Die moralische Instanz
Heinrich Böll schrieb über Grundsatzthemen der Nachkriegsjahre und mischte sich mit seinen Texten in politische Diskussionen ein. Damit wurde er der meist beachtete Schriftsteller der jungen Bundesrepublik und zu einem geistigen Repräsentanten eines anderen Deutschlands.
Als Heinrich Böll sich am 10. Dezember 1972 in Stockholm für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises bedankte, blickte er zurück auf seinen weiten Weg in die Bundesrepublik:
"Gestatten Sie mir bitte, die Tatsache, dass ich hier stehe, für nicht ganz so wahr zu halten, wenn ich zurückblicke auf den jungen Mann, der da nach langer Vertreibung in eine vertriebene Heimat zurückkehrte."
Die Heimat, in die Böll 1945 nach sechsjähriger Soldatenzeit zurückkehrte, war das völlig zerstörte Köln. Zusammen mit seiner Frau Annemarie machte er sich zwei winzige Zimmer in einer Hausruine bewohnbar – und fing in dieser vom Staub der Trümmer übersäten Wohnung an zu schreiben.
"Als sie unten durch die dunkle Unterführung schritten, hörten sie den Zug oben auf den Bahnsteig rollen, und die sonore Stimme im Lautsprecher sagte ganz sanft: 'Fronturlauberzug von Paris nach Przemysl über...'."
Eroberung der Sprache
Ein geradezu klassischer Anfangssatz seines 1949 erschienenen ersten Buches, der Erzählung "Der Zug war pünktlich".
"Der Rest war Eroberung der Sprache in diese Zurückverweisung an das Material, an diese Handvoll Staub, die vor der Tür zu liegen schien und doch schwer zu greifen und noch schwerer zu begreifen war."
Schon ein Jahr darauf, 1950, kam der Erzählungsband "Wanderer kommst du nach Spa" heraus. Der Zugang vieler Leser war damals die gemeinsame Erfahrung des Krieges, von Not und Hunger und der Wichtigkeit der elementaren Lebensdinge wie Brot, Unterkunft und Zigaretten – es geht in diesen frühen Texten immer um eine Sakralisierung des Alltags.
Die Spannung lag darin, dass sich in der friedlichen Trümmerwelt aber auch bereits die ersten Gegenbilder zeigten, der Schwarzmarkt zum Beispiel: einerseits beschafften sich die Menschen das Reale, das sie zum Leben brauchten, andererseits war darin auch schon Spekulation und Geschäft – dieses Doppelgesichtige, das die Fakten anzunehmen begannen, hat interessiert. Je mehr die Nachkriegsgesellschaft aber wirtschaftlich florierte und die Erinnerungen an die Nazi-Zeit verblassten, umso energischer, mit entschiedener Subjektivität hat Böll dieser Entwicklung seinen Protest gegenübergestellt:
"Ist die Erinnerung an den Hunger, das Elend der Flucht, der Gefangenschaft, der Bombenächte, die Gewissheit, dass Auschwitz wirklich war – nur noch als Stolz auf die Aufbauleistung, nur noch als Bramarbasieren überlieferbar?"
Vertreibung von den Kölner Straßen
Nach einem schönen Bild Karl Korns "aus dem Unterbau der alten Kölner Kirche" kommend, verteidigte Böll die Trümmer und baute nicht nur in Erzählungen und Romanen wie "Billard um halb zehn", "Ansichten eines Clowns" oder "Gruppenbild mit Dame", sondern zunehmend auch in politischen Essays und Reden über diesen Trümmern eine kleine anarchische Gegen- und Subgesellschaft auf. Es war die Heimat der Heimatlosen, die er vertrat, so wie er sich auch selbst als einen Heimatvertriebenen empfand. Geboren am 21. Dezember 1917 als fünftes und jüngstes Kind eines selbstständigen Schreinermeisters, fühlte sich der Schüler zum Beispiel durch die Vertreibung von den Kölner Straßen als Heimat persönlich bedroht.
"Ich habe die Straßen der Nazi-Zeit in Erinnerung, …wo diese blutigen grölenden Horden aller Nazi-Organisationen die Straßen beherrschten und terrorisierten, also jedem in die Fresse schlugen, der die Hand nicht hochhob… Ich hatte dieses Trauma zu überwinden und habe es eigentlich überwunden zum ersten Mal bei der Notstands-Demonstration 1968."
"Den Meinen"
Damals war Böll längst zur moralischen Instanz und zum geistigen Repräsentanten eines anderen Deutschlands geworden. Doch seinen Weltruhm und das damit verbundene Image des "guten Menschen aus Köln" hat er zunehmend auch als Belastung empfunden und immer öfter, nach einem seiner Buchtitel, die "Entfernung von der Truppe" zu praktizieren versucht. Wenn es ihm nötig schien, war er gleichwohl weiterhin öffentlich zur Stelle, und bis zuletzt hat er auch literarisch wie in der Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" wichtige zeitkritische Themen behandelt.
Die enge Beziehung zwischen seiner schriftstellerischen Welt und dem Gesamtschicksal, von der das Frühwerk zeugt, war allerdings schon lange nicht mehr gegeben. Angesichts der Tatsache, dass aus dem berühmtesten deutschen Autor seit 1945 inzwischen ein fast vollkommen vergessener Schriftsteller geworden ist, liest man die Widmung des nach seinem Tod im Jahr 1985 posthum erschienenen letzten Romans "Frauen vor Flusslandschaft" heute nicht ohne Rührung:
"Den Meinen an allen Orten, wo immer sie sein mögen."