Jens Beckert – Jahrgang 1967 – ist Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. 2018 ist er mit dem renommierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet worden.
Wie Fiktionen den Kapitalismus beflügeln
Die Zukunft ist prinzipiell ungewiss. Trotzdem versucht die Wirtschaft sie mit komplizierten Modellen zu berechnen. Der Soziologe Jens Beckert zeigt, dass mancher Businessplan in seiner Fiktivität eher einem Roman gleicht.
Ratingagenturen und Wirtschaftsforschungsinstitute berechnen die Zukunft. Die Ökonomie erscheint im Licht ihrer mathematischen Beherrschbarkeit. Für den Soziologen Jens Beckert ist diese Zukunft aber prinzipiell ungewiss. Mehr noch: Im Maschinenraum der Wirtschaft wird die Dynamik des Kapitalismus durch Fiktionen angetrieben.
Deutschlandfunk Kultur: In den letzten zwei Wochen ist die Aktie der Deutschen Bank zwischenzeitlich auf ein Allzeittief von 8,76 Euro gefallen. Die amerikanische Notenbank FED hatte dem amerikanischen Zweig der Bank Schwächen in der Verarbeitung von Kundendaten und beim Risikomanagement attestiert. Ratingagenturen stufen mittlerweile die Aktie als nicht besonders vertrauenswürdig ein. Seit Christian Sewing seit Ende April Vorstandschef der Bank geworden ist, ist der Kurs der ohnehin schon gebeutelten Aktie um zwanzig Prozent gefallen. Das Vertrauen in die Zukunft einer Bank, von der gerne gesagt wird, sie sei systemrelevant, scheint rapide zu sinken.
Vertrauen im Sinkflug
Welche Rolle aber spielen solche Stresstestbewertungen wie die der Federal Reserve, ja Ratingagenturen überhaupt für die Wirtschaft? Wie wird die wirtschaftliche Zukunft in der Ökonomie gedacht und berechnet? – Darüber wollen wir heute sprechen mit dem Soziologen Jens Beckert. Er leitet das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und hat gerade ein Buch unter dem Titel "Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus" veröffentlicht.
Schönen guten Abend nach Köln, Herr Beckert.
Jens Beckert: Guten Abend, Herr Jantschek.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist doch wirklich erklärungsbedürftig. Die FED stellt der Deutschen Bank ein schlechtes Zeugnis aus. Die Aktien purzeln, obwohl das Amerikageschäft nur zehn Prozent des Volumens dieser Bank ausmacht, einer Bank, die sich gerade vorgenommen hat, auf globales Investment nicht ganz zu verzichten, aber doch es stark zurückzufahren und auf das Privatkundengeschäft zu setzen. – Was geschieht denn da aus Ihrer Perspektive?
Jens Beckert: Es geht schon um das Vertrauen. Bankgeschäfte sind riskant. Nach den Erfahrungen der ja gerade zehn Jahre zurückliegenden Finanzkrise achten die Regulationsbehörden sehr viel stärker darauf, dass auch die internen Abläufe von Banken nach den Standards, die überhaupt möglich sind, ablaufen. Gerade in Amerika haben sich ja die Regulationen sehr verschärft. Und die Deutsche Bank, zumindest in ihrem Amerikageschäft, ist in ihren internen Abläufen kritisiert worden.
Das kam nicht ganz überraschend für die Bank, weshalb die Aktienkurse jetzt auf dieses Ereignis auch gar nicht so stark reagiert haben. Die Deutsche Bank ist natürlich schon seit vielen Jahren sehr stark in der Bredouille, weil eben viel im Investment-Banking schief gelaufen ist. Es gibt viele Gerichtsprozesse mit sehr hohen Schadensersatzforderungen, die von der Bank beglichen werden müssen, so dass insgesamt die Finanzmärkte nicht viel Vertrauen letztendlich in die Zukunftsaussichten der Deutschen Bank haben. Entsprechend niedrig ist dann auch der Aktienkurs.
