Zugang zum eigenen Schmerz
In seinen Büchern hat sich Arno Gruen immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie kollektiver Wahn zu blindem Gehorsam, Grausamkeit und Hass führen kann. Seine jüngste Veröffentlichung heißt: "Ich will eine Welt ohne Kriege". Seine These darin: Mitgefühl können wir nur dann spüren, wenn wir Zugang haben zu unserem eigenen Schmerz.
Wünscht sich ein Kind eine Welt ohne Kriege, wird es von Erwachsenen als naiv belächelt, genauso wie Jugendliche, die für den Frieden Lichterketten bilden. Doch was ist daran so lächerlich, fragt Arno Gruen. Warum wird ein von Liebe bestimmtes Zusammenleben verächtlich als einfältiger Traum abgetan?
Kriege und deren Ursachen werden gewöhnlich unter politischen, ökonomischen und ideologischen Gesichtspunkten betrachtet. "Krieg ist aber vor allem ein menschliches Problem", weil es immer Menschen sind, die zum Töten auffordern und selber töten, schreibt der Autor.
"Was also treibt Menschen dazu, anderen Gewalt anzutun? Was lässt Soldaten selbst widersinnigsten Befehlen Folge leisten? (...) Warum wirkt hier nicht, was uns Menschen miteinander verbindet und was uns allen gewissermaßen als Hemmungsmechanismus gegen das Töten mitgegeben ist - nämlich das Mitgefühl?"
Mangelndes Mitgefühl ist nicht nur in Gesellschaften verbreitet, in denen Diktaturen an der Macht sind, sondern auch in modernen demokratischen, "dynamischen" Gesellschaften. Was treibt junge Manager dazu, auf ihrem Porsche den Aufkleber anzubringen, "Eure Armut kotzt mich an"?
Der Psychologe Arno Gruen erklärt das aus seiner psychotherapeutischen Praxis. Für ihn ist Unmenschlichkeit das Ergebnis einer Erziehung, die die Gefühle und die empathischen Fähigkeiten eines Kindes verachtet und als Schwäche abtut. Ein Kind, das in einer solchen traumatischen Situation aufwächst, muss sich - so Arno Gruen - immer mehr "von seinem Eigenen distanzieren und dieses als etwas Fremdes ablehnen":
"Menschen, deren Kindheit von Lieblosigkeit geprägt war, wappnen sich ein Leben lang vor dem Schmerz, der aus diesem frühen Erleben emporsteigt. Sie müssen immer 'stark' sein und alles unter Kontrolle halten. Diese Entwicklung nimmt einen fatalen Verlauf, wenn Schmerz durch die Eltern zudem als Schwäche eingestuft wird, was in unserer Kultur häufig der Fall ist. Die Erniedrigung und die Scham über diese Schwäche kann ein Kind nur kompensieren, indem es sich mit den lieblosen Eltern identifiziert, um sich auf diese Weise deren Kraft einzuverleiben. (...) Die Verleugnung des Schmerzes führt jedoch dazu, Zeit seines Lebens den Schmerz außerhalb seiner selbst zu suchen, indem man anderen Leid zufügt."
Das ist es, was destruktive Menschen antreibt, meint Arno Gruen: Sie versuchen, andere für den Schmerz zu bestrafen, den sie selbst einmal erlitten haben. Sie zerstören, um zu leben und um die eigene innere Leere zu füllen.
"Alle Menschen, die von dieser Leere betroffen sind, müssen sich anderer bemächtigen, um sich selbst ein Gefühl der Lebendigkeit zu verschaffen. Auch viele Politiker, Wirtschaftsmagnaten und Banker brauchen diesen Kick, der darin besteht, Willkür auszuüben, mit anderen zu spielen und sie herabzuwürdigen. (...) Sie ziehen ihre eigene Vitalität aus der Zerstörung anderer."
Das Gegenteil von innerer Leere nennt Arno Gruen das "Sich-selbst-Sein". Dieses Gefühl könne ein Mensch nur entwickeln, wenn er als Kind liebevoll begleitet und in schmerzhaften Situationen getröstet wurde. Nur so sei es einem Kind möglich, Schmerz zu erleben und zu überwinden. Daraus erwachse ein Gefühl echter innerer Stärke. Diese Stärke sei die Voraussetzung für Mitgefühl. Mitgefühl können wir nur dann spüren, wenn wir Zugang haben zu unserem eigenen Schmerz, lautet Gruens zentrale These.
Sein Plädoyer zur Stärkung des Mitgefühls ist einfach und leicht verständlich auf 100 Seiten ausgearbeitet. Der 83-jährige Autor hat es insbesondere für junge Menschen geschrieben. Man stimmt ihm gern zu und gerät trotzdem in eine innere Abwehrhaltung. Diese provoziert er selbst, indem er Krieg und alle anderen Arten von Gewalt gleichsetzt:
"Um Kriege zwischen Nationen zu verstehen, müssen wir uns auch den Kriegen stellen, die wir meistens anstandslos als Teil unseres alltäglichen Lebens hinnehmen - am Frühstückstisch und im Klassenzimmer, auf den Straßen, in den Medien und am Arbeitsplatz."
Einen blutigen Krieg mit kleinen alltäglichen Reibereien in eins zu setzen ist fatal und fällt hinter jede psychologische Erkenntnis zurück. Die moderne Psychologie seit Sigmund Freud hat uns vor allem eins gelehrt: Nur wenn wir anerkennen, dass wir auch destruktive Triebe und Aggressionen in uns tragen, können wir lernen, sie zu beherrschen. An Freuds Feststellung, wonach "das Ich nicht Herr im Hause" ist, hat sich nichts geändert. Der Traum von einem konfliktfreien Leben ist in der Tat naiv. Außerdem wäre es wahrscheinlich auch ziemlich langweilig.
