein geschrieben zu haben. Damals lebte er in Israel. Es war noch die Zeit, in der das Internet hauptsächlich für den Emailverkehr genutzt wurde. Und das allein war schon eine Revolution:
"Für die israelischen Russen war es extrem wichtig, mit ihren Verwandten in der ehemaligen Sowjetunion im Kontakt zu bleiben. Die Post konnte man vergessen. Also lief das so: Ein Bekannter von Bekannten irgendwo in Israel will nach Moskau fliegen. Man fährt zu seinem Wohnort und übergibt ihm einen Brief. Wenn er dann in Moskau angekommen ist, ruft er dort den Empfänger an. Dieser kommt nach Moskau und holt seinen Brief ab. Das war ein Riesenaufwand, nur um ein paar Texte auszutauschen. Die Datenübertragung per Email kam da wie ein Wunder, Grenzen und Entfernungen waren plötzlich wie weggezaubert."
Die meisten Email-Nutzer verbrachten damals nur wenige Minuten im Netz, wo sie die Dienste teuer bezahlen mussten. In Moskau kostete die Minute bis zu 5 Euro. Die Internetanbieter klagten wiederum über das stagnierende Geschäft. Um ihre Kunden länger online zu halten, suchten Provider in den USA, Israel oder Russland nach einem neuen Angebot. Der Moskauer Zugangsanbieter Sitiline stellte Nossik an, der eine Art online-Periodikum mit täglich neuen Einträgen schreiben sollte.
Der erste russische Blog hieß "Internet am Abend". Er hatte ganze 3000 Leser, was damals als Erfolg galt, sagt der Blogger belustigt.
"Heute wäre das nicht der Rede wert. Die beliebtesten Seiten haben mehrere Millionen Besucher. Aber 1996, da kann ich mich noch genau erinnern, schätzte der stellvertretende Kommunikationsminister die Zahl der russischen Internetnutzer auf 60.000. Die entscheidende Rolle in der schnellen Verbreitung des Internets fiel dem bekannten Mäzen George Soros zu. Er investierte 100 Millionen Dollar in Internetzentren an dreiunddreißig russischen Universitäten. Ausschlaggebend war jedoch, dass diese Zentren auch private Firmen ans Netz anschließen konnten, und diese Firmen verkauften den Zugang an Privatpersonen weiter. So konnte schließlich jeder ins Internet."
Für George Soros war das Internet ein Mittel zum Zweck, Russland in eine offenere Gesellschaft zu verwandeln. Und der Finanzspekulant hat sein Ziel erreicht – allerdings nur im Cyberspace. Die Internetgemeinde Russlands zählt heute 40 Millionen Menschen. Das ist ein Drittel der Bevölkerung, das sich hauptsächlich übers Internet informiert. Die Staatssicherheit speichert zwar alle übertragenen Daten, aber die Inhalte im Internet unterliegen in Russland keiner Zensur so wie in China oder dem Iran.
Allerdings sei zwischen aktiven Internetnutzern und dem Rest des Landes heute in Russland ein Abgrund entstanden, sagt Anton Nossik.
"Das wird digital divide genannt, also digitale Spaltung, verursacht durch den unterschiedlichen Zugang zur Information. Aber es geht dabei nicht bloß darum, mehr oder weniger zu erfahren. Schauen sie sich die Leute an einem russischen Flughafen an. Einige von ihnen sind gekommen, nur um zu erfahren, dass ihr Flug eine Verspätung hat. Das sind die Leute, die auch in den langen Schlangen vor dem Check-In stehen. Und andere Menschen gehen einfach an ihnen vorbei. Sie sind nicht zu früh gekommen, weil sie aus dem Internet von der Verspätung erfahren haben. Sie müssen nicht Schlange stehen, weil sie ihre Bordkarten zuhause ausgedruckt haben. Sie haben die besseren vorderen Sitzplätze reserviert. Also kann man die digitale Spaltung in jedem Flugzeug beobachten: Vorne sitzen diejenigen, die das Internet nutzen, hinten der Rest."