Die Macht der Ratingagenturen
Deutschlandfunk Kultur: Welchen Einfluss haben denn Ratingagenturen und Wirtschaftsforschungsinstitute im globalen Kapitalismus überhaupt? Was ist ihre Rolle genau? Denn die scheinen ja einen deutlichen Einfluss zu haben, wie Sie es gerade gesagt haben.
Jens Beckert: Ratingagenturen sind ganz wichtig. Die Aufgabe von Ratingagenturen ist, das Risiko von Finanzmarktprodukten einzuschätzen. Nehmen wir das Beispiel von Anleihen. Hier geht es darum, dass Ratingagenturen eine Einschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit, also der Wahrscheinlichkeit, dass der Kreditgeber seine Forderung nicht wird einholen können, eine solche Risikoeinschätzung geben. Das ist ganz wichtig für die Kreditgeber, die eben auf dieser Grundlage sowohl den Kurs als auch die Zinsen von Anleihen festlegen.
Wenn dies nicht der Fall wäre, dann wäre es für die Kreditgeber sehr viel schwieriger, überhaupt eine Einschätzung davon zu haben, auf welche Risiken sie sich einlassen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Prognosen dieser Art – mal abgesehen davon, dass sie selten eintreffen – aber Prognosen dieser Art, egal, ob es sich um die technische Analyse von einer Aktie im Einzelnen oder von einem Index wie dem DAX handelt, unterstellen doch zweierlei: nämlich, die Zukunft ist berechenbar. Sie haben es eben gerade gesagt. Das Risiko wird minimiert durch eine exakte Berechnung. Und sie geht weiter davon aus, dass die Akteure sich rational verhalten, also diesem Risikominimierungsprozess folgen. – Ist denn das so?
Jens Beckert: Die Ratingagenturen gehen zumindest, oder das Wirtschaftssystem geht davon aus, dass Risiken sich kalkulieren lassen. Tatsächlich glaube ich nicht, dass das der Fall ist. Man kann es ja sehr gut sehen, auch um nochmal auf die Finanzkrise zurückzukommen: Die Anleihen, in denen Hauskredite enthalten waren, die sogenannten CDOs, Collateralized Debt Obligations, waren ja von den Ratingagenturen mit den besten Noten bewertet, also dass der Eindruck entstanden ist, das sind nun wirklich todsichere Anleihen.
Viele dieser Anleihen konnten aber nicht zurückgezahlt werden, weil sich die Entwicklung in dem amerikanischen Häusermarkt der Risikoeinschätzung der Ratingagenturen vollkommen anders entwickelt hat. An diesem Beispiel kann man sehen, dass es eben in der Wirtschaft nicht so einfach möglich ist oder überhaupt nicht, würde ich sagen, möglich ist, an entscheidenden Stellen Risiken wirklich vorherzusagen.
Aber die Akteure müssen ja in irgendeiner Weise die Sicherheit bekommen, wenn sie das Risiko eingehen, in eine bestimmte Anleihe zu investieren. Insofern also geben die Ratings die Möglichkeit, sich gewissermaßen in einer Sicherheit zu wiegen und so zu handeln, "als ob" man dies berechnen könnte.
Deutschlandfunk Kultur: Da stecken ja zweierlei Dinge drin. Auf der einen Seite sagen Sie letztendlich, dass der soziale Bereich, Sie sind ja Soziologe, in dem man unterstellt, dass es am weitestgehenden um instrumentelle Vernunft und rationales Kalkül geht, dass der aber getrieben wird von einer großen Unsicherheit, einer fast existenziellen oder unhintergehbaren Unsicherheit. Das ist das eine. Auf der anderen Seite sagen Sie, diese Art von Unsicherheit in den Prognosen usw. ist trotzdem in der sozialen Welt eminent wirksam. – Wie passt denn das zusammen?
Jens Beckert: Die Wirtschaft ist sicherlich der Bereich, in dem am stärksten kalkuliert wird. Nur es ist nicht so, dass diese Kalkulationen tatsächlich Zukunft vorhersagen könnten. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in einer offenen Zukunft handeln, dass diese Zukunft mit Ungewissheit verbunden ist. Aber gleichzeitig müssen wir Entscheidungen treffen, die wir rechtfertigen können als rational.
Prognosen, die die Welt verändern
Niemand würde hier im Wirtschaftssystem also da hingehen können und sagen, ich hab das mal so nach dem Bauchgefühl gemacht, sondern es gibt immer diese Rationalitätsanforderung. Aber gleichzeitig, wenn man sich dann eben anschaut post festum, wie viele dieser Prognosen und Annahmen dann tatsächlich nicht eingetroffen sind, genau das lässt erkennen eben die Unsicherheit, die Offenheit der Zukunft.
Und das gilt durchaus nicht nur für Finanzmärkte. Das gilt genauso für Investitionsentscheidungen. Das gilt für Innovation. Das gilt für Konsumentenentscheidungen. Also, es ist auf der einen Seite der Anspruch der Rationalität, aber auf der anderen Seite ist eben auch die Wirtschaft ein System des sozialen Handelns, ein System, in dem es Unsicherheit gibt, in dem die Akteure mit Überraschungen rechnen müssen. Aber sie müssen eben trotzdem handeln, so als ob sie das alles kalkulieren könnten und rational handeln könnten.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ist es dann nicht auch so, man muss ja jetzt nicht gleich zum Kritiker dieses ganzen Systems werden, aber letztendlich ist ja dieser Markt der Ratingagenturen und Wirtschaftsinstitute ein riesiger Markt, der wirklich große Auswirkungen hat. Wer immer sich mal so eine technische Analyse von einer Aktie angeschaut hat, dem fällt ja unmittelbar auf, dass da wahnsinnig viel Mathematik drin steckt und eine mathematische Sprache, die suggeriert, das wird so eintreffen. Wenn das jetzt nicht der Fall ist, wie Sie sagen, weil da eine prinzipielle Unsicherheit eingearbeitet ist in dieses ganze System, dann muss man doch sagen, dann könnte man ja auch ganz andere Verfahren sich ausdenken, also in die Glaskugel zum Beispiel schauen oder besondere Wahrsager, Weisheitslehren oder sonst was heranziehen, um zu ähnlichen Einschätzungen zu kommen.
Jens Beckert: Ich glaube schon, dass man mit finanzmathematischen Methoden einige Dinge natürlich tatsächlich sehen kann. Insofern ist die Mathematik und ist die Ökonomie sicherlich besser als in die Kugel zu schauen.
Aber das heißt nicht, dass eben die Ansprüche einer probabilistischen Methode, also Vorhersehbarkeit von Zukunft, tatsächlich eingelöst werden könnten.
Für mich ist die interessante Frage dann dabei: Warum – und darauf zielt Ihre Frage ja auch ein stückweit – verwenden wir Verfahren, von denen wir retrospektiv häufig enttäuscht werden? Ich glaube, die Antwort darauf ist schlichtweg, dass wir auf der einen Seite keine wirklich besseren Verfahren haben. Aber wir brauchen eben in irgendeiner Weise Verfahren, die uns zumindest den Eindruck geben, dass wir es hier mit einer rationalen Entscheidung zu tun haben.
Fiktionen in der Wirtschaft
Die Kultur, in der wir leben, ist eine Kultur, die gerade im Wirtschaftsleben eben ganz stark auf Zahlen und Kalkulation beruht. Insofern sind es eben die kalkulativen Methoden, die die höchste Legitimität haben, um Entscheidungen zu rechtfertigen.
Deutschlandfunk Kultur: Gut. Aber wenn diese Legitimation nicht wirklich Substanz hat, dann muss sich ja natürlich die Sinnhaftigkeit dieser Instrumente nochmal heraus kristallisieren. – Ihre These aber ist, dass sozusagen im Kern des wirtschaftlichen Handelns ein stark fiktionaler Motor das Ganze antreibt, so fiktional vielleicht wie ein Roman. Sie haben es eben schon so angedeutet, als Sie sagten, man handelt so als ob. Das heißt ja, man hält ja diese Instrumente, diese Analysen, diese Strukturen für wahr. Man unterstellt erstmal deren Wahrheit, auch wenn sie sich nachträglich als falsch herausstellen.
Jens Beckert: Genau. Also, mir geht es um die Frage: Wie können wir eigentlich diese Instrumente, Prognosen, mathematische Modelle, wie auch immer, wie können wir die eigentlich verstehen, wenn es denn so ist, dass sie nicht einfach Vorhersagen der Zukunft liefern? Wenn man sich das anschaut, dann kann man sagen, da gibt es eben tatsächlich Parallelen zu dem, wie fiktionale Texte funktionieren.
Businesspläne und andere Geschichten
Und so wie der Autor eines Buches uns als Leser suggeriert, eine bestimmte Handlung habe stattgefunden, und wir als Leser lassen uns darauf ein in diesem Sinne, wir lesen, als ob diese Handlung stimmen würde, so handeln wirtschaftliche Akteure auch im Hinblick auf Prognosen, aber auch einfach Erwartungen, die in Businessplänen enthalten sind, als ob das darin Geschilderte tatsächlich eine zukünftige Gegenwart sein würde.
Das ist genau die Übereinstimmung zwischen Literatur und ökonomischem Handeln unter diesen Bedingungen von Unsicherheit, dass beide, wie das einmal formuliert wurde, ein gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit haben.
Deutschlandfunk Kultur: Man kann also einen Businessplan wie einen Roman lesen?
Jens Beckert: Ja. Das ist jetzt leicht überspitzt, aber ich glaube, dass dies schon im Prinzip die richtige Analogie ist. Nehmen wir das Beispiel Businessplan: Ein Startup-Unternehmen, das vor einer Gruppe von Kapitalgebern seine Vision für das Geschäftsmodell vorstellt, ein solches Startup erzählt eine Geschichte über das Produkt. Das Produkt gibt es in diesen jungen Unternehmen häufig noch gar nicht. Da werden Annahmen getroffen darüber, was werden die Verkaufszahlen sein, was wird der Marktanteil sein, was werden die Kosten sein, wann das Produkt tatsächlich zur Verfügung kommt, wie es am Markt aufgenommen wird.
Das sind im Grunde genommen Geschichten, weil die Annahmen selbst, weil es sich dabei um Aussagen über die Zukunft handelt, können ja keine Faktendarstellungen sein. Eben diese Erzählungen werden dann ganz stark gerahmt mit Zahlen. Diese Zahlen reflektieren natürlich – soweit sie die Vergangenheit und die Gegenwart betreffen – Fakten, aber das, was da über die Zukunft ausgesagt wird, das sind letztendlich auch Fiktionen.
Deutschlandfunk Kultur: Große Heldengeschichten. Jetzt erschließt sich mir langsam, warum ich die Wirtschaftsseiten der Zeitungen eigentlich so gerne lese, weil da tatsächlich Geschichten drin stecken. Die Frage, die sich mir jetzt aber aufdrängt, ist die, wo denn die genuinen Unterschiede zwischen Fiktion in der Literatur und Fiktion in der Wirtschaft stecken.
Jens Beckert: Ein ganz entscheidender Unterschied ist, dass Sie als Leser eines Romans viel stärker bereit sind, dem Autor in seinen erzählerischen Intentionen zu folgen. Sie lesen Madame Bovary nicht, indem Sie ständig denken: Mensch, stimmt das denn, dass die jetzt tatsächlich an diesem Abend in dieser Straße in Rouen war. Sondern Sie lassen sich da sehr viel stärker drauf ein.
