Zug der Zeit

Von Georg Biemann und Ulrich Land |
Bahnhofsuhren sind die einzigen Uhren, bei denen die Geschmeidigkeit der Kreisbewegung einmal pro Minute ins Stocken gerät. Der Sekundenzeiger wartet, bis der Minutenzeiger den Sprung nach vorn zum nächsten Minutenstrich wagt, um dann weiterzulaufen. Hinter diesem Minutensprung steckt eine dramatische Veränderung des Zeitbewusstseins.
"Meine Damen und Herrn an Gleis 6, willkommen in Köln Hauptbahnhof."

Es ist gespenstisch: Mitten in der Nacht, zwei Uhr, und hier im Hauptbahnhof stehn die Züge. Es tut sich nichts mehr auf den Gleisen. Kein Zug fährt ein, keiner geht raus. Uns erreichen gleichlautende Meldungen aus Flensburg und Garmisch-Partenkirchen. Dasselbe von Aachen bis Frankfurt an der Oder. Auf allen Bahnhöfen des Landes ruht der Verkehr. Was geht hier vor?

Da! Eine Frau ist jetzt ausgestiegen und nestelt an ihrer Armbanduhr.

Schmitz: "Fünf nach drei. Da kann doch irgendwas nicht stimmen oder? Sagen Sie mal, haben Sie ne genaue Zeit?"

"Bei mir ist es grade – 3 Uhr 7. Das kann aber auch nicht hinkommen, weil da oben auf der Bahnhofsuhr ist es gleich 2 Uhr 7."

Wieland: "Im Urlaub hab ich nie ne Uhr dabei. - Die Uhr nach der Bahn stellen! Wer sagt denn, dass deren Zeit da oben richtiger ist als Ihre?""

Udo Kampschulte: ""Im Verantwortungsbereich der Deutschen Bahn liegen weit über 100.000 Uhren, an allen Bahnhöfen sind die Uhren, auf jedem Bahnsteig sind sie mehrfach und teilweise noch in den Bürogebäuden, und deshalb kommt diese riesige Zahl zustande."

Udo Kampschulte, Pressesprecher der Deutschen Bahn im Rheinland.

Im 19. Jahrhundert gab es landauf landab voneinander abweichende Zeiten. Jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Dazwischen lagen nicht selten mehrere Minuten. Was allerdings niemanden aufregte. Die Reisezeiten der Postkutschen waren ohnehin dehnbar wie Gummi.

Das änderte sich allerdings mit der Einführung der Eisenbahn. Jetzt konnte man mit damals unvorstellbarer Geschwindigkeit Entfernungen zurücklegen, für die man vorher Tage, wenn nicht Wochen brauchte.

"Der Zeiger der großen Bahnhofsuhr weist bald auf halb zehn. Alles ist voller Erwartung. Das rote Fähnchen am Eingang des Bahnhofs winkt, die Glocke tönt - jetzt kommt er, der feuersprühende Drache, und das Pfeifen der Lokomotive tönt furchtbar wider im Gewölbe des Bahnhofs."

Aus dem "Morgenblatt für gebildete Leser", um 1840.

Man konnte jetzt relativ punktgenau sagen, wann man wo ankommt. Nur dann allerdings, wenn auf der ganzen Strecke alle Uhren gleich liefen.

Um dies zu gewährleisten, nahm man der Einfachheit halber eine Uhr mit auf Reisen. Für die Verbindung London-Dublin zum Beispiel wurde noch in den 1840er Jahren dem Postzug in London-Euston eine Uhr mitgegeben. Nicht irgendeine, sondern eine hochoffizielle Uhr, ausgehändigt von einem Boten der Admiralität. Nachdem der Zug in Holyhead an der englischen Westküste angekommen war, übergab man die Uhr einem Beamten der Kingston-Fähre, der sie ins irische Dublin schipperte. Von dort aus ging's schließlich nach London zurück. Und der Bote der Admiralität nahm sie wieder in Empfang.

Diese Bahnzeit war zunächst nur für die Fahrpläne gültig. Verließ man den Bahnhof, stellte man fest, dass draußen die Uhren ganz anders gingen.

Jedenfalls noch! Je mehr sich nämlich das Bahnnetz über das ganze Land ausdehnte, desto mehr etablierte sich ein überregionaler Fahrplan, der es einem ermöglichte, seinen Anschlusszug in Birmingham noch zu erwischen, wenn man in London zu einer bestimmten Zeit startete. Wenn aber auf den Gleisen quer durchs Land eine verlässliche Zeit gilt, weshalb sollte man sich dann weiter nach Uhrzeiten richten, die jedes Dorf und jede Stadt nach eigenem Gutdünken einstellte? 1880 war das Rennen entschieden: Die Bahnzeit wurde in England landesweit zur Standardzeit.

In den USA gestaltete sich die Sache ungleich komplizierter: Die einzelnen Bahnunternehmen konkurrierten gegeneinander und jedes benutzte auf seinen Bahnlinien eine eigene Uhrzeit. Und zwar meistens die Zeit, die dort tickte, wo die Bahngesellschaft ihren Sitz hatte. So kam es, dass bis 1883 in Nordamerika etwa auf dem Bahnhof von Pittsburgh sechs verschiedene Uhrzeiten angezeigt wurden, auf dem Bahnhof von Buffalo nur drei. Diesem Durcheinander wurde dann durch die Einführung der vier Zeitzonen in den USA ein Ende bereitet.

Erst zehn Jahre später zog Deutschland mit der Synchronisation von Bahn- und Ortszeit nach.

Gerrit Eckardt, Uhrensammler: "Das war halt ein Erfordernis im Zuge der Industrialisierung und der Verknüpfung jetzt durch die Bahn, dass man also bestrebt war, wirklich von diesen Regionalzeiten, die wir hier auch mal in Deutschland hatten, eben wegzukommen und also wirklich eine möglichst einheitliche Zeitangabe zu erreichen. Und man hat es dann erst mal innerhalb von Orten, Städten, Fabriken durch dieses System der Mutteruhr und der Nebenuhren dann gelöst und ist dann aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts dazu übergegangen, dass man jetzt auch über riesengroße Entfernung, also jetzt innerhalb verschiedener Orte oder innerhalb des ganzen Landes da eine Synchronisationseinrichtung geschaffen hat. Das war beispielsweise dieses "Normalzeitsystem", was es dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, was eben auch Telefonbau & Normalzeit - wie der Name schon sagt - entwickelt hat."

Die Eisenbahn war also der entscheidende Motor, die Zeit als eine einheitliche, über die Landesgrenzen hinweg abgestimmte Größe festzulegen. Und damit tickte die Bahnhofsuhr den neuen Zeitgeist der Pünktlichkeit in die Köpfe der Zeitgenossen.

Nicht von ungefähr wurden praktisch zur gleichen Zeit in den Fabrikhallen Uhren aufgehängt, die die Arbeiter einer verschärften Zeitdisziplin unterwarfen. Überhaupt erwies sich die Zeitmessung als ein ganz zentrales Instrument der Industriegesellschaft, weil sie die Aufteilung der Wirtschaftsprozesse in Teilabschnitte ermöglichte, an denen man sich orientieren konnte. Solange die Produktion in Heimarbeit und in kleinen Werkstätten abgewickelt wurde, und zwar weitgehend ohne Arbeitsteilung, war auch der Bedarf an synchronisierter Zeitmessung gering. Dieses "Komm ich heut nicht, komm ich morgen" aber hatte unter industriellen Arbeitsbedingungen keine Gültigkeit mehr.

Die Diktatur der Pünktlichkeit schlug sich ganz handfest in den Stechuhren nieder. Am 20. Dezember 1887 meldete die Chicago Time Recording Company einen Vorläufer dieser Geräte beim US-Patentamt an: Patentnummer 3 75 0 87.

Für die Eisenbahn und ihre Fahrgäste war der Gleichklang der Uhren von existenzieller Bedeutung.

Josef Gerdemann: "Wenn die Eisenbahn nicht die gleiche Zeit an allen Orten hätte, wo sie fährt, hätte sie keine Chance, einen Fahrplan einzuhalten. Denn wenn wir die Braunschweiger Zeit nehmen, und der fährt dann zu der Fahrplanzeit in Braunschweig nach Berlin rüber, und er kommt dann in einer Berliner Zeit an, die überhaupt nicht dem synchron läuft, ist das Chaos vorprogrammiert!"

Josef Gerdemann, leitender Ingenieur bei der Telematik-Abteilung der Deutschen Bahn.

Kampschulte: "Auch bei Störungen, Streckensperrungen, die erforderlich sind, kommt es drauf an, dass man genau die identische Zeit hat. Weil diese Vereinbarungen immer zwischen mehreren Personen gemacht werden, und die müssen wissen: um 15:21 Uhr ist das und das zu machen oder ist das und das passiert. Und deshalb ist es eine sehr, sehr wichtige Sache, dass die Uhren alle synchron die gleiche Zeit zeigen."