Arno Gruen: Ich will eine Welt ohne Kriege
Klett-Cotta
126 Seiten
Kriege und deren Ursachen werden gewöhnlich unter politischen, ökonomischen und ideologischen Gesichtspunkten betrachtet. "Krieg ist aber vor allem ein menschliches Problem", weil es immer Menschen sind, die zum Töten auffordern und selber töten, schreibt der Autor.
"Was also treibt Menschen dazu, anderen Gewalt anzutun? Was lässt Soldaten selbst widersinnigsten Befehlen Folge leisten? (...) Warum wirkt hier nicht, was uns Menschen miteinander verbindet und was uns allen gewissermaßen als Hemmungsmechanismus gegen das Töten mitgegeben ist - nämlich das Mitgefühl?"
Mangelndes Mitgefühl ist nicht nur in Gesellschaften verbreitet, in denen Diktaturen an der Macht sind, sondern auch in modernen demokratischen, "dynamischen" Gesellschaften. Was treibt junge Manager dazu, auf ihrem Porsche den Aufkleber anzubringen, "Eure Armut kotzt mich an"?
Der Psychologe Arno Gruen erklärt das aus seiner psychotherapeutischen Praxis. Für ihn ist Unmenschlichkeit das Ergebnis einer Erziehung, die die Gefühle und die empathischen Fähigkeiten eines Kindes verachtet und als Schwäche abtut. Ein Kind, das in einer solchen traumatischen Situation aufwächst, muss sich - so Arno Gruen - immer mehr "von seinem Eigenen distanzieren und dieses als etwas Fremdes ablehnen":
"Menschen, deren Kindheit von Lieblosigkeit geprägt war, wappnen sich ein Leben lang vor dem Schmerz, der aus diesem frühen Erleben emporsteigt. Sie müssen immer 'stark' sein und alles unter Kontrolle halten. Diese Entwicklung nimmt einen fatalen Verlauf, wenn Schmerz durch die Eltern zudem als Schwäche eingestuft wird, was in unserer Kultur häufig der Fall ist. Die Erniedrigung und die Scham über diese Schwäche kann ein Kind nur kompensieren, indem es sich mit den lieblosen Eltern identifiziert, um sich auf diese Weise deren Kraft einzuverleiben. (...) Die Verleugnung des Schmerzes führt jedoch dazu, Zeit seines Lebens den Schmerz außerhalb seiner selbst zu suchen, indem man anderen Leid zufügt."
Das ist es, was destruktive Menschen antreibt, meint Arno Gruen: Sie versuchen, andere für den Schmerz zu bestrafen, den sie selbst einmal erlitten haben. Sie zerstören, um zu leben und um die eigene innere Leere zu füllen.
"Alle Menschen, die von dieser Leere betroffen sind, müssen sich anderer bemächtigen, um sich selbst ein Gefühl der Lebendigkeit zu verschaffen. Auch viele Politiker, Wirtschaftsmagnaten und Banker brauchen diesen Kick, der darin besteht, Willkür auszuüben, mit anderen zu spielen und sie herabzuwürdigen. (...) Sie ziehen ihre eigene Vitalität aus der Zerstörung anderer."
Das Gegenteil von innerer Leere nennt Arno Gruen das "Sich-selbst-Sein". Dieses Gefühl könne ein Mensch nur entwickeln, wenn er als Kind liebevoll begleitet und in schmerzhaften Situationen getröstet wurde. Nur so sei es einem Kind möglich, Schmerz zu erleben und zu überwinden. Daraus erwachse ein Gefühl echter innerer Stärke. Diese Stärke sei die Voraussetzung für Mitgefühl. Mitgefühl können wir nur dann spüren, wenn wir Zugang haben zu unserem eigenen Schmerz, lautet Gruens zentrale These.
Sein Plädoyer zur Stärkung des Mitgefühls ist einfach und leicht verständlich auf 100 Seiten ausgearbeitet. Der 83-jährige Autor hat es insbesondere für junge Menschen geschrieben. Man stimmt ihm gern zu und gerät trotzdem in eine innere Abwehrhaltung. Diese provoziert er selbst, indem er Krieg und alle anderen Arten von Gewalt gleichsetzt:
"Um Kriege zwischen Nationen zu verstehen, müssen wir uns auch den Kriegen stellen, die wir meistens anstandslos als Teil unseres alltäglichen Lebens hinnehmen - am Frühstückstisch und im Klassenzimmer, auf den Straßen, in den Medien und am Arbeitsplatz."
Einen blutigen Krieg mit kleinen alltäglichen Reibereien in eins zu setzen ist fatal und fällt hinter jede psychologische Erkenntnis zurück. Die moderne Psychologie seit Sigmund Freud hat uns vor allem eins gelehrt: Nur wenn wir anerkennen, dass wir auch destruktive Triebe und Aggressionen in uns tragen, können wir lernen, sie zu beherrschen. An Freuds Feststellung, wonach "das Ich nicht Herr im Hause" ist, hat sich nichts geändert. Der Traum von einem konfliktfreien Leben ist in der Tat naiv. Außerdem wäre es wahrscheinlich auch ziemlich langweilig.
Arno Gruen: Ich will eine Welt ohne Kriege
Klett-Cotta
126 Seiten