Weniger Nationalismus, mehr Demokratie
Wie geht es weiter mit der europäischen Einigung? Und welche Rolle fällt den Deutschen dabei zu? Jürgen Rüttgers, ehemaliger Ministerpräsident von NRW, wünscht sich ein beherztes Engagement für mehr Demokratie - und gegen anti-europäischen Populismus.
Kaum hatte das neue Jahr begonnen, kaum hatten die neuen Minister angefangen, ihre Wahlversprechen umzusetzen, da stürzte sich Deutschland auf die 2014 anstehenden Gedenktage. Wissenschaftler und Intellektuelle streiten sich seitdem über die Bedeutung des Ersten Weltkrieges. Statt Zukunftsfragen zu lösen, wird über Geschichte gestritten.
Rund 150 Bücher – so liest man – werden berichten über die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie der amerikanische Historiker und Diplomat Georg F. Kennan gesagt hat. Das Buch von Christopher Clark "Die Schlafwandler" ist schon ein Bestseller. Mancher versteigt sich gar zu der Behauptung, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gleiche unserer heutigen Gegenwart.
Ich halte diese These für falsch. Schon gar, wenn sie verbunden ist mit einer Neuauflage einer Debatte über die Kriegsschuld. In Europa droht dank der europäischen Einheit kein Krieg. Dass Deutschland Belgien damals angegriffen und damit den Krieg begonnen hat, kann wohl nicht bezweifelt werden. Warum also solche Diskussionen?
Hat Deutschland Angst vor mehr Verantwortung?
Hat es damit zu tun, dass wir unsicher sind, was aus Europa wird? Haben wir Angst davor, dass bei der Europawahl euroskeptische Parteien gut abschneiden? Haben wir Angst davor, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, ja gar die Bundeswehr häufiger zu Auslandseinsätzen zu schicken, wie es der Bundespräsident und der Außenminister, wie es die Verteidigungsministerin auch für erforderlich halten?
Mancher vergisst heute: Uns geht es gut. Wir haben sogar die Weltfinanzkrise wohlbehalten überstanden. Gleichzeitig verkennen wir, dass es uns nur solange gut geht, wie es auch unseren europäischen Partnern gut geht.
Als der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer zusammen mit unseren Eltern und Großeltern begann, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufzubauen, herrschte in unserem Land große Not – materiell und moralisch. Damals kämpfte nur eine kleine Zahl von Menschen für eine demokratische Zukunft innerhalb der Gemeinschaft der freien Völker des Westens.
In großen Debatten und Auseinandersetzungen wurden drei Grundentscheidungen durchgesetzt: die freiheitliche Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und die Einbindung Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Völker des Westens.
Das Gespenst das Nationalismus geht immer noch um
Alle drei Grundentscheidungen sind heute gefährdet: die Demokratie durch das Nachlassen des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in Institutionen und Parteien, die soziale Marktwirtschaft durch die zunehmende Bürokratisierung und Eingrenzung des freien Marktes, die westliche Wertegemeinschaft durch ein zunehmendes Misstrauen gegenüber dem europäischen Einigungsprozess.
Das mag die allgemeine Unsicherheit erklären. Helmut Kohl, der Ehrenbürger Europas, hat jüngst deutlich gewarnt, das Gespenst des Nationalismus sei keineswegs endgültig überwunden: "Die bösen Geister der Vergangenheit können immer wieder zurückkommen.“
Unsere Aufgabe als deutsche Europäer ist es in diesem Jahr, in dem am 25. Mai ein neues Europäisches Parlament gewählt wird, einzutreten für mehr Demokratie durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, eine Verhinderung der Renationalisierung Europas sowie das Unterlassen aller Hegemonie-Attitüden durch materielle wie moralische Überheblichkeit. Deshalb müssen wir auch allen Populisten entgegentreten.
Wenn es Europa nicht gelingt, die Demokratie zu vollenden und die Spannungen zwischen den öffentlichen Dingen und den persönlichen Sorgen zu beseitigen, den Gegensatz zwischen "national" und "europäisch" aufzuheben, eine neue Legitimität und neues Vertrauen wachsen zu lassen, dann haben wir vor der Geschichte versagt. Und das wäre eine wirkliche Katastrophe.
Jürgen Rüttgers, Jahrgang 1951, studierte Geschichte und Rechtswissenschaft in Köln. Er war Bundestagsabgeordneter, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Landesvorsitzender der CDU und Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Derzeit arbeitet er als Rechtswalt in Düsseldorf.