Das Internet ist auch in Russland eine boomende Branche. Einige Online-Unternehmen haben einen Marktwert von mehreren Milliarden Euro. Anton Nossik hat viele Internetprojekte als Startup-Manager betreut. Er besitzt heute Anteile an Nachrichtenportalen und Blogplattformen. Von politischen Internetaktivisten wie Marina Litvinovich hält er nicht viel. In seinem populären Blog schreibt Nossik viel über neue technische Spielereien, die Gadgets, und fast gar nichts über Putin:
"Die Politik wurde in Russland abgeschafft. Aber eine Freiheit hat uns Putin nicht genommen: Die Freiheit, Geld zu verdienen. Und das ist die wahre Alternative zum Staat, der seine Aufgaben nicht erfüllt, der keine persönliche Sicherheit, keine gute Bildung und Medizin gewährleistet. Wenn ich Geld habe, kann ich diese Aufgaben selbst übernehmen. Ich installiere eine gepanzerte Wohnungstür oder schicke meinen Sohn auf eine Privatschule. Wie in jedem nicht demokratischen Land, gibt es auch in Russland eine Schicht, die für sich selbst ein durchaus komfortables Leben geschaffen hat. Das ist keine Realitätsflucht. Man schafft eine alternative Realität, die überaus real ist. Was aber den Rest der Bevölkerung angeht, denke ich oft an ein Projekt aus den 90er Jahren namens 'Subtropisches Russland'.
Das war der Name einer Partei, die Russland in ein subtropisches Land verwandeln wollte. Aber im Ernst: hier hat es noch nie eine funktionierende Demokratie gegeben, immer nur Chaos, Dummheit und Diebstahl. Und ich kann das nicht ändern."
Die regimekritische Bloggerin Marina Litvinovich sitzt in einem Kaffeehaus vor ihrem Notebook. Hier ist mein Büro, sagt sie.
"Heutzutage gibt es eine neue Art von Büros: man arbeitet im Cafe. Entscheidend ist für mich, dass der Kaffee hier exzellent ist, dass es hier Wireless und viele Steckdosen gibt. Was braucht ein Internetmensch mehr?"
Litvinovich ist Mitte dreißig. Früher war sie eine der bekanntesten Politikmanager Russlands, Spezialistin für politische Manipulation. Im Auftrag des Kremls führte sie Diffamierungs-Kampagnen gegen die Gegner das damaligen Präsidenten Jelzin. Später arbeitete sie im Wahlkampf für den Präsidentschaftskandidaten Wladimir Putin. Nach Putins Amtsantritt wurde Litvinovich ein Büro im Kreml in Aussicht gestellt. Doch der rasante Demokratieabbau unter dem neuen Regime ging ihr zu weit.
Litvinovich setzte ihre Tätigkeit als Spin Doctor bei einer liberalen Oppositionsgruppe fort. Damals wurde sie zum ersten Mal Opfer eines Überfalls und bekam Telefondrohungen gegen ihren Sohn. Schließlich hat sie das dubiose Politikgeschäft ganz verlassen. Statt im Kreml arbeitet sie heute im Cafe "Koffein".
Hier schreibt sie an ihrem Blog. Von hier aus moderiert sie die Internetplattform BesTToday.ru, auf der Nachrichten aus den wichtigsten politischen Blogs zusammengeführt werden.
"Was mich optimistisch macht, ist die neue Öffentlichkeit, die im Internet entstanden ist. Das ist eine starke Bewegung, und sie wird die politische Landschaft Russlands verändern. Die alte Politik stirbt. Schauen Sie sich doch die Leute hier im Cafe an. Ich würde um alles Wetten, dass keiner von diesen Studenten und Unternehmern Mitglied einer Partei ist. Aber sie alle sind Mitglieder von Internet-Netwerken. Sogar unpolitische Communities werden früher oder später politisch aktiv. Ich selbst war bis vor kurzem Mitglied in einer Schwangeren-Gruppe. Unpolitischer geht es kaum. Doch eines Tages wurde dort ein Gesetzesentwurf veröffentlicht, nach dem das Mutterschaftsgeld gekürzt werden sollte. Die Schwangeren haben sich organisiert, sie veranstalteten Mahnwachen, und nur vier Tage später versprach Präsident Medwedew, das Gesetz zu ändern. Seine Administration verfolgt genau, was in den Blogs steht. Auf vernünftige Einwände reagiert sie sehr schnell. Wie hat sich das System doch geändert! Heute sind die Blogs ein Element der politischen Struktur unserer Gesellschaft."
Nach Medwedews Amtsantritt hat Litvinovich die politische Opposition aufgerufen, das Reformversprechen des neuen Präsidenten zu unterstützen. Doch für ihre ehemaligen Mitstreiter und Auftraggeber war Medwedew lediglich eine Marionette Putins. Wegen angeblicher Kollaboration mit dem Regime verlor Litvinovich ihren letzten Halt in der traditionellen Politik. Als Plattform blieb ihr nur das Internet. Heute beobachtet Litvinovich sehr genau, was derzeit in der arabischen Welt passiert:
"Sollte es in Russland zu etwas Ähnlichem kommen, wird das Internet sicher nicht die eigentliche Ursache sein. Das Internet wird jedoch ermöglichen, dass Menschen sich organisieren, Informationen austauschen und eine einheitliche Handlungslinie finden. Viele Probleme kann man nur auf der Straße lösen. Spätestens in drei oder fünf Jahren wird das Interesse für die Wahlen wieder erwachen. Der Umbruch in Russland wird mit einer gesellschaftlichen Kontrolle bei den Wahlen beginnen."
Vor kurzem hat die russische Internetgemeinde eine alternative Wahl des Moskauer Bürgermeisters durchgeführt. Alle offiziellen Kandidaten sind durchgefallen. Zum online-Bürgermeister wurde der Anti-Korruptionskämpfer Navalny gewählt. Vielleicht wird Russland eines Tages von einem Blogger regiert?
"Bestimmt! Und zwar schon im nächsten Jahr. Ich bin fest davon überzeugt, dass Medwedew der nächste Präsident wird. Es ist bei uns nicht so schwer, eine Prognose zu machen, schließlich haben wir bei der Wahl 2012 nur zwei Kandidaten. Natürlich fürchten viele, dass Putin zurückkommt, aber meiner Analyse und meiner Information nach wird Medwedew Präsident bleiben. Ich schließe ständig Wetten ab. Alle sind so pessimistisch. Sie sagen, Putin kommt wieder, aber ich setzte auf Medwedew. Und das heißt, dass ein Blogger Präsident wird. Meistens wette ich um eine Flasche guten Rotwein."
Die Polizei ließ die regimekritische Bloggerin Marina Litvinovich frei. Bald darauf haben sie zwei Schläger in Zivil bewusstlos geschlagen.
"Das war schon das zweite Mal, dass ich überfallen wurde. Viele Freunde von mir haben sie in den letzten Jahren getötet: Natalia Estemirowa, Anna Politkowskaja, und viele andere mehr. Das ist nun mal so: Wir leben in einer Zeit, in der wir für das, was wir tun, umgebracht werden können. Ich habe oft daran gedacht aufzuhören, aber nein, ich kann nicht schweigen. Ich kann eine Ungerechtigkeit nicht ertragen, bei mir kocht alles gleich hoch."
Das Internet ist in Russland mehr als ein Medium. Im Land des gleichgeschalteten Fernsehens beanspruchen die Akteure des Runets, die Blogger, die frei gewordene Stelle der Vierten Gewalt besetzt zu haben: Als am Moskauer Flughafen Domodedovo im Januar ein Selbstmordanschlag verübt wurde, verbreitete sich die Nachricht innerhalb von zwei Minuten über Twitter. Bald darauf erschien auf Youtube ein Video vom Tatort. Blogger meldeten erste Schätzungen von Opferzahlen.
Sie berichteten, beschlossen, Überlebenden zu helfen, während im offiziellen Fernsehen noch stundenlang Unterhaltungsshows und Serien liefen. Auch Präsident Medwedew soll über den Anschlag aus Twitter erfahren haben. Der viel gelesene Blogger Alexej Navalnyj bemerkte:
"Wir beobachten derzeit das endgültige Sterben des Fernsehens als Informationsquelle."
Seit drei Jahren deckt Navalny Korruptionsaffären auf, bei denen es um Milliarden geht.
"Bevor Sie das Folgende lesen, schauen Sie bitte in ihr Portemonnaie. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass darin 1100 Rubel beziehungsweise 30 Euro fehlen? Das mag für Sie persönlich nicht so viel sein, aber dieses Geld wurde jedem einzelnen volljährigen Bürger Russlands gestohlen."
Navalny ist Aktionär bei vielen russischen Großunternehmen. Zwar besitzt der Blogger nur jeweils ein, zwei Aktien, aber sie berechtigen ihn, Rechenschaftsberichte einzusehen. Navalny veröffentlicht in seinem Blog Hunderte eingescannte Seiten, die belegen sollten, dass Manager des Konzerns Transneft drei Milliarden Euro Staatsgelder veruntreut und jedem russischen Steuerzahler damit umgerechnet 30 Euro gestohlen haben. 10.000 Menschen haben diesen Blogeintrag kommentiert - das offizielle Fernsehen verlor hingegen kein einziges Wort über die Affäre.
Ohnehin kommen heute viele junge Russen, die in den Großstädten des Landes leben, nur noch dann in die Nähe eines Fernsehgeräts, wenn sie ihre Eltern besuchen oder wenn sie, wie der gesellschaftskritische Rapper Noize MC, in einem Hotel wohnen.
"Der erste Kanal soll sich zum Teufel scheren, der zweite auch, alles derselbe Schrott. Im Dritten und im Vierten und im Fünfzigsten - überall Volltrottel. Also schmeiß ich den Fernseher aus dem Hotelfenster. Er fällt aufs Dach eines Geländewagens – ist mir doch egal, ich bin ja ein Popstar."
Mit seinen Youtube-Clips hat Noize MC landesweite Berühmtheit erlangt. Zunächst richtete sich das Interesse des Offline-Publikums auf ihn, dann das Augenmerk der Obrigkeit.
Während einer Tournee wurde der Rapper verhaftet und für ein polizeikritisches Lied zu 10 Tagen Haft verurteilt. Politische Internetaktivisten - wie Marina Litvinovich - die Korruption und Machtmissbrauch aufdecken, werden noch härter angefasst. Aber es gibt auch Blogger, die sich bestens mit den russischen Begebenheiten arrangieren und es sogar zu beträchtlichem Wohlstand gebracht haben.
Einer von ihnen ist Anton Nossik, der wohl bekannteste Blogger Russlands. Seine Haustür ist mit Zahlenschloss und Gegensprechanlage ausgerüstet. Vor der Wohnung hat er zusätzlich eine Tür aus gepanzertem Stahl installiert. Eine Videokamera überwacht die Besucher. Im Gegensatz zur Internetaktivistin Litvinovich muss Nossik keinen Überfall der Staatsgewalt befürchten. Doch wie alle Mitglieder der wohlhabenden Mittelschicht kommt er nicht umhin, aufwändige Maßnahmen gegen Diebstahl und Einbruch zu treffen.
Aber heute steckt der Schlüssel außen in Nossiks aufwändig gepanzerter Wohnungstür. Der Blogger war gestern Nacht im Szeneclub Roter Oktober unterwegs. Er ist spät nach Hause gekommen und hat bis nach Mittag geschlafen.
Erst nachmittags um eins erscheint Nossik in Sporthose und Trägershirt in der Tür, einen silbernen Davidstern auf der nackten Brust, in der Hand eine brennende Zigarette. "Kann schon vorkommen", sagt er in Bezug auf den Schlüssel.
Nossik ist Mitte vierzig. Er steht im Ruf, Mitte der 90er Jahre das gesamte russischsprachige Internet allein geschrieben zu haben. Damals lebte er in Israel. Es war noch die Zeit, in der das Internet hauptsächlich für den Emailverkehr genutzt wurde. Und das allein war schon eine Revolution:
"Für die israelischen Russen war es extrem wichtig, mit ihren Verwandten in der ehemaligen Sowjetunion im Kontakt zu bleiben. Die Post konnte man vergessen. Also lief das so: Ein Bekannter von Bekannten irgendwo in Israel will nach Moskau fliegen. Man fährt zu seinem Wohnort und übergibt ihm einen Brief. Wenn er dann in Moskau angekommen ist, ruft er dort den Empfänger an. Dieser kommt nach Moskau und holt seinen Brief ab. Das war ein Riesenaufwand, nur um ein paar Texte auszutauschen. Die Datenübertragung per Email kam da wie ein Wunder, Grenzen und Entfernungen waren plötzlich wie weggezaubert."
Die meisten Email-Nutzer verbrachten damals nur wenige Minuten im Netz, wo sie die Dienste teuer bezahlen mussten. In Moskau kostete die Minute bis zu 5 Euro. Die Internetanbieter klagten wiederum über das stagnierende Geschäft. Um ihre Kunden länger online zu halten, suchten Provider in den USA, Israel oder Russland nach einem neuen Angebot. Der Moskauer Zugangsanbieter Sitiline stellte Nossik an, der eine Art online-Periodikum mit täglich neuen Einträgen schreiben sollte.
Der erste russische Blog hieß "Internet am Abend". Er hatte ganze 3000 Leser, was damals als Erfolg galt, sagt der Blogger belustigt.
"Heute wäre das nicht der Rede wert. Die beliebtesten Seiten haben mehrere Millionen Besucher. Aber 1996, da kann ich mich noch genau erinnern, schätzte der stellvertretende Kommunikationsminister die Zahl der russischen Internetnutzer auf 60.000. Die entscheidende Rolle in der schnellen Verbreitung des Internets fiel dem bekannten Mäzen George Soros zu. Er investierte 100 Millionen Dollar in Internetzentren an dreiunddreißig russischen Universitäten. Ausschlaggebend war jedoch, dass diese Zentren auch private Firmen ans Netz anschließen konnten, und diese Firmen verkauften den Zugang an Privatpersonen weiter. So konnte schließlich jeder ins Internet."
Für George Soros war das Internet ein Mittel zum Zweck, Russland in eine offenere Gesellschaft zu verwandeln. Und der Finanzspekulant hat sein Ziel erreicht – allerdings nur im Cyberspace. Die Internetgemeinde Russlands zählt heute 40 Millionen Menschen. Das ist ein Drittel der Bevölkerung, das sich hauptsächlich übers Internet informiert. Die Staatssicherheit speichert zwar alle übertragenen Daten, aber die Inhalte im Internet unterliegen in Russland keiner Zensur so wie in China oder dem Iran.
Allerdings sei zwischen aktiven Internetnutzern und dem Rest des Landes heute in Russland ein Abgrund entstanden, sagt Anton Nossik.
"Das wird digital divide genannt, also digitale Spaltung, verursacht durch den unterschiedlichen Zugang zur Information. Aber es geht dabei nicht bloß darum, mehr oder weniger zu erfahren. Schauen sie sich die Leute an einem russischen Flughafen an. Einige von ihnen sind gekommen, nur um zu erfahren, dass ihr Flug eine Verspätung hat. Das sind die Leute, die auch in den langen Schlangen vor dem Check-In stehen. Und andere Menschen gehen einfach an ihnen vorbei. Sie sind nicht zu früh gekommen, weil sie aus dem Internet von der Verspätung erfahren haben. Sie müssen nicht Schlange stehen, weil sie ihre Bordkarten zuhause ausgedruckt haben. Sie haben die besseren vorderen Sitzplätze reserviert. Also kann man die digitale Spaltung in jedem Flugzeug beobachten: Vorne sitzen diejenigen, die das Internet nutzen, hinten der Rest."
Das Internet ist auch in Russland eine boomende Branche. Einige Online-Unternehmen haben einen Marktwert von mehreren Milliarden Euro. Anton Nossik hat viele Internetprojekte als Startup-Manager betreut. Er besitzt heute Anteile an Nachrichtenportalen und Blogplattformen. Von politischen Internetaktivisten wie Marina Litvinovich hält er nicht viel. In seinem populären Blog schreibt Nossik viel über neue technische Spielereien, die Gadgets, und fast gar nichts über Putin:
"Die Politik wurde in Russland abgeschafft. Aber eine Freiheit hat uns Putin nicht genommen: Die Freiheit, Geld zu verdienen. Und das ist die wahre Alternative zum Staat, der seine Aufgaben nicht erfüllt, der keine persönliche Sicherheit, keine gute Bildung und Medizin gewährleistet. Wenn ich Geld habe, kann ich diese Aufgaben selbst übernehmen. Ich installiere eine gepanzerte Wohnungstür oder schicke meinen Sohn auf eine Privatschule. Wie in jedem nicht demokratischen Land, gibt es auch in Russland eine Schicht, die für sich selbst ein durchaus komfortables Leben geschaffen hat. Das ist keine Realitätsflucht. Man schafft eine alternative Realität, die überaus real ist. Was aber den Rest der Bevölkerung angeht, denke ich oft an ein Projekt aus den 90er Jahren namens 'Subtropisches Russland'.
Das war der Name einer Partei, die Russland in ein subtropisches Land verwandeln wollte. Aber im Ernst: hier hat es noch nie eine funktionierende Demokratie gegeben, immer nur Chaos, Dummheit und Diebstahl. Und ich kann das nicht ändern."
Die regimekritische Bloggerin Marina Litvinovich sitzt in einem Kaffeehaus vor ihrem Notebook. Hier ist mein Büro, sagt sie.
"Heutzutage gibt es eine neue Art von Büros: man arbeitet im Cafe. Entscheidend ist für mich, dass der Kaffee hier exzellent ist, dass es hier Wireless und viele Steckdosen gibt. Was braucht ein Internetmensch mehr?"