Wenn die Geschichten wahr werden
Im Unterschied dazu wird ein Businessplan eines Unternehmens oder auch eine Prognose eines Wirtschaftsforschungsinstituts immer wieder kritisch hinterfragt im Hinblick darauf, stimmt das denn, gibt’s da nicht noch andere Annahmen, sind die Annahmen, die da sind, realistisch, passt das denn zusammen mit einer anderen Information, die wir haben, so dass die Geschichten, die in der Wirtschaft erzählt werden, einer ständigen Überprüfung und damit auch einer Veränderung unterliegen. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zu Romanen.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe erst gedacht, vielleicht ist der große Unterschied, dass es bei den Prognosen auch darum geht, self fulfilling prophecy, also, sich bewahrheitende Prophezeiungen zu stiften. Aber das funktioniert in der Literatur ja auch manchmal. Also, Goethes Werther und die Selbstmordwelle danach, auch das war eine self fulfilling prophecy, eine sich selbst bewahrheitende Fiktion.
Jens Beckert: Das gibt es. Ja. Und das gibt es, wie Sie sagen, in der Literatur auch. Aber ich würde schon sagen, dass das in den wirtschaftlichen narrativen Geschichten, die erzählt werden, teilweise darauf tatsächlich angelegt ist. Bei Wirtschaftsprognosen, die Vorhersage, das Bruttosozialprodukt steigt im nächsten Jahr um 2,1 Prozent, da ist dies vermutlich weniger der Fall. Aber denken Sie an diese berühmte Vorhersage aus den 60er Jahren des Computerexperten Gordon Brown, der damals behauptet hat, die Prozessorgeschwindigkeit würde sich ungefähr aller zwei Jahre verdoppeln. Jetzt könnte man ja sagen, der hat tatsächlich in die Zukunft geschaut. Denn wenn man sich die Computerentwicklung ansieht über diesen Zeitraum der letzten vierzig Jahre, dann ist das im Wesentlichen eingetroffen.
Aber tatsächlich ist der Sachverhalt hier der, dass diese Vorhersage von den Akteuren, und zwar sowohl in dem Hardware-Bereich als auch in dem Software-Bereich in der Computerindustrie gewissermaßen als Messlatte oder Zielorientierung genommen wurde. Insofern hat die Prognose die Zukunft selbst geschaffen und es ist nicht, dass die Zukunft vorhergesehen worden war.
Solche self fulfilling prophecies gibt es nicht nur in diesem positiven Sinn, sondern die können auch eintreten im negativen Sinn. Und da können wir nochmal zurückkommen auf die Ratingagenturen.
Wenn das Rating eines Unternehmens herabgesetzt wird, dann erhöhen sich die Kreditkosten für dieses Unternehmen. Das kann genau die negativen Auswirkungen auf die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens haben, die in der Prognose vorhergesagt wurde. Aber die Prognose selbst ist eben genau Teil dieser Entwicklung dann auch.
Konsumfiktionen
Deutschlandfunk Kultur: Sie gehen davon aus, dass Fiktionen nicht nur an der Oberfläche der kapitalistischen Dynamik in den Ratingagenturen eine Rolle spielen, sondern tief eingelassen sind in die wesentlichen Institutionen ökonomischen Handelns. Sie haben das schon anklingen lassen: Geld, Kredit, Investition, Innovation, ja sogar der Konsum. – Fangen wir doch mal mit dem letzteren an.
Worin besteht denn die genuine Fiktion oder das Narrativ, wenn ich mir jetzt das neue iPhone X kaufen möchte, was ich wirklich gerne möchte, aber halt nicht das Geld dafür habe?
Jens Beckert: Ganz viel unseres Konsums ist, was in der Literatur als antizipativer Konsum bezeichnet wird. Ich lese von dem iPhone X. Möglicherweise habe ich Kollegen oder Freunde, die das bereits haben.
Deutschlandfunk Kultur: Leider.
Jens Beckert: Ja, leider, da kommt der Neid mit ins Spiel. Und ich stelle mir dann vor, wie doch mein Leben wäre, wenn ich dieses iPhone X jetzt in meiner Hand hätte. Es ist diese Vorstellung, diese fiktionale Erwartung, die mich motiviert, möglicherweise eben doch irgendwie zu sehen, dass ich das Geld dafür zusammen bekomme, um mir dieses Gerät zu kaufen.
