Wie intelligente Konzepte die Mobilität verändern
Sich die Deutschen als "Volk ohne Wagen" vorzustellen, fällt schwer. Der Zukunfts- und Mobilitätsforscher Stephan Rammler hat es in seiner Streitschrift dennoch getan - und kommt zu dem Schluss, dass weniger Autos weder den Bürgern noch der Autoindustrie schaden würden.
"Deutschland ist ein Autoland bis in jede Pore. Wir werden einen weiten Weg gehen müssen", sagt Stephan Rammler, Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Rammler gründete das Institut für Transportation Design – und ist Verfasser der Streitschrift "Volk ohne Wagen", in der er Modelle für eine weitgehend autolose Zukunft entwirft.
Denn Fakt sei: Von den circa 40 Millionen Fahrzeugen in Deutschland würden die meisten nur maximal ein bis zwei Stunden am Tag genutzt – es seien eigentlich "Stehzeuge", in denen zudem im Schnitt statistisch gesehen nur eine bis anderthalb Personen säßen.
Die Autobranche muss flexibler sein
Vor dem Hintergrund ökologischer Notwendigkeiten wie der Minderung des CO2-Ausstoßes und der Endlichkeit der Ressource Öl führe deshalb kein Weg an neuen, intelligenten Mobilitätskonzepten und –ketten vorbei, die Auto, Öffentlichen Nahverkehr und Fahrräder miteinander verknüpften und auf Elektromobilität setzten. Auch die Autobranche müsse flexibel agieren, wenn sie auch in Zukunft Krisen wie die aktuelle überstehen wolle, betonte Rammler:
"Die Autoindustrie verdient Geld, indem sie Autos verkauft. Aber rein theoretisch ist es überhaupt kein Problem, dieselbe Menge an Wertschöpfung zu erzeugen, indem man Mobilitätsdienstleistungen verkauft. Das ist die große Grundidee. Das ist natürlich viel zugemutet, das sich vorzustellen und diese Veränderung auch sich vorzustellen. Aber letztlich könnte die Autoindustrie mit viel weniger Aufwand wahrscheinlich dasselbe Niveau an Wertschöpfung erzeugen."
Wenn Autokonzerne sich auf neue Mobilitätsmodelle einließen, sei dies auch beschäftigungspolitisch klug. Zumal sich vor allem in großen Städten immer mehr Zielgruppen herausbildeten, die auf ein eigenes Auto verzichten wollten. In ländlichen Gebieten allerdings seien die Siedlungsstrukturen noch komplett aufs Autofahren ausgerichtet. Daran müsse sich etwas ändern.
Das Interview im Wortlaut:
Christine Watty: Und wir kommen vom Packesel der Rolling Stones, dem "Beast of Burden", zu einem anderen Transportspezialisten, Stephan Rammler. Er ist Professor für Transportation Design, und er plädiert in seiner aktuellen Streitschrift für eine Transformation. Deutschland, das Geburtsland des Automobils, soll zum Ort der Neuerfindung des Automobils werden. Dabei soll, so Rammler, bestenfalls der Schritt vom Volkswagen zum "Volk ohne Wagen" gelingen. Diese These Rammlers ist natürlich in Zeiten der Ereignisse rund um VW umso brisanter und bietet ja vielleicht eine Lösung in all den Autokrisen dieser Tage. Dazu müssen wir aber erfahren, wie sich das Volk ohne Wagen denn von A nach B bewegen wird und wie wir dann in Zukunft unser Bedürfnis nach Mobilität befriedigen. Guten Morgen, Stefan Rammler!
Stephan Rammler: Guten Morgen, Frau Watty, und erstmal vielen Dank für diese brillante Überleitung vom Esel zum Rammler – Danke!
Watty: Ach so – ich hab eher über die Transportmöglichkeiten nachgedacht.
Rammler: Ja, es ist immer beides.
Watty: Das stimmt wohl. Brauchen wir in Zukunft eigentlich keine Autos mehr, nach dem, was Sie in Ihrer Streitschrift vorschlagen?
Rammler: Doch, wir brauchen noch Autos. Wir werden Autos noch eine relativ lange Zeit benutzen, eigentlich immer. Ich habe mit diesem Titel versucht, einen sehr zugespitzten, provokanten Titel zu wählen, um natürlich für meine Gedanken und meine Ideen und Forderungen Aufmerksamkeit zu finden. Was ich im Kern meine mit "Volk ohne Wagen", heißt, dass wir eigentlich in eine Zeit reingehen und das auch schon beobachten in anderen Teilen der Welt, in der wir mit einer anderen Form des Umgangs mit Wagen, mit Autos sehr gut klarkommen. Es geht eigentlich um eine viel intelligentere, nutzungsintelligentere Form des Umgangs mit unseren Autos.
Intelligente Verknüpfungen schaffen
Wir müssen uns mal anschauen, was wir heute normal finden, woran wir uns gewöhnt haben: Wir sind ungefähr 80 Millionen Menschen in diesem Land, es sind über 40 Millionen Fahrzeuge. Jede Familie hat ein oder zwei Fahrzeuge vor der Haustür stehen, und wir sind es gewohnt, die Fahrzeuge ein bis zwei Stunden am Tag zu nutzen und überwiegend nicht zu nutzen. Sie sind also vom Wesen her gar keine Fahrzeuge, sondern Stehzeuge. Und wenn wir die Fahrzeuge benutzen, dann sind das meistens ein bis eineinhalb Personen, die drin sitzen, so wenig. Wofür ich plädiere und was eben auch durchaus mittlerweile technisch, kulturell und organisatorisch machbar ist und auch gezeigt wird, ist, Fahrzeuge sehr viel intelligenter einzusetzen, indem wir sie teilen, indem wir Ride Sharing oder Carsharing betreiben, indem wir die Automobilnutzung verknüpfen auf eine sehr intelligente Art und Weise mit unseren öffentlichen Verkehrsträgern, die auch besser werden müssen, und indem wir das Ganze vernetzen auch noch mit dem Fahrrad.
Es geht um ein integriertes Gesamtbild einer neuen Mobilität, indem wir den nachhaltigen und eher zukunftsfähigen Verkehrsträgern den Vordergrund geben. Das Auto wird natürlich weiterhin eine Rolle spielen, aber auch da tun sich Veränderungen auf und müssen sich wahrscheinlich auch Änderungen auftun, wenn wir das mit dem Klimawandel ernst nehmen und wenn wir bessere und lebenswertere Städte haben wollen. Und da sprechen wir über die Elektromobilität. Also all die drei definierenden Kriterien, die für uns bekannt sind als Automobilität.
Das heißt, das Selber-Besitzen des Fahrzeugs, das Selber-Fahren und der Elektromotor, all diese drei Kriterien moderner westlicher Automobilität stehen jetzt gerade ein Stück weit in Frage. Und wenn wir auf die deutsche Autoindustrie zu sprechen kommen: Sie wird wahrscheinlich diese Krise, die sie gerade durchlebt, nur überleben in weiten Teilen, wenn sie beginnt, sich zu bewegen in diese neue Richtung. Und wir als Verbraucher und Politik sollten sie dabei unterstützen. Das ist meine These.
Die Autoindustrie könnte mit Dienstleistungen Geld verdienen
Watty: Aus Nachhaltigkeitsgründen ist das alles verständlich, und es existiert ja in Teilen auch schon, dieses Prinzip Nutzen statt besitzen. Aber gerade, wo Sie die Autoindustrie ansprechen: Aus wirtschaftlicher Sicht ist das für die Autoindustrie nicht wahnsinnig interessant, wenn man propagiert, dass man Autos teilt und nicht mehr jede Familie ihr eigenes Auto vor dem Haus stehen hat.
Rammler: Das ist vor dem Hintergrund der jetzigen Produktions- und Nutzungsstruktur logisch. Die Autoindustrie verdient Geld, indem sie Autos verkauft. Aber rein theoretisch ist es überhaupt kein Problem, dieselbe Menge an Wertschöpfung zu erzeugen, indem man Mobilitätsdienstleistungen verkauft. Das ist die große Grundidee.
Das ist natürlich viel zugemutet, das sich vorzustellen und diese Veränderung auch sich vorzustellen. Aber letztlich könnte die Autoindustrie mit viel weniger Aufwand wahrscheinlich dasselbe Niveau an Wertschöpfung erzeugen. Das große Problem, das wir haben – das dürfen wir auch nicht verschweigen, wenn wir über Elektromobilität reden oder über Nutzungseffizienz, was ja letztlich bedeutet, dass auch weniger Fahrzeuge, die allerdings dann hochwertiger und längerwertig sind und länger leben, gebaut werden –, wir haben ein beschäftigungspolitisches Problem, und da haben wir einen großen blinden Fleck in der Debatte.
Das moniere ich, dass die ökologisch orientierten Akteure zu wenig auf die beschäftigungspolitische Dimension schauen und die beschäftigungspolitischen Akteure in dem legitimen Interesse, Arbeitsplätze zu erhalten in Deutschland, zu wenig auf die ökologische Perspektive schauen, und da müssen wir vermitteln zwischen diesen beiden Polen und klar machen, der Wandel, der jetzt gerade passiert, der passiert. Das ist ein empirischer Faktor, und den können wir auch nicht einfach abstellen, indem wir ihn leugnen. Also geht es darum, diesen Wandel zu gestalten, und zwar auf eine Art und Weise, dass die Beschäftigung, die verloren geht, auf eine sozialverträgliche Art und Weise verloren geht. Und wenn wir alternative Modelle einer zukunftsfähigen Mobilität von morgen uns vorstellen, dann müssen die natürlich immer auch die Frage beantworten, wie wir von heute nach morgen kommen, wie wir diesen Transformationsprozess auch beschäftigungspolitisch sozial bewältigen und nicht von heute auf morgen 600.000 Arbeitnehmer in der Automobilindustrie auf die Straße setzen. Darum kann es natürlich auch nicht gehen.
"Deutschland ist in jeder Pore ein Auto-Land"
Watty: Jetzt haben wir in ganz kurzen Auszügen auf die Politik geschaut, auf die Wirtschaft. Wenn wir auf unsere eigene Mobilitätskultur quasi schauen, wie weit sind wir denn an dieser Stelle, uns davon zu lösen, dass das Auto, das Statussymbol der Deutschen, ein bedeutsames Objekt in unserem Alltag, langsam verschwinden soll und wir außerhalb auch von urbanen Kontexten anfangen, das zu teilen und es wirklich nur noch als Mobilitätsdienstleistung, die bereit steht, für uns zu nutzen?
Rammler: Da sind wir noch weit von entfernt. Gerade in Deutschland, weil Deutschland ein Autoland ist, bis in jede Pore ist Deutschland ein Autoland. Das heißt, wir werden einen weiten Weg gehen müssen, und das nennen die Wissenschaftler Pfadabhängigkeit. Wir haben uns sehr daran gewöhnt, an die Raum- und Siedlungsstrukturen, die wir aufgebaut haben mit der Zuhandenheit des Automobils im Kopf. Wir haben Siedlungsstrukturen in Deutschland, die gar nicht anders funktionieren als mit dem Automobil. Und da müssen wir natürlich jetzt anfangen, etwas zu verändern, damit wir irgendwann an dem Punkt sind, mit weniger Fahrzeugen und weniger Aufwand an Mineralöl, das wir verbrauchen – möglichst gar keinem mehr – mobil zu sein. Das ist die große Frage. Solche Mobile der nutzungsintelligenten Formen des Umgangs mit Mobilität, das sind natürlich erst mal urbane Themen.
Immer mehr wollen aufs Auto verzichten
Wir erleben Zielgruppen in den Städten, auch in den deutschen Städten, die beginnen, aufs Auto zu verzichten, die sagen, ich brauche gar kein Auto, weil Auto ist unter den Rahmenbedingungen meines Lebens, das so kompliziert, flexibel und volatil geworden ist, eigentlich ein Asset, ein Stein am Bein, was mich beschwert. Ich möchte eigentlich nur ein Auto nutzen, so, wie ich es auch wirklich brauche, und dafür bezahlen, weil mir das sonst zu teuer ist. Diese Zielgruppen gibt es auch in Deutschland, es gibt sie aber auch vor allen Dingen in den westlichen Regionen Amerikas, und es ist ein ganz starker Trend auch in Asien, wo das Ganze verbunden wird, und das darf man auch nicht verschweigen, mit dem Thema des automatisierten Fahrens und der Elektromobilität. Also die drei Dinge, die ich gerade genannt habe, die in Frage stehen an unserem Modell der Mobilität, Verbrennungsmotor, Selber-Fahren und Selber-Besitzen, all diese drei Dinge werden in anderen Teilen der Welt gemeinsam in Frage gestellt und in einer gemeinsamen Lösung, nämlich nicht mehr selbst fahren, Elektroantrieb, und dann noch in geteilten Flotten, die in urbanen Zusammenhängen in Kombination mit dem öffentlichen Verkehr betrieben werden, das ist da zum Teil schon Realität oder zumindest ein ganz starker Punkt eines politischen Programms, mit dem man in die Zukunft gehen will.
Watty: Danke schön, Stephan Rammler, Professor für Transportation Design. Und das Buch heißt "Volk ohne Wagen. Eine Streitschrift für eine neue Mobilität" und ist beim Fischer-Verlag erschienen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Rammler. Vielen Dank für das Gespräch!
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