Zum 100. der Schriftstellerin Ilse Aichinger
"Ein Abschiedslicht auf allem"
Von der rätselhaften Schönheit ihrer Texte geht eine ungebrochene Faszination aus. Ilse Aichinger hat die deutschsprachige Nachkriegsliteratur entscheidend geprägt. Am 1. November 2021 wäre die Österreicherin 100 Jahre alt geworden.
Die Lebensgeschichte der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger ist eine Geschichte der Trennungen. Am 1. November 1921 wurde die Tochter einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters in Wien geboren.
Verlust und Entgleiten der Dinge
"Meine Sicht ist eigentlich Abschiedslicht auf allem, selbst auf den Neugeborenen", sagte Aichinger einmal. "Ein Nicht-behalten-Dürfen, fast nicht einmal halten Dürfen. Ich halte aber diese Sicht des Abschieds für eine sehr reale Sicht. Vielleicht eben, weil ich nicht anders kann, weil es meine Form ist, die Dinge zu sehen.
Ich muss mich fast bemühen, etwas so zu haben, als hätte ich's. Denn etwas nicht zu haben, davon bin ich fest überzeugt. Ich wäre froh, wenn ich sagen könnte, das ist mein Tisch, das ist mein Feuerzeug und das ist mein Baum, aber ich kann's nicht. Ich würde mich selbst täuschen."
Wichtige Beziehung zur Schwester
Als sie im Nationalsozialismus von ihrer Zwillingsschwester getrennt wird, weil diese nach London zu einer Tante ausreisen kann, beginnt eine lebenslange Korrespondenz zwischen den Geschwistern. Eine Beziehung, die auch das Schreiben von Ilse Aichinger prägt.
Ein Teil der umfangreichen Korrespondenz befindet sich im deutschen Literaturarchiv Marbach. Die Briefe zeigen, wie eng Ilse Aichingers literarisches Schaffen mit der Trennung von der Schwester verknüpft ist.
Wir müssen versuchen, schreibt sie einmal, "in unseren Briefen kleine und kleinste Dinge aus unserem Leben zu schildern, um die Schleier zwischen uns zu zerreißen, in kleine Dinge wollen wir versuchen, unsere grenzenlose Liebe einzufangen, sie muss uns wärmen und stärken, bis wir uns wiedersehen."
Verlust der Kindheit
Mit der Stigmatisierung als Kind einer Jüdin beginnt das Ende der Kindheit – ein Abschied, der für Ilse Aichinger immer alle anderen Trennungen enthalten wird.
"Deshalb halte ich den Verlust der Kindheit für den schwersten Verlust, einen viel größeren Verlust als den Verlust des normalen Alterns. Das alles hat seine Schwierigkeiten und Tragiken, aber der Verlust der Kindheit ist nicht zu vergleichen an Maß mit allen anderen Verlusten. Weil dieses Spielen und diese Kindheit erst die Welt erträglich machen und sie überhaupt begründen. Und wahrscheinlich tauchen deshalb so viele Kinder bei mir auf, weil es ohne sie unerträglich wäre."
1948 veröffentlicht sie ihren ersten Roman "Die größere Hoffnung" über die Kriegszeit in Wien. Ihre Leidenschaft gehört der Lyrik. Sie wird zum Schriftstellertreffen der Gruppe 47 eingeladen, wo sie auch ihren späteren Mann, den Dichter Günter Eich, kennenlernt. Es folgen weitere Romane und vor allem Lyrik. Sie schreibt Kurzgeschichten, Erzählungen, Hörspiele und Essays.
Anerkennung für ihr Werk
Für ihr schriftstellerisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Gruppe 47, dem Franz-Kafka-Preis und dem großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Im Jahr 2000 erhielt sie zudem den hoch dotierten Joseph-Breitbach-Preis. Am 11. November 2016 starb Ilse Aichinger in Wien.
Die Lange Nacht zu Ilse Aichinger ist eine Wiederholung vom 29. Oktober 2011.