Gerdemann: "Wir nutzen die Zeiten, die wir in Mutteruhren oder in Nebenuhren abbilden, auch für andere Zwecke. Ja? Auf den Stellwerken sind zum Beispiel Zugnummerndrucker, wo der Fahrdienstleiter sehen kann, wie seine Züge fahren. Und da wird auch die Uhrzeit eingespeist, in diese Drucker, so dass da synchron zur Zugnummer die Fahrzeit mit aufgedruckt wird."

Kampschulte: "Genauso war jeder Angestellte verpflichtet, eine richtig zeigende Uhr zu tragen. Und das auch mindestens einmal am Tag zu kontrollieren, dass die richtige Uhrzeit angezeigt wird."’"

Gerdemann: ""Da gab es das Leitungsnetzwerk noch nicht. Da wurde morgens der Fahrdienstleiter angerufen. Dann gab es eine zentrale Stelle, die die richtige Uhr hatte. Dann wurde dort angerufen. Dann hat der seine Uhr synchronisiert, per Hand, hat er das Pendel verstellt, hat den Zeiger richtig gestellt, und damit war er wieder synchron für alle da. Das ist aber schon ewige Zeiten her."

"Bitte beachten Sie folgende Kundendienstdurchsage: Herr Georg Hampe, Herr Georg Hampe, bitte kommen Sie zum Servicepoint in die Haupthalle, Ausgang Dom-Seite. Sie werden hier erwartet. Vielen Dank"

Da vorne steht ein ganzer Pulk von Leuten auf dem Bahnsteig, die wie wir darauf warten, dass sich die Züge wieder in Bewegung setzen. Jetzt stellen sie sich zusammen, man formiert sich. Es sieht, Verzeihung, etwas militärisch aus. Ah, der ältere Herr, der sich da vorne vis-à-vis von den anderen aufbaut, das scheint der Dirigent zu sein.

Chor aus Fahrgästen:
Chor:" Rauschen die Quellen"
Chorleiter: "Halt! Können wir das etwas leiser singen: Rauschen die Quellen - nicht zu laut!"
Chor:" Rauschen die Quellen ..."

Schmitz: "Na, ob der Dirigent auch für die schrägen Töne zuständig ist?"

Wieland: "Hauptsache, die haben jemanden, dem sie nach der Pfeife tanzen können."

Damit man landesweit auf allen Bahnhöfen exakt die gleiche Zeit anzeigen konnte, brauchte man eine technische Einrichtung, die als Taktgeber für die Uhren funktionierte. Am einfachsten ließ sich das Problem dadurch lösen, dass man nur eine wirkliche Uhr hatte und viele so genannte Nebenuhren, die aber nicht selbstständig die Zeit maßen. Sie waren lediglich Filialen des einzigen echten Chronometers, das beim Bahnhofsvorsteher stand. Die Nebenuhren hatten weder ein vollständiges Zahnräderwerk noch ein Pendel oder eine Unruhe, also alles das nicht, was man für eine autonome Zeitmessung braucht. Es waren lediglich Anzeigeinstrumente einer Zeit, die in der Hauptuhr - oder: "Mutteruhr" - tickte. Wenn diese stehen blieb, dann standen alle Uhren eines Bahnhofs still.

Einmal pro Minute schickte die Hauptuhr beim Bahnhofsvorsteher einen elektrischen Impuls durch ein Kabelnetz an die Nebenuhren. Dieser Impuls schaltete dann einen Elektromagneten an, wodurch ein Zahnrad einen Zahn weitergeschoben wurde. Stand der Fahrgast auf dem Bahnsteig und schaute auf die Bahnhofsuhr, sah er, wie der Minutenzeiger um einen Strich weitergeschoben wurde. Der so genannte Minutensprung! Dieser wurde also von allen Uhren eines Bahnhofs zur gleichen Zeit ausgeführt.

Eckardt: "Wenn Sie also draußen oder in einer Behörde, in einem öffentlichen Gebäude oder am Bahnhof eine Uhr sehen, wo der Minutenzeiger eine springende Bewegung von der einen auf die nächste Minute macht, ist das ein ganz klares Indiz dafür, dass es sich um eine Nebenuhr handelt, die von einer irgendwo in der Ferne befindlichen Mutter- oder Hauptuhr oder Uhrenzentrale angesteuert wurde."

Es gab eine regelrechte Uhrenhierarchie: Die Hauptuhren der einzelnen Bahnhöfe erhielten ihre korrekte Zeit von regionalen Uhrenzentralen. Diese wiederum hingen am Tropf der obersten Zeitzentrale.

Eckardt: "Dort war quasi die aller-aller-übergeordnetste Hauptuhr der Bahn, die ‚Großmutteruhr’. Die wurde vom Deutschen Hydrographischen Institut damals mit der genauen, exakten Sternwartenzeit - kann man sagen - versorgt."

