"Der Mensch muss unbedingt bereit sein, die Wahrheit zu lieben"
Die einen kannten Isa Vermehren als Sängerin und Kabarettistin, die anderen als Nonne. Sie überlebte das KZ, wurde später Lehrerin, dann Schulleiterin und nach ihrer Pensionierung gehörte sie zu den Geistlichen, die das "Wort zum Sonntag" sprachen.
Am 21. April 1918 wird Isa Vermehren in eine alteingesessene Lübecker Patrizierfamilie geboren. So alteingesessen, dass auch in Thomas Manns Erzählung "Tonio Kröger" der Familienname "Vermehren" auftaucht. Isa ist ein temperamentvolles, lebendiges Kind mit roten Haaren und Sommersprossen. Der Vater hat eine Anwaltskanzlei in Hamburg, die Mutter schickt sich an, Journalistin zu werden. Zusammen mit ihren beiden Brüdern wird Isa zunächst von Privatlehrern unterrichtet. Vor allem die Musik hat es ihr angetan.
"Wir hatten sehr früh Musikunterricht zu Hause bekommen, uns wurde eine Blockflöte in den Hals gesteckt, und wir mussten singen und Takt schlagen. Ich habe anfangs Geige gespielt eine Zeitlang, aber ich war nicht fleißig genug, daraus ist dann nichts geworden. Aber die Ziehharmonika… da war ich wirklich gut. Die kriegte ich mit zehn oder elf Jahren, so ein kleines Ding, das ich in einem Jahr in Grund und Boden gespielt hatte. Dann bekam ich eine größere… eine dreireihige Hohner."
Lehrerin bescheinigt ihr "Unreife, Frechheit und Arroganz"
Zur Ziehharmonika singt sie Seemanns-Lieder und plattdeutsche Verse. Die Vermehrens denken anders als die meisten, die Mutter hat "Mein Kampf" gelesene und sieht Schlimmes heraufziehen. Isa ist ein echter Querkopf, sie muss die die Quarta am Ernestinen-Gymnasium wiederholen, da ihre Lehrerein ihr "Unreife, Frechheit und Arroganz" bescheinigt. Und dann kommen die Nazis an die Macht.
"33, im Januar hatte sich das politischen Klima so total verändert…", sagte Isa Vermehren 2003 im Interview mit Gisela Steinhauer in der Sendung "Hörensagen" auf Deutschlandradio Berlin. "In ganz Deutschland, und sehr spürbar in kleineren Städten, wo man sich gegenseitig kannte und in den Kochtopf guckte, ist der Eintopf da, der heute befohlen ist oder ist er nicht da, was hast du geflaggt, hast du überhaupt geflaggt und wenn ja, welche Flagge… welche Zeitung lesen sie, was hängt bei ihnen an der Wand, was steht bei ihnen im Bücherbord… das waren also alles lauter verbotene Sachen bei uns. Das war sehr unangenehm. Das wurde auch kolportiert, man wusste auch: da sind die Feinde… nein, nein, man musste weg, es war unerträglich."
Schnell im Konflikt mit den Nazis
Schnell gerät sie mit dem neuen System in Konflikt – nach einem Vorfall am 1. Mai 1933 wird sie von der Schule verwiesen.
"Wir sollten vorbeimarschieren an einem Fahnenwald und sollten auf ein bestimmtes Kommando hin, 'Auuugen links!', da sollten wir halt grüßen und da vorbeigehen. Und vor mir ging eine Schülerin, der man gesagt hatte: Sie brauchen das natürlich nicht, Sie sind ja jüdisch. Das fand ich also dermaßen empörend und verletzend und entwürdigend. Und da habe ich gesagt: Also, wenn die das nicht darf, dann will ich das auch schon nicht mehr. Und das wurde natürlich gesehen, fiel auf und wurde dann sofort beantwortet mit: 'Sie schließen sich wohl aus der deutschen Volksgemeinschaft aus', so ungefähr. So wurde das gewertet, stellen Sie sich das mal vor. Sie können sich das gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn Sie von einem Tag auf den anderen in einem Land leben, in dem es keine Redefreiheit mehr gibt, keine Meinungsfreiheit mehr gibt. Unbeschreiblich, was das ausmacht. Unerträglich."