Andere Beispiele: Denken Sie etwa an Urlaubsreisen, wo ganz viel natürlich schon geschieht zwischen der Buchung oder sogar schon vor der Buchung der Reise und dem eigentlichen Antritt der Reise. Ich kann in meiner Imagination ja bereits in der Toskana, oder wo auch immer es hingehen soll, sein, längst bevor ich jemals in Florenz gelandet bin.
Diese Vorstellungsfähigkeit des Menschen, die hier an den Beispielen auf Konsumprodukte projiziert wird, ist ganz wichtig, um zu verstehen, woraus überhaupt Nachfrage, insbesondere Nachfrage, die über das rein Funktionale hinaus geht, woher eine solche Nachfrage kommt.
Deutschlandfunk Kultur: Und wie sieht es bei dem Geld aus? Was ist das Fiktionale am Geld – jenseits der relativ greifbaren Geschichte, dass Papiergeld eben Papier ist und eigentlich wertlos im klassischen Sinne?
Jens Beckert: Ja, aber das ist natürlich schon zentral zu sehen. Das ist ja, wenn man sich das vorstellt, schon erstmal überraschend. Ich bin bereit, an sich wertvolle Güter herzugeben gegen wertlose Papierscheine, nehmen wir mal das Beispiel. Warum mache ich das? Weil ich die Erwartung habe, dass ich in der Zukunft diese Papierschnipsel, diese Scheine wieder eintauschen kann gegen wertvolle Waren. Das ist ein Prozess, den ich mir immer weiter in die Zukunft vorstelle.
Das Geld ist sicher! Ist es das?
Wir haben in unserem Alltag natürlich die Erfahrung gemacht, dass dies tatsächlich auch funktioniert. Aber das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Inflation und Geldkrisen bedeuten genau, dass diese Zukunftsfiktion der tatsächlichen Werthaftigkeit des Geldes plötzlich nicht mehr greift. Und in der Situation bricht das Geldsystem zusammen.
Nehmen Sie jetzt nicht die Werthaftigkeit des Geldes selbst, aber das Beispiel auch wieder aus der Finanzkrise, als die Bundeskanzlerin und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück im Herbst 2008 vor die Presse gegangen sind und gesagt haben: Die Spareinlagen der Deutschen, das waren fast 600 Mrd. Euro, sind sicher.
Der Hintergrund davon war, dass die Bundesbank beobachtet hatte, dass die Deutschen anfangen nach der Pleite der Investmentbank Lehmann Brothers Geld abzubuchen über die Geldautomaten von ihren Konten. Die Gefahr war, dass es möglicherweise zu einem Bank Run kommt, ....
Deutschlandfunk Kultur: Kassensturm.
Jens Beckert: .. einem Kassensturm, indem die Menschen nicht mehr daran glauben, dass sie ihr Erspartes von der Bank auch wieder abheben können. Da sieht man letztendlich, wie fragil das Geldsystem ist, wie leicht da sich Misstrauen einschleichen kann. Wenn sich Misstrauen einschleicht, dann kann das sehr schnell dazu führen, dass das ganze Finanzsystem in große Schwierigkeiten kommt.
Deutschlandfunk Kultur:Aber nicht nur das Finanzsystem, sondern auch der Staat. Fast 600 Mrd. Euro sind ja irgendwie eine haushaltsrelevante Größe, würde ich mal behaupten.
Jens Beckert: Nein. Das ist das Interessante daran und gerade auch das Fiktive. Denn ich meine, kein Mensch kann ja die Frage beantworten, woher die Bundeskanzlerin und der Finanzminister 600 Mrd. Euro genommen hätten. Es gab ja kein Mandat des Bundestages, das gesagt hätte, wir verschulden uns jetzt nochmal mit 600 Mrd. Euro. Das hat alleine funktioniert über den Mechanismus: Wenn die Bundeskanzlerin mit dem Finanzminister sich da hinstellt, dass das Vertrauen in die Banken damit wieder hergestellt wird insofern, dass die Erwartungen der Bürger im Hinblick auf die Stabilität des Bankensystems sich durch diese Intervention verändern würden.