Uhrensammler Gerrit Eckardt.

Eckardt: "Die Abhängigkeit einer Nebenuhr, einer untergeordneten Zeitangabe mit einer Hauptuhr, hat sich sehr schnell als vorteilhaft herausgestellt. Dass man also in Fabriken, in Verkehrsbetrieben und größeren öffentlichen Gebäuden eben wirklich eine einheitliche Zeit hatte und eben nicht jede einzelne von ein paar hundert Uhren per Hand dann immer jeden Tag nachstellen musste. Das war schon so in der Zeit ab 1870, 1880 gibt's da schon die ersten Patente für solche Nebenuhrwerke. Das wurde dann immer mehr vervollkommnet. Und Anfang des 20. Jahrhunderts kamen dann die ersten Hauptuhren, die dann auch elektrisch aufgezogen wurden, wo also so menschliche ‚Vergesslichkeiten’, sage ich mal, möglichst ausgeschaltet werden sollten."

Im Jahr 1913 nahm der Frankfurter Unternehmer Harry Fuld elektrische Uhren in sein Sortiment auf. Eigentlich vermietete seine "Privat-Telefon-Gesellschaft H. Fuld & Co" Telefonapparate und bot zugleich einen entsprechenden Vor-Ort-Reparaturservice an. Das gleiche Konzept übernahm er schließlich für die Uhrensparte. Um eine schnelle und präzise Wartung zu ermöglichen, trennte sein Ingenieur Gustav Schönberg das Uhrwerk der Hauptuhren in zwei Komponenten: einerseits das Zahnradwerk für die Zeiger und andererseits den Aufzugmechansimus mit dem Pendel.

Eckardt: "... jetzt können Sie mit einem Handgriff - fass ich hier mal hinter - das Uhrwerk abnehmen und haben jetzt hier zu Wartungs- und Servicezwecken das komplette Uhrwerk zur Hand, können sich das anschauen, ob da alles in Ordnung ist. Sie müssen keinen elektrischen Kontakt lösen. Sie haben hier im Uhrenkasten verblieben den kompletten Aufzug; das ist hier mit so einem Schwungrad gelöst, an dem ein Gewicht hängt. Das klappert jetzt ein bisschen, wenn das Uhrwerk abgeht. Also dieses Prinzip, was der Herr Schönberg da in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts patentiert hat, das ist nach wie vor so."

Als Fuld 1932 starb, hinterließ er ein Unternehmen, das in ganz Europa der führende Schwachstromkonzern war, mit Hunderten von Filialen im Telefon- und Uhrensektor. Das von Fuld verbreitete "Normalzeitsystem", also über eine Hauptuhr etliche Nebenuhren als reine Anzeigeinstrumente zu verwenden, hatte sich reichsweit auf den Bahnhöfen durchgesetzt.

Gerdemann: "Das müssen Sie sich vorstellen wie eine riesengroßes Spinnennetz, dort sind Uhrenleitungen, die die Mutteruhren miteinander verbinden, und von den Mutteruhren gehen wieder die Nebenuhren ab. Wo dann bis zu 50 Uhren pro Linie angeschaltet werden können. Das Ganze wurde dann synchronisiert von einer Stelle. Damit wir hundertprozentig Gleichlauf hatten in der Republik."

Nach der Errichtung des Nazi-Regimes geriet Fulds Unternehmen zunehmend unter Druck. Denn der Frankfurter Unternehmer war deutscher Jude gewesen und hatte in seinem Konzern zahlreiche jüdische Anteilseigner und Mitarbeiter. Staatlich organisierter Boykott und andere Repressalien führten dazu, dass das Unternehmen mehrfach umbenannt wurde. Geblieben ist letztlich der Name "Telefonbau und Normalzeit", T&N. Die Nazis drängten sämtliche jüdischen Anteilseigner aus dem Unternehmen, und 1935 mussten auf behördliche Anordnung fast 1500 Mitarbeiter jüdischer Abstammung rausgeworfen werden.

Die technische Innovation der Fuldschen Ingenieure wurde von den Nazis fatalerweise auch dazu benutzt, die Fahrpläne für die Deportationszüge in die Vernichtungslager auf die Minute genau zu erstellen und einzuhalten.

"Zug-Nummer ‚Da 71’ von Aachen nach Theresienstadt am 25.Juli 1942

Aachen Hauptbahnhof, Abfahrt 9 Uhr 25
...
an Duisburg Hauptbahnhof 13 Uhr 47 -------- ab 13 Uhr 55
...
an Dresden Hauptbahnhof 7 Uhr 4 -------- ab 7 Uhr 20
...
an Theresienstadt am 26.Juli um 11 Uhr 26"
(nach einem Original-Dokument "Fahrplanauszug" in: Raul Hilberg, "Sonderzüge nach Auschwitz. Dokumente zur Eisenbahngeschichte", Band 18, Dumjahn-Verlag, Mainz 1981, S. 176)

"Auf Bestellung der Sicherheitspolizei verkehren folgende Sonderzüge [...] nach Auschwitz.
Oranczyce ab 0.59 im Plan M86
Brest-Litowsk an 3.37 ab 6.55 [...]
Bahnhof Oranczyce meldet Abfahrt, Anzahl der Personen, davon Kinder unter 10 Jahren, die Zahl der Begleitpersonen und die Achsenzahl an das Fahrplanbüro."
(Raul Hilberg, "Sonderzüge nach Auschwitz. Dokumente zur Eisenbahngeschichte",
Band 18, Dumjahn-Verlag, Mainz 1981, S. 215)

Eckardt: "Im gesamten deutschen Gebiet wurde um acht Uhr ein Zeitzeichen über sämtliche Morseapparate der Bahn gegeben. Und diese Hauptuhr hat sich dann in diese Morseleitung automatisch eingeschaltet. Dann wurde genau um acht Uhr das Uhrwerk entkoppelt vom Pendel, also das Pendel schwang weiter, und das Uhrwerk hatte aber keine Verbindung mehr mit dem Pendel. Und wenn dann dieses Zeitzeichen Punkt acht Uhr beendet war - das war ein Dauerimpuls per Morseleitung, der dann genau um acht Uhr abgeschaltet wurde - dann ist auch dieses Pendel wieder an das Uhrwerk rangekoppelt worden. Und dadurch stand dann die Hauptuhr auf Punkt acht Uhr und ist genau um acht Uhr wieder freigegeben worden. Und so hat man also in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg bis kurz danach über die Morseleitungen bei der Bahn die Hauptuhren synchronisiert."

"Noch immer hat sich kein Zug in Bewegung gesetzt. Die beiden Fahrgäste betrachten weiterhin kopfschüttelnd die Bahnhofsuhr. Was soll man auch anderes machen, möchte man sagen."

Schmitz: "Sehn Sie mal, haben Sie gemerkt – die Uhr hat Stromausfall."

Wieland: "Nee, jetzt läuft er doch weiter, der Zeiger."

Schmitz: "Ja: Jetzt. Aber eben ist er doch eindeutig oben hängen geblieben!"

"Der Herr hat Recht. Hab ich auch gesehn. Der Sekundenzeiger hat wirklich oben auf der Zwölf, na, ich würd sagen, zwei, drei Sekunden hat er schon gewartet.
Ist und bleibt 3 Uhr! 3:22 Uhr. Sagt auch mein Handy. Bloß diese dusselige Bahnsteiguhr behauptet steif und fest ..."

Schmitz: "Jetzt. Passen Sie mal auf, gleich isses wieder so weit. Wolln mal gucken – und da und da – er steht."

Wieland: "Steht wie angewurzelt."

Schmitz: "Einundzwanzig, zweiundzwanzig – jetzt läuft er wieder..."

"Rechnen Sie das mal hoch: Also zwei Sekunden pro Minute, macht 120 Sekunden in der Stunde – dann steht der Sekundenzeiger am Tag ..."

Schmitz: "... geschlagene 48 Minuten! Fast eine Stunde lang zeigt der Sekundenzeiger einer Bahnhofsuhr keine Zeit an."

"Was geht hier vor?"

Eckardt: "Wenn Sie eine alte T&N-Uhr, eine Vorkriegsuhr sich angucken, die sieht an sich genauso aus. Auch damals konnten Sie schon das Uhrwerk ganz leicht abnehmen vom Aufzug. Das hat sich also wirklich über viele, viele Jahrzehnte so fast unverändert erhalten. Das ist eigentlich ziemlich selten in so einer ja doch etwas schnelllebigeren technischen Zeit."

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühte man sich, das Nazi-Unrecht an dem Fuldschen Unternehmen rückgängig zu machen. Harry Fulds Söhne wurden wieder am Gesellschafterkapital beteiligt. T&N blieb für die Bahn auch weiterhin der bedeutendste Uhrenlieferant. Die bewährte Technik garantierte das Fortbestehen der erprobten Uhrenhierarchie.

Auf den Bahnsteigen: die Nebenuhren.

Im Bahnhof: die Mutteruhr.

An regionalen Knotenpunkten: die – nennen wir sie: "Großmutteruhr".

Und in der obersten Zeitzentrale: die "Urgroßmutteruhr".

Eckardt: "Bei der Bundesbahn in den 50er Jahren, in der Nachkriegszeit hat man das dann auch wirklich bis zum Exzess getrieben. Man wollte wirklich partout, dass auf dem letzten kleinen Bahnhof, jeder Station wirklich auf die Sekunde eine übereinstimmende Zeit im gesamten Bundesgebiet angezeigt wurde."

Weil man in all den zerstörten Bahnhöfen eh neue Uhren aufhängen musste, machte man aus der Not eine Tugend: Die Bahn ist pünktlicher als pünktlich, auf die Sekunde genau. Also muss ein Sekundenzeiger her, der uns zeigt, wie lang es noch bis zum nächsten Minutensprung dauert.

Gerdemann: "Die Züge sollen nach dem Zeigersprung los fahren, heißt, wenn der Minutenzeiger auf die nächste Minute, auf die Abfahrminute springt, soll der Zug hier abfahren. Das ist ein großes Ziel, was wir haben immer wieder, Pünktlichkeit lässt sich nur mit Zeigersprung erreichen."

"Donaukurier von Dortmund zur Weiterfahrt nach Wien-Westbahnhof meldet in der Ankunft zur Zeit eine Verspätung von etwa 50 Minuten voraus."

Kampschulte: "Das wird uns natürlich heutzutage zum Verhängnis! Wir sind ja das einzige Verkehrsmittel, das auf die Minute genau die Abfahrtzeit bekannt gibt und auf die Minute genau die Ankunftszeit. Und darauf werden wir festgenagelt! Keiner wagt sich, als Autofahrer zu sagen: ‚Ich fahre jetzt und 15:21 Uhr in Düsseldorf los und bin um 20:31 Uhr in München.’ Das macht nur die Deutsche Bahn. Da guckt natürlich auch jeder drauf, und selbst wenn wir Minuten später sind, dann sagt man schon per Handy ‚Ja, der Zug ist später’!"

Weil die Wechselfrequenz im normalen Stromnetz gelegentlich etwas schwankt, würde der von dieser Frequenz abhängige Sekundenzeiger aus dem Ruder laufen. Denn er wird von einem eigenen Elektromotor angetrieben. Damit aber trotz der möglichen Frequenzschwankungen gewährleistet ist, dass der Sekundenzeiger stets mit dem Minutenzeiger synchron läuft, also genau dann auf der Zwölf steht, wenn der Minutensprung stattfindet, wird sein Antriebsmotor während der letzten beiden Sekunden einer Minute ausgekuppelt und dreht im Leerlauf durch. Dann sendet die Hauptuhr den Minutenimpuls. Der Minutenzeiger wandert einen Strich weiter, und der Sekundenzeiger wird wieder freigegeben und dreht seine Runde, weil sein Motor wieder greift.

Da die Antriebssysteme der beiden Zeiger vollkommen unterschiedlich sind – hier mechanisch, dort mit Elektromotor –, kann das Synchronisieren von Minuten und Sekunden nicht einfach bei laufendem Sekundenzeiger vorgenommen werden. Nur wenn der Sekundenzeiger stockt und auf den eingehenden Minutenimpuls wartet, ist absoluter Gleichlauf gewährleistet.

Gerdemann: "Das ist ein ganz einfacher Trick, den wir hier anwenden müssen. Um sicherzustellen bei Frequenzschwankungen in dem E-Netz, zu verhindern, dass zum Beispiel der Minutensprung kommt, wenn der Sekundenzeiger schon zehn Sekunden weiter ist - das würde jeden irritieren: der ist schon über die zwölf weg, und die Uhr ist nicht weiter gesprungen - wird der Trick gemacht, dass dieser Zeiger zwei Sekunden schneller läuft als 60 Sekunden. Der läuft also in 58 Sekunden um die ganze Runde, wartet dann auf der zwölf, bis der Impuls kommt, dass die Uhr eine Minute weiter springt. Und damit kriegt der wieder sein Startsignal und läuft dann wieder los.""

Eckardt: ""Er bescheißt Sie pro Minute um ein, zwei Sekunden. ... die Abbremsung nach der Vollumrundung dann nach 57, 58 Sekunden und dann kommt der nächste Minutenimpuls. Dieser Hebel schert zur Seite aus und gibt den Sekundenzeiger dann wieder frei. Man kann so sagen, dass dieser Sekundenzeiger halt etwas schneller ist als die reguläre Minute, dass er aber jede Minute wieder auf die volle Minute dann synchronisiert wird. Er holt auf, bleibt dann kurz steht, darf sich ausruhen und wird dann wieder losgeschickt."