Die Mutter fühlt sich mittlerweile eingeengt im provinziellen Lübeck – noch 1933 zieht sie mit Isa nach Berlin. Einer ihrer Kollege hat die Idee, Isa könne sich doch mit ihrer "Knautschkommode" bei dem von Werner Finck geleiteten Kabarett "Die Katakombe" vorstellen. "Und dann hat Werner Finck gesagt: Kommen Sie doch heute Abend, treten Sie doch einfach mal auf, dann sehen wir ja, was da dran ist und so… und ich war Gott sei Dank so harmlos und völlig unverängstigt, dass ich gesagt habe, also, das Lied, das kann ich, das singe ich dann."
"Drei Käse ist er groß, aber eine Schnauze hat er wie 'ne Ankerklüse"
"Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön, denn da kann unsre Leute an der Reling kotzen sehn. Holahe, holaho….
Das habe ich so in die Gegend geschmettert in diesem hochliterarischen und hochintellektuellen Kabarett, wie die Faust aufs Auge passte das da rein, und war allein schon von daher furchtbar komisch. Und ich hatte eine schöne, unbefangene, laute Art, das vorzutragen – und damit war's dann geregelt, dann blieb ich zwei Jahre, also bis die Katakombe geschlossen wurde, blieb ich dann im Ensemble.
In der Rechten einen Whiskey, In der Linken einen Köm, und die spiegelblanke Glatze, das ist unser Kapitän. Holahe, holaho… Unser Erste auf der Brücke, kaum drei Käse ist er groß, aber eine Schnauze hat er, wie’ne Ankerklüse groß. Holahe, holaho…"
Der Kapitän, der Erste auf der Brücke, der zu klein geraten ist und eine große Schnauze hat – viele im Publikum verstanden das als Kritik an den neuen Herrschern. Isa Vermehren gab später an, sie habe das Lied so gelernt und nichts hinzuerfunden.
Die evangelische Vermehren konvertiert zum Katholizismus
1935 wird die Katakombe geschlossen, Werner Finck kommt ins KZ. Isa Vermehren gehört nicht zu den Verfolgten, im Gegenteil: Durch Ihren Erfolg ist nun auch das Kino auf sie aufmerksam geworden, sie wirkt in vielen Filmen in Nebenrollen mit, ihre Popularität nimmt ständig zu. Sie gastiert in Hamburg, wo sie zum Vorbild für die junge Heidi Kabel wird.
Doch 1937 reicht ihr das nicht mehr, sie will studieren – wozu sie zunächst ihr Abitur nachholen muss. Während der Vorbereitung liest sie ein Buch des Katholischen Theologen Otto Karrer. Dieser weckt ihr Interesse für den Katholizismus. Kurz darauf lernt sie Elisabeth Gräfin Plettenberg kennen, ebenfalls eine überzeugte Katholikin. Unter ihrem Eindruck konvertiert die evangelische Isa gemeinsam mit ihrem Bruder Erich 1938 zum Katholizismus.
Ihr Biograph Matthias Wegner zitiert Isa Vermehren mit den Worten: "Der liebe Gott hat damals ordentlich zugegriffen."
1939 zieht Isa Vermehren in das Studentinnenwohnheim des Ordens "Sacré Coeur" im Berliner Grunewald. Sie ist fasziniert vom spirituellen Leben der Kommunität und beschäftigt sich intensiv mit dem Leben der Ordensgründerin Madeleine Sophie Barat, die 1925 von Pius XI. heiliggesprochen wurde.
Odyssee durch eine Reihe von Konzentrationslagern
Nach bestandenem Abitur bewirbt sich die 20-Jährige um Aufnahme in den Orden, wird aber – wie auch die beiden folgenden Male – abgelehnt. Ohnehin hatten die Nazis den Orden bereits sehr beschnitten. Um Geld zu verdienen, tritt sie weiterhin im Film auf, 1943 machte sie Truppenbetreuung in Russland. Im selben Jahr fällt dort ihr Verlobter.
Ihr Bruder Erich, Jurist wie sein Vater, wird als Diplomat nach Istanbul versetzt. Dort hat er Zugang zu internationaler Presse, durch die ihm die Absurdität des Krieges vollends bewusst wurde. Mit einem wahnwitzigen Fluchtplan setzten er und seine Frau sich zu den Engländern ab. Anfang 1944 lässt Goebbels Isa, ihre Eltern und ihren ältesten Bruder Michael verhaften. Für sie beginnt damit eine Odyssee durch eine Reihe von Konzentrationslagern.