Da sieht man einen ganz interessanten Aspekt, nämlich dass in der modernen Wirtschaft dieses Management, die Beeinflussung von Erwartungen ja ein ganz wichtiges Moment sind von Dynamik oder überhaupt oder überhaupt auch von der für die Funktionsmöglichkeit des Geld- und Finanzsystems.
Deutschlandfunk Kultur: Die Frage ist jetzt: Wie gehen wir eigentlich fiktional mit den ganz großen Motoren des Kapitalismus um, nämlich Investitionen und Innovationen? Bei Investitionen müsste man doch sagen, da geht’s nun wirklich um die Wurscht. Um jemanden dazu zu veranlassen, sein Geld, von dem er dann fiktional unterstellt, dass es auch in Zukunft stabil bleibt, in etwas zu stecken, von dem er noch gar nicht wissen kann, was dabei rauskommt, dafür braucht es ja – oder vielleicht bin ich naiv das zu glauben – aber da braucht es doch ein besonders starkes, man würde vielleicht sagen, Narrativ, eine besonders starke Geschichte.
Geschichten der Innovation
Jens Beckert: Ja, die braucht es auch. Jetzt müssen wir natürlich unterscheiden zwischen unterschiedlichen Arten von Investition. Es gibt solche, die auch relativ routinisiert sind und relativ gut auch kalkuliert werden können.
Deutschlandfunk Kultur:Ein Sparplan zum Beispiel.
Jens Beckert: Ja, genau. Aber denken Sie etwa mal an große Firmenzusammenschlüsse. In den 90er Jahren, der Zusammenschluss von Daimler und Chrysler, das war eine riesige Investition, mit der eine Geschichte verbunden war, wie diese beiden Autounternehmen zusammen nun in eine noch viel dominierendere Position auf dem globalen Automarkt mit sehr viel größerer und besserer Profitabilität kommen könnten.
Es bedarf eben solcher Geschichten, die wir im Grunde genommen täglich im Wirtschaftsteil der Zeitung auch lesen, wenn es um neue Investitionen geht. Unternehmen sagen, wir müssen jetzt in China investieren. Da ist jetzt der neue Markt. Und dann kann man gerade bei Firmenzusammenschlüssen sehr gut sehen, dass ganz viele dieser Erwartungen dann nicht erfüllt werden.
Aber für mich ist eigentlich in diesem Zusammenhang gar nicht mal so wichtig, dass es da viele Enttäuschungen gibt, sondern meine Überlegung ist vielmehr, dass wir, nur indem wir Dinge machen, also Investitionen tätigen, überhaupt herausfinden können, ob etwas funktioniert oder nicht. Wenn wir alternativ uns in der Wirtschaft auf nichts einließen, was sich nicht tatsächlich bis ins Letzte kalkulieren lässt, dann wäre die Dynamik, die wir in den letzten 200 Jahren im Kapitalismus beobachten, eben auch nie zustande gekommen.
Deutschlandfunk Kultur: Das betrifft ja nicht nur Firmen, sondern quasi jede Art von Unternehmen. Auch wenn wir hier Innovationen im Radio oder in den Medien beobachten, die nicht wirtschaftlich orientiert arbeiten, also, wir arbeiten wirtschaftlich, aber nicht wirtschaftlich gewinnorientiert, dann kann er ja sagen: Innovationen und so was brauchen eigentlich eine starke Vision, also jemanden, der sagt: 2020 oder 2025 stehen wir da.
Jens Beckert: Genau das ist es. Es bedarf dieser Vision oder dieser Projektion. Was durch eine solche Vision, jetzt spreche ich von imaginierter Zukunft, erzeugt wird, ist gewissermaßen ein Schutzraum, ein Raum, in dem überhaupt ausprobiert werden kann, ob sich diese technologische, was auch immer Innovation realisieren lässt.
Schutzraum heißt hier, dass tatsächlich es die Bereitschaft gibt zu investieren in Aktivitäten. Möglicherweise entsteht aus diesen Aktivitäten, was weiß ich, das nächste Unternehmen wie Apple oder Google. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass dabei gar nichts oder was ganz anderes als das, was man erwartet hat, rauskommt. Denn wir wissen auch wieder empirisch, dass die meisten Innovationen scheitern. Aber es scheitern nicht alle Innovationen. Es gibt immer wieder Innovationen, die wirklich bahnbrechend sind. Aber nur, indem wir über Visionen, projektiven Geschichten solche Schutzräume schaffen, in denen das ausprobiert werden kann, kann eine Entwicklung, Dynamik stattfinden.
Deutschlandfunk Kultur: Und die Dynamik wird angetrieben dadurch, dass sich ganz neue Beziehungen in Unternehmen herausbilden, dass neue Rollen definiert werden und auch Mittel anders verteilt werden.
Kreativität jenseits des Kalküls
Jens Beckert: So ist es. Ja. Es geht letztendlich immer darum, dass über die Antizipation eines zukünftigen Zustands Mittel in einer neuen Weise verteilt werden, neue Bezüge hergestellt werden und damit entweder Prozesse anders gestaltet werden oder neue Produkte gestaltet werden. Das ist für mich so interessant. Ich glaube, dass die Fähigkeit des Menschen, sich eine Zukunft vorzustellen, die anders ist als die Gegenwart, ganz zentral ist zum Verstehen von dynamischen Prozessen. Das gibt eine sehr interessante Perspektive auf Fragen der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft über die letzten 200 Jahre.
Deutschlandfunk Kultur: Und das verändert auch nochmal den Blick auf die kapitalistische Wirtschaft. Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch: "Die moderne Wirtschaft ist nicht ausschließlich das Reich des instrumentellen rationalen Handelns, sondern auch ein Reich des affektiven, charismatischen und traditionellen Handelns." Damit nehmen Sie gewissermaßen den Akteur, also, das "Wagen und Winnen" des Einzelnen, würde man in Norddeutschland sagen, wieder stärker in den Blick.
Jens Beckert: So ist es – und die Kreativität des Einzelnen. Wobei, da spielen natürlich die einzelnen Akteure eine wichtige Rolle, aber häufig sind das natürlich auch Zusammenschlüsse von Akteuren, Teams oder Organisationen, in denen dies stattfindet.
Aber meine Überlegung zielt eben darauf, dass wir Wirtschaft nicht verstehen können einfach als Exekution von rationalen und determinierten Kalkulationen, die uns in eine bestimmte Richtung bringen. Das ist sicherlich Teil, darüber haben wir am Anfang des Gesprächs auch gesprochen, der wirtschaftlichen Welt, aber ein ganz großer Teil, der meines Erachtens viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, ist dieser kreative, nicht determinierte Bereich des Handelns, den wir für gewöhnlich eigentlich lieber aus der Ökonomie ausgrenzen wollen.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn man auf diese Seite der Ökonomie schaut, was wünschen Sie denn dem Chef der Deutschen Bank Christian Sewing, um auf den Anfang unseres Gesprächs tatsächlich zurückzukommen?
Jens Beckert: Sicherlich die Kreativität, ein neues innovatives Geschäftsmodell zu finden für die Deutsche Bank. Die Deutsche Bank hat über die letzten zwanzig Jahre versucht aufzuschließen zu den Global Playern im Investmentbereich. Das ist nicht gelungen. Davon wird sich gerade verabschiedet. Die Deutsche Bank braucht eine neue Vision für ein Geschäftsmodell, das für sie tragfähig ist. Die Aufgabe des Vorstandsvorsitzenden ist, glaube ich, genau, hier die strategischen Entscheidungen zu treffen, die das ermöglichen.
Literatur:
Jens Beckert: "Imaginierte Zukunft – Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus"
Suhrkamp Verlag, 570 Seiten, 42,00 Euro