Man erzielt mit nur zwei Drähten, die den Minutenzeiger steuern, eine höchst genaue Zeitanzeige, indem man den Sekundenzeiger quasi ans Händchen nimmt.

Mit einfachsten Mitteln ein größtmöglicher Effekt.

"Nu, gehen Sie ruhig dran!"

Schmitz: "Oh, ich hab gedacht, das ist live hier. Stört das nicht?"

"Ja eben! Machen Sie Ihre SMS auf, damit das Bimmeln endlich aufhört."

Wieland: "Na, kommt was Wichtiges übern Äther? Ich persönlich mag ja keine Handys, aber - Geschmacksache."

"Sie grinsen so. Was Nettes?"

Schmitz: "Ach nichts. Nur'n Geburtstagsgruß."

Wieland: "Für Sie? – Um halb vier Uhr morgens!"

"Je nachdem welche Uhr Sie so angucken. Da oben jedenfalls ist es halb drei."

Wieland: "Völlig wurscht."

Die Entwicklung der Funktechnik in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass der Kontakt zwischen den Hauptuhren der einzelnen Bahnhöfe und der übergeordneten Zentraluhr inzwischen größtenteils nicht mehr über kilometerlange Kabel hergestellt wird, sondern per Funk!

Die Zeit kommt nicht mehr aus der Steckdose.

Zumindest die Synchronisation der Hauptuhren passiert durch digitale Funksignale. Und – moderne Zeiten! - auch als Taktgeber wählt man inzwischen eine vollkommen anders funktionierende Uhr. Die Atomuhr! Diese wird gesteuert vom Zerfall bestimmter Atome, der gemessen und per Funk als Signal ins Land gesendet wird. Jede Bahnhofsuhr, die einen entsprechenden Empfänger hat, bekommt dieses Signal mit und stellt sich darauf ein.

Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt mit Sitz in Braunschweig unterhält in Mainflingen bei Frankfurt am Main eine Atomuhr mit Sender, bekannt geworden unter dem Namen DCF-77. Inzwischen hört so manche Armbanduhr und mancher Wecker auf Mainflingen.

Gerdemann: "Und wir empfangen hier in unserer Mutteruhr in Düsseldorf, in unserer Quarzhauptuhr, empfangen wir dieses Signal, dadurch die Synchronisierung. Und damit haben wir den Schnitt in die Nebenuhren auf der Linie."

Eckardt: "Das hat sich natürlich schon auf breiter Front durchgesetzt. Das sind heute ganz kleine Plastikkästen. Da ist die DCF-Empfangseinrichtung drin, das Netzteil... da können Sie - ich sag mal - hundertfünfzig Nebenuhren dranhängen, und die zeigen dann alle die ganz aktuelle Atomzeit und schaltet sich automatisch von Sommer- auf Winterzeit um, ist idiotensicher, verschleißarm, wartungsfrei. Also, das ist schon technisch das Optimum, wofür man früher einen ganzen Raum mit immensem technischem Unterhaltungsaufwand benötigt hat."

Dabei ist die hierarchische Uhrenabstimmung nicht überflüssig geworden: Kontolliert von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, steht in Mainflingen die atomgetriebene Zentraluhr. Diese sendet in alle Himmelsrichtungen; und jeder, der es wünscht, kann sich einloggen und auf diesem Zug der Zeit mitfahren. Das Signal erreicht die Bahnhofshauptuhren. Und dann setzt meist noch das altbewährte Normalzeitsystem ein: Ein simpler Stromimpuls geht per Leitung zum Bahnsteig und schaltet dort die Nebenuhr um einen Minutenstrich weiter.

Gerdemann: "Sie können also die Fernsteuerung nicht für Sekundenimpulse wahrnehmen. Es werden immer nur Minutenimpulse gesendet. Auch der DCF-77-Sender synchronisiert pro Minute einmal. Der Aufwand steigt ins Unendliche, wenn man da sekundenmäßig steuert."

Es existieren allerdings auf den deutschen Bahnhöfen derzeit zwei Systeme nebeneinander. Denn teilweise ist auch die einzelne Bahnsteiguhr schon mit DCF-77-Empfängern ausgestattet.

Eckardt: "Die ist autonom. Die braucht nur Netzspannung 220 Volt und braucht keine Nebenuhrleitung zu einer Hauptuhr. Dadurch spart man natürlich immens viel an Fernmeldeleitung, die die Bahn in einem irrsinnigen Umfang unterhält oder unterhalten hat. Hier sind also keine Hauptuhren mehr nötig, sondern die Uhrwerke werden gesteuert über das DCF-77-Signal, sind also funkgenau mit der offiziellen Zeit der Bundesrepublik."