"Wir waren verhaftet, wir waren sogenannte Sippenhäftlinge, ich nicht alleine, wir waren ungefähr 140, 50 Sippen-, Sonder-, Ehrenhäftlinge zum Schluss. Ja, dann war ich fast ein Jahr in diesem Konzentrationslager Ravensbrück festgehalten, in dem Gefängnisbau da. Aber dann haben die Nazis angefangen, diese kostbaren Gefangenen, die sie da hatten, zu sammeln und wie ein Faustpfand vor diesem Untergang zu bewahren, um sich damit vielleicht noch mal freikaufen zu können. Und dann wurden wir also durch ganz Deutschland geschleppt, in verschiedenen Omnibussen, immer weiter nach Süden, immer weiter nach Süden, ich weiß nicht, was man mit uns wollte. Also deshalb: eine Reise wirklich durch den letzten Akt dieses nationalsozialistischen Reiches, was also in einem furchtbaren Getöse damals unterging, wie wir wissen… Kanonendonner überall, der anrückende Feind von allen Seiten und da drin sozusagen ein Volk, das nicht mehr 'piep' sagen konnte. Furchtbar."
"An einen barmherzigen Menschen kann ich nicht mehr glauben"
Nach Aufenthalten in Buchenwald und Dachau wird sie schließlich im Mai 1945 in Südtirol befreit. Ihre Eltern und ihr Bruder mit seiner Frau sind bereits frei. In Interviews wird sie später immer wieder gefragt, wie sie nach diesen Erfahrungen noch an einen barmherzigen Gott glauben kann. 2003 sagte sie dazu:
"Man muss - ich weiß gar nicht, an was man denn noch glauben soll, wenn nicht um Gottes Willen an einen barmherzigen Gott. An einen barmherzigen Menschen kann ich nicht mehr glauben, den gibt es nicht. Der einzige, der jetzt noch barmherzig sein kann, das ist Gott. Wenn es ihn gibt. Und wenn denn dieser Gott nicht barmherzig ist – dann ist er in meinen Augen auch nicht Gott. Also das Bild vom natürlicherweise guten Menschen, dem meine Eltern so gerne angehangen haben, so diese Rousseausche Vorstellung, der Mensch ist von Natur aus gut, er wird nur durch die Gesellschaft, durch die Erziehung verdorben, den Gauben habe ich also wirklich völlig verloren.
Ich finde schon, dass der Mensch geeignet und begabt ist sowohl für das eine wie für das andere und dass es wirklich sehr oft seine eigene Entscheidung ist, ob er das bessere oder das Schlechtere wählt und von welchen Motiven er sich dabei leiten lässt, das Schlechtere oder das Bessere zu wählen. Und dass diese Arbeit an der eigenen Gesinnung, aus der heraus ich lebe und handele und rede, dass die nicht ernst genug genommen wird und nicht genügend kultiviert wird in den Familien heutzutage. Der Mensch hat – so wie er nun mal gebaut ist mit Leib und Seele, er hat gar nicht so viele Möglichkeiten, verschiedene sittliche Entwürfe zu leben mit dem gleichen Gewinn für sich. Also, er muss schon unbedingt bereit sein, die Wahrheit zu lieben und das Gute zu tun."
Einer der ersten Augenzeugenberichte aus dem KZ
Auf Wunsch des Vaters schreibt Isa Vermehren auf Wunsch des Vaters ihre Erlebnisse nieder. Diese werden unter dem Titel "Reise durch den letzten Akt" 1946 als einer der ersten Augenzeugenberichten einer Überlebenden der Konzentrationslager veröffentlicht. Und – sie ist nun fest entschlossen, in den Orden einzutreten. Dort signalisiert man ihr, sie solle erstmal ein Studium machen, denn man brauche Lehrerinnen. Also studiert sie und wird schließlich endlich aufgenommen. 1987 stelle ihr Gabriele Kreis in der Sendung "Journal am Vormittag" im Deutschlandfunk die Frage: "Wollten Sie eigentlich schon immer Lehrerein werden?"
"Nein. Überhaupt nicht. Ich habe auch immer gemeint, das ist wie eine Briefmarke, die nicht klebt, aber… ich bin’s dann doch gewesen, ich bin Schulleiterin gewesen die meiste Zeit, das bin ich sehr gern gewesen. Ich bin überhaupt alles gern gewesen, so ist es nicht, aber das hat mir der Orden sozusagen als Amt gegeben, ja? Und ein Amt, das man im Gehorsam nimmt, das macht man dann auch mit großer Freude."
Bildung ist für sie immer Gewissensbildung
Bildung ist für Isa Vermehren immer auch Gewissensbildung – das war eine der wesentlichen Lehren, die sie aus der Zeit des Dritten Reichs zog und auf die sie immer wieder verweist. 1993 hält sie in Ravensbrück einen Vortrag, in dem Sie dieses Thema folgendermaßen auf den Punkt bringt:
"Gewissen bindet uns an moralische Werte. Eine Gesellschaft ohne einen gewissen Wertekonsens hinsichtlich dessen, was sittlich gewollt und vom einzelnen gefordert werden muss, ist dem Untergang geweiht. Der von den Nationalsozialisten aufgestellte Wertekanon war ein verführerischer Wertekanon, wobei man nur jeden bedauern kann, der darauf reingefallen ist, der dafür sein Leben gegeben hat."
Dieses Beharren auf alten moralischen Werten und kirchlichen Bildungsidealen bringt Isa Vermehren vor allem nach 68 in Opposition zu den damals geforderten Veränderungen. So sagte sie 1987 im Interview: "Die Sophie-Barat-Schule war ja früher eine reine Mädchenschule, ganz im Sinne der Gründerin ihres Ordens"
"Naja, im Übrigen auch im Sinne der kirchlichen Erziehungstradition, nicht?"
"Inzwischen ist sie aber eine koedukative Schule… das bringt doch durchaus Veränderungen dann auch...."
"Na, die kann meine Nachfolgerin ausbaden. Der einzige Vorteil, von dem ich bisher weiß, ist, dass sie einen Knabenchor haben und einen gemischten Chor. Und das finde ich natürlich so bestechend, dass ich mich beinahe mit dem Gedanken aussöhnen kann."
Sie wollte in der Ordenstracht begraben werden
Womit sie sich nicht aussöhnen kann, sind die Veränderungen in der Liturgie und dem Klosteralltag nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. So hält sie bis ins hohe Alter nichts von der Idee, ihre Ordenstracht abzulegen. Sie besitze keine zivilen Kleider und wolle auch in der Ordenstracht begraben werden, erklärt sie immer wieder.
Nach ihrer Pensionierung steht Schwester Vermehren plötzlich wieder im Rampenlicht – oder besser: vor der Kamera – als Sprecherin des "Wort zum Sonntag". Hierbei kommt ihr die Erfahrung aus ihrer ersten Karriere zur Hilfe: "Ich hatte ja eine verhältnismäßig bewusste Spracherziehung mitbekommen und wusste sozusagen auch, dass es so etwas gibt wie eine Metakommunikation durch Mienenspiel und Augenrollen und Stirnrunzeln und ich weiß nicht was. Und diese Freude am Schauspielen oder am Imitieren eigentlich, nachmachen und etwas karikieren, das saß bei mir tief drin. Also, auch verbal haben wir ja sehr viel ironisiert und kritisiert und uns Spaß gemacht damit. Also, das hat mir sicher auch einen Vorsprung vor anderen Sprechern gegeben, weil ich da einfach ein gewisses Handwerkszeug zur Verfügung hatte, was die nicht hatten."
Von 1986 bis 1998 sprach sie das Wort zum Sonntag in der ARD. In ihren letzten Lebensjahren tritt sie häufig auf, um von ihren Erlebnissen während der Zeit des Nationalsozialismus zu berichten.
Über das Alter sagt sie 2003 im Deutschlandradio: "Tja. Ich meine dass das Alter so seine Bedingungen hat und einen sozusagen auf ganz neue Wege schickt, die man sich so gar nicht ausdenken konnte, und dass es da immer noch unendlich viel zu tun gibt, an einem selbst und bei einem selbst und für einen selbst, das lernt man langsam, schneller oder langsamer… Und ich denke schon, dass ich auf der letzten Wegstrecken angekommen bin, natürlich, wieso denn auch nicht? Und mein Wunsch ist, dass ich sozusagen im Frieden mit Gott und den Menschen sterben kann… Über den eigentlichen Sterbevorgang, da muss man sich ja fürchten, der kann sehr unangenehm sein, wie ich weiß… Aber das, was da eigentlich geschieht, also von der jetzigen irdischen Wirklichkeit in die überirdische sich hineinheben zu lassen – darauf will ich mich doch freuen."
Schwester Isa Vermehren stirbt am 15. Juli 2009 in dem Bonner Kloster, in das sie in den 1950er-Jahren in den Orden eingetreten war. "Jetzt kommt das letzte Stück aus dieser aufregenden Sendung" - so verabschiedete sich Isa Vermehren 1998 im Deutschlandfunk als Gastmoderatorin der Sendung "Klassik Pop etc." – und bewies ein weiteres Mal, dass ihr trotz allem der Schalk noch immer im Nacken saß.