Litvinovich ist Mitte dreißig. Früher war sie eine der bekanntesten Politikmanager Russlands, Spezialistin für politische Manipulation. Im Auftrag des Kremls führte sie Diffamierungs-Kampagnen gegen die Gegner das damaligen Präsidenten Jelzin. Später arbeitete sie im Wahlkampf für den Präsidentschaftskandidaten Wladimir Putin. Nach Putins Amtsantritt wurde Litvinovich ein Büro im Kreml in Aussicht gestellt. Doch der rasante Demokratieabbau unter dem neuen Regime ging ihr zu weit.
Litvinovich setzte ihre Tätigkeit als Spin Doctor bei einer liberalen Oppositionsgruppe fort. Damals wurde sie zum ersten Mal Opfer eines Überfalls und bekam Telefondrohungen gegen ihren Sohn. Schließlich hat sie das dubiose Politikgeschäft ganz verlassen. Statt im Kreml arbeitet sie heute im Cafe "Koffein".
Hier schreibt sie an ihrem Blog. Von hier aus moderiert sie die Internetplattform BesTToday.ru, auf der Nachrichten aus den wichtigsten politischen Blogs zusammengeführt werden.
"Was mich optimistisch macht, ist die neue Öffentlichkeit, die im Internet entstanden ist. Das ist eine starke Bewegung, und sie wird die politische Landschaft Russlands verändern. Die alte Politik stirbt. Schauen Sie sich doch die Leute hier im Cafe an. Ich würde um alles Wetten, dass keiner von diesen Studenten und Unternehmern Mitglied einer Partei ist. Aber sie alle sind Mitglieder von Internet-Netwerken. Sogar unpolitische Communities werden früher oder später politisch aktiv. Ich selbst war bis vor kurzem Mitglied in einer Schwangeren-Gruppe. Unpolitischer geht es kaum. Doch eines Tages wurde dort ein Gesetzesentwurf veröffentlicht, nach dem das Mutterschaftsgeld gekürzt werden sollte. Die Schwangeren haben sich organisiert, sie veranstalteten Mahnwachen, und nur vier Tage später versprach Präsident Medwedew, das Gesetz zu ändern. Seine Administration verfolgt genau, was in den Blogs steht. Auf vernünftige Einwände reagiert sie sehr schnell. Wie hat sich das System doch geändert! Heute sind die Blogs ein Element der politischen Struktur unserer Gesellschaft."
Nach Medwedews Amtsantritt hat Litvinovich die politische Opposition aufgerufen, das Reformversprechen des neuen Präsidenten zu unterstützen. Doch für ihre ehemaligen Mitstreiter und Auftraggeber war Medwedew lediglich eine Marionette Putins. Wegen angeblicher Kollaboration mit dem Regime verlor Litvinovich ihren letzten Halt in der traditionellen Politik. Als Plattform blieb ihr nur das Internet. Heute beobachtet Litvinovich sehr genau, was derzeit in der arabischen Welt passiert:
"Sollte es in Russland zu etwas Ähnlichem kommen, wird das Internet sicher nicht die eigentliche Ursache sein. Das Internet wird jedoch ermöglichen, dass Menschen sich organisieren, Informationen austauschen und eine einheitliche Handlungslinie finden. Viele Probleme kann man nur auf der Straße lösen. Spätestens in drei oder fünf Jahren wird das Interesse für die Wahlen wieder erwachen. Der Umbruch in Russland wird mit einer gesellschaftlichen Kontrolle bei den Wahlen beginnen."
Vor kurzem hat die russische Internetgemeinde eine alternative Wahl des Moskauer Bürgermeisters durchgeführt. Alle offiziellen Kandidaten sind durchgefallen. Zum online-Bürgermeister wurde der Anti-Korruptionskämpfer Navalny gewählt. Vielleicht wird Russland eines Tages von einem Blogger regiert?
"Bestimmt! Und zwar schon im nächsten Jahr. Ich bin fest davon überzeugt, dass Medwedew der nächste Präsident wird. Es ist bei uns nicht so schwer, eine Prognose zu machen, schließlich haben wir bei der Wahl 2012 nur zwei Kandidaten. Natürlich fürchten viele, dass Putin zurückkommt, aber meiner Analyse und meiner Information nach wird Medwedew Präsident bleiben. Ich schließe ständig Wetten ab. Alle sind so pessimistisch. Sie sagen, Putin kommt wieder, aber ich setzte auf Medwedew. Und das heißt, dass ein Blogger Präsident wird. Meistens wette ich um eine Flasche guten Rotwein."