Etliche Tonnen an Kupferkabel werden eingespart, wenn man das Zeitzeichen "on air" sendet.

Aber! ...

Eckardt: "Diese Uhr ist ungleich aufwendiger und komplizierter von ihrem Aufbau, die moderne. Aber auch störungsanfälliger, muss man ganz klar sagen. Kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Hat sich auch bei der Bahn jetzt nicht so ganz durchgesetzt, dieses moderne Verfahren."

Gerdemann: "Offenbar ne gute Zielscheibe, um Steinwurfübungen zu machen. Ja? ‚Voll auf die 12!’"

Dagegen ist die alte Technik offenbar nicht kaputt zu kriegen.

Eckardt: "So'n Ding, da müssen Sie schon mit einem Auto drüber fahren. Wesentlich robuster, und das sind Uhrwerke, die 20, 30, 40 Jahre halten und immer noch funktionieren."

Jedenfalls: Der Minutensprung wird trotz eines gewissen technischen Mehraufwands auch in Zukunft erhalten bleiben. So die Aussage des Produktmanagers in der DB-Zentrale, Carsten Thiemann, der für die Ausstattung der Bahnhöfe zuständig ist:

Thiemann: "Also das ist eigentlich ein nostalgisches Überbleibsel, das wir aber, weil es sich inzwischen zu einem Markenzeichen der Bahn entwickelt hat, beibehalten. Inzwischen brauchen wir das durch die sehr genauen Uhren und Funksignale, die wir haben, nicht mehr. Aber, wie gesagt, aus nostalgischer Liebe zu diesem Detail bauen wir, zugegebenermaßen auch mit einigem Aufwand, auch die neuen Uhren mit diesem Merkmal."

Obwohl man keine gezielte Marktforschung zu diesem Detail betrieben habe und nicht wirklich wisse, ob die Bahnkunden das Ganze überhaupt wahrnehmen.

Und mit diesem winzigen Corporate Identity-Detail lässt sich sogar noch ein zusätzlicher Werbeeffekt erzielen: Bei den aktuellen Uhrenserien hat der Sekundenzeiger im äußeren Drittel einen roten Kreis, der wie eine Lupe genau über dem DB-Logo zum Stehen kommt. Zwei Sekunden lang! Während nämlich der Sekundenzeiger bei der 12 auf den Minutensprung wartet.

Selbst beim nagelneuen Hauptbahnhof in Berlin hat man auf dieses Detail nicht verzichten wollen.

"Zurückbleiben bitte!"

Wobei das Festhalten am Minutensprung sicher mehr ist als bloß eine nostlagische Referenz. Wie gesagt: Dieses Hauptuhren-/Nebenuhren-System hat sich in den letzten Jahrzehnten als ausgesprochen wenig störanfällig erwiesen. Und außerdem müsste man sonst jede Bahnsteiguhr mit einem eigenen DCF-77-Empfänger ausstatten. Auch nicht gerade ein geringer Kostenfaktor!

Gerdemann: "Wer verliert schon gerne Zeit! Die Bahn auch nicht."

Kampschulte: "Also betroffen werden von dieser Umstellung Sommerzeit/Winterzeit und umgekehrt sicherlich ein paar Hundert Züge sein. Wenn die Uhr zurückgestellt wird, wird dann ein Aufenthalt in einem Bahnhof geplant, und der Zug fährt dann halt planmäßig zur Sommerzeit ab und kommt auch planmäßig zur Winterzeit an."

Schmitz: "Das ist ja der Hammer! Das es so was noch gibt?"

"Ja schon. Trotzdem, das macht vielleicht aber doch irgendwie Sinn. Weil, ich meine, sonst müsste man das in sämtlichen Fahrplänen noch mal extra ausweisen. Und vielleicht will man den Fahrgästen genau die Verwirrung ersparen ..."

Wieland: "... und da greifen die auf so ein altes, einfaches Mittel zurück. Lassen die modernsten Hochgeschwindigkeitszüge einfach stehn. Fürn Stündchen. Nur um den Fahrplan nicht korrigieren zu müssen."

Schmitz: "Die Zeit ist eben verdammt relativ. Nur eine Frage der Vereinbarung."

Wieland: "Ob es nun zwei ist oder drei oder ..."

"Zurückbleiben bitte!"

Gerdemann: "Wer verliert schon gerne Zeit! Die Bahn auch nicht."