Lyrik für alle
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Vor 100 Jahren wurde Erich Fried geboren. Er gilt als meistgelesener deutschsprachiger Lyriker nach Bertolt Brecht. Fried habe an der Wirkmächtigkeit der Lyrik nie gezweifelt, sagt Büchner-Preisträger Jan Wagner.
Am 6. Mai wäre Erich Fried 100 Jahre alt geworden. Er hat Shakespeare und Dylan Thomas übersetzt, hat politische Gedichte geschrieben und Liebeslyrik, darunter das berühmte "Es ist, was es ist".
An ihm komme man nicht vorbei, wenn man sich nur ansatzweise mit Lyrik beschäftige, sagt Lyriker und Büchner-Preisträger Jan Wagner.
"Es ist eine spannende Frage, gerade wenn man sich in der Nischenexistenz als Lyriker bewegt, wie ist es möglich, dass ein Dichter mit seinen Versen ein so großes Publikum erhält, begeistert und vor allen Dingen auch berührt? Wie schafft man es, so wie Fried, die Lyrik zu so vielen Menschen zu tragen? Das ist erstaunlich, und damit musst du dich auseinandersetzen."
Klare Gedichte, die jeder versteht
Fried schrieb nicht verkopfte Lyrik, erklärt Wagner. Er ging nicht davon aus, dass Gedichte nur für eine Minderheit geschrieben werden, sondern dass sie essenziell seien. Ihn habe immer beeindruckt, dass Fried angesichts der Katastrophen, die er erlebt hat, daran festhielt, dass Lyrik ein Teil davon sei, und "dass Gedichte etwas sind, was für alle da ist", so Wagner.
In den 1970er-Jahren löste Fried mit seinen Gedichten gegen den Vietnamkrieg Eklats aus. Er habe Gedichte geschrieben "in einer Zeit, in der der Lyrik von vielen Seiten nicht mehr viel zugetraut wurde, und er hat trotzdem daran festgehalten und er hat offensichtlich an der Wirkmächtigkeit von Lyrik nie gezweifelt."
Erfolgreicher Übersetzer
Wagner schätzt Fried vor allem als Übersetzer: "Man kann sagen, dass die einzig guten und gelungen Übersetzungen von Dylan Thomas von Erich Fried stammen", sagt Wagner, der auch als Übersetzer arbeitet.
Dylan Thomas sei ein in vielen Punkten ein entgegengesetzter Dichter zu Fried, so Wagner. Fried habe auf einfache Strukturen, kurze Zeilen und Verständlichkeit gesetzt. Thomas dagegen habe mit allen Sinnen gedichtet. Er sei ein Dichter des Rausches, nicht der Nüchternheit gewesen, erklärt Wagner.
"Dass Fried diesen Dichter, der so anders war, so brillant übersetzt, ist eigentlich ein Wunder, und das war für mich immer erstaunlich und nachahmenswert", sagt Wagner. "Die Zurücknahme und das Sich Opfern für das Werk eines anderen oder das sich in den Dienst eines anderen Werkes Stellen, das hat mich immer sehr überzeugt als übersetzerische Strategie. Und dass macht Fried natürlich perfekt", sagt Wagner.
(nho)