Aktuelle Ausstellungen über Joseph Beuys:
"Der Katalysator. Joseph Beuys und Demokratie heute" (Museum Morsbroich in Leverkusen, digital, bis zum 29. August)
"Der Erfinder der Elektrizität. Joseph Beuys und der Christusimpuls" (St. Matthäus-Kirche in Berlin, bis zum 12. September)
"Im Dialog mit Joseph Beuys. Fotografien von Michael Ruetz und Peter Sevriens" (Galerie Van der Grinten in Köln)
"Unter diesem Hut steckt Utopia"
Fett, Filz und Hut – schon zu Lebzeiten war Joseph Beuys eine Ikone: nicht nur wegen seiner Kunst, sondern auch wegen seines politischen Engagements. Vor 100 Jahren wurde er geboren. Was bleibt von ihm heute?
Joseph Beuys gilt als einer der größten Künstler des 20. Jahrhunderts – gleichzeitig war und ist er umstritten. Anstelle der Ausstellungsbesucher erklärt er seine Bilder lieber einem toten Hasen. Einen Galerieraum teilt er sich mehrere Tage mit einem Kojoten. Und statt Stein oder Bronze arbeitet er bevorzugt mit Fett, Filz und Honig.
Der Mann mit Hut verändert die Vorstellung von Kunst und vom Kunstbegriff. Mit seinem universalen Denken erweitert er die Malerei, die Bildhauerei, die Installation und die Performance, indem er alle Lebensbereiche des Menschen in die Kunst miteinbezieht. Damit bricht er mit alten Sehgewohnheiten, geht neue, ungewöhnliche Wege, die so manchen Zeitgenossen irritieren.
Jeder Mensch ist ein Künstler
"Es ist gar nicht wichtig, ob ich als Person verstanden werde, sondern es ist wichtig, dass die Begriffe verstanden werden, die nötig sind, um zu neuen Taten zu kommen", so sagt er einmal.
Beuys sieht den Menschen in seiner Gesamtheit als Künstler, will die Gesellschaft und das politische System verändern, nennt es stinkend und faulend. Und er stellt eine These auf, die fast jeder kennt, die über all seinem Wirken schwebt und die so oft falsch verstanden wird: "Jeder Mensch ist ein Künstler."
Gemeint sei damit keineswegs, so stellt Beuys selbst einmal klar, "jeder Mensch ist ein guter Maler", sondern vielmehr "die menschliche Fähigkeit an jedem Arbeitsplatz (...), sei es die einer Krankenschwester, sei es die eines Landwirtes, zu sehen als eine künstlerische Aufgabe."
Beuys sei überzeugt gewesen, "dass Kunst letztendlich gleichzusetzen ist mit den kreativen Potenzialen, die in jedem Menschen stecken", sagt die Kunsthistorikerin Bettina Paust.
Kunst und Politik untrennbar verbunden
Ein Schlüsselwort im Werk von Beuys ist der "erweiterte Kunstbegriff": Kunst und Leben, Kunst und Handeln begreift er als eins.
Das setzt allerdings auch einen verantwortungsvoll denkenden Menschen voraus, der in der Lage ist zu handeln. Beuys habe "einen großen Glauben an die Fähigkeit jedes Menschen gehabt, über das, was er tut, hinauszuwachsen", sagt Klaus Staeck, langjähriger Wegbegleiter des Künstlers: "Für ihn waren die Menschen immer gleichwertig. Und das hat ihn ausgezeichnet."
Dem toten Hasen die Bilder erklären: Beuys über seinen 'erweiterten Kunstbegriff' (1983):
Er wirkte in der Kunst, in der Gesellschaft und in der Politik. Das eine war für Beuys von dem anderen nicht zu trennen.
Die "Tartarenlegende" als Teil seines Werks
Geboren wird Beuys am 12. Mai 1921 in Krefeld, seine Kindheit und Jugend verbringt er in Kleve – einer Stadt an der niederländischen Grenze. Hier wird er Ende der 1950er-Jahre ein Atelier im Kurhaus einrichten, das heute wieder zu besichtigen ist.
Als Kind war Beuys Mitglied in der Hitlerjugend. 1941 meldet er sich nach dem Notabitur freiwillig zur Luftwaffe. Er wird als Bordschütze ausgebildet und in den folgenden Jahren mehrfach verwundet.
Dieser Kriegszeit entspringt eine Legende, die Beuys selber entfacht hat: Er sei – nach dem Absturz mit seinem Kampfflugzeug – von Tataren gerettet worden. Über Tage hätten sie ihn in einer Jurte in Fett und Filz gehüllt und gepflegt.
Fett und Filz, die Materialien, die später seinen künstlerischen Weg begleiten werden – Stoffe, die wärmen, die weich sind, die – wie Fett – unterschiedliche Zustände haben können: flüssig, weich, fest.
Jahrelang hält sich in der Öffentlichkeit diese Legende. Heute weiß man, dass er in Wirklichkeit von deutschen Truppen gefunden und in ein Lazarett gebracht worden ist.
Die Kunsthistorikerin Bettina Paust findet die Legende dennoch legitim. Sie sieht darin einen Teil von Beuys’ Werk. Immerhin habe er damit "ein wunderschönes Narrativ geschaffen, wie sich die Materialien Fett und Filz in seinem Werk erklären lassen."
Natur und Sinnlichkeit
Während des Krieges hatte Beuys nach eigener Angabe Naturwissenschaften studiert, danach Tierfilme gedreht. Diese Nähe zur Natur, diese Faszination für sie wird ihn nicht nur während seines 1946 begonnenen Kunststudiums, sondern auch in seinem folgenden Schaffen begleiten.
Beuys fertigt neuartige Objekte aus Alltagsmaterialien an. Er nimmt zum Beispiel Wachs, Holz und Ton und macht daraus eine Plastik, die er "Bienenkönigin I" nennt. In wenigen Linien bringt er Tiere auf das Papier. Er zeichnet Hasen, Elche, Hirsche mit Blut, Wasser, Tee und Goldbronze.
Dabei geht es ihm nicht um naturgetreue Abbildung, vielmehr vereinfacht er in seinen Zeichnungen, deutet Formen an und formuliert sie nicht aus.
Kunst sei dazu da, so sagt Beuys später, dass sie die "sinnliche Wahrnehmung entwickelt und die höhere Form des Denkens anregt, als Intuition, als Imagination und Inspiration". Inspiriert wird Beuys dabei auch von den Ideen des Anthroposophen Rudolf Steiner, der die schöpferische Fähigkeit des Menschen hervorhebt und dem rationalistischen, materialistischen Denken gegenüberstellt.
Daneben findet Beuys auch Inspiration im Christentum. Er malt zum Beispiel Kreuze in brauner Farbe, die eins seiner Markenzeichen wird. Braunkreuz nennt er die Farbe – als Symbol für Erde und Blut, für Lebensenergie schlechthin.
Soziale Plastik
An Ausstellungen ist Beuys lange nicht interessiert: Er will die Welt verändern, will keinen Kapitalismus, keinen Marxismus, sondern den Geist des Menschen aufwerten, seine Spiritualität. Welt und Mensch sollen so geheilt werden.
Zentral wird für Beuys die These von der "sozialen Plastik". Darunter versteht er "die Umgestaltung des Sozialleibes, an dem nicht nur jeder teilhaben kann, sondern wenn dieses große Werk gelingen soll, sogar jeder Mensch teilnehmen muss."
Trailer zum Dokumentarfilm "BEUYS" (2017):
Die "Menschen zu erreichen" steht für Beuys bei all seinem Schaffen im Zentrum. Später ficht er dazu auch mal Boxkämpfe für die direkte Demokratie aus oder steigt spontan ins Moor und imitiert die Bewegung der Vögel.
1961, drei Jahre nach einem erfolglosen ersten Versuch, wird Beuys in Düsseldorf zum Professor für "Monumentale Bildhauerei" berufen. Er verbringt acht bis zehn Stunden täglich an der Akademie. Streng sei er gewesen, liest man. Nein, wehren andere Schüler rückblickend ab, nicht streng sei er gewesen, aber eine Respektsperson.
Fett, Filz und Selbstdarstellung
In der Kölner Galerie Rudolf Zwirner macht Beuys zum ersten Mal eine Kunstaktion mit Fett. Im Lauf seines Künstlerlebens werden einige Fettecken entstehen, an Wänden, auf Stühlen, in Pappkartons. "Das Fett war ja das ideale Material mit dem man die Zustände von chaotischer Kondition, von Bewegungsmäßigem und Formprinzip zeigen konnte", so sagt Beuys selbst.
"Das heißt, es geht nicht mehr darum, bildhauerisch einen Gegenstand zu formen, der so ist, wie er ist, sondern der sich in der Zeit seiner Existenz auch verändern kann", sagt Bettina Paust.
Einige Menschen reagieren mit Unverständnis auf das Werk von Beuys, was zu mancher Anekdote führt. Zum Beispiel, dass Putzfrauen seine Fettecke in seinem alten Atelier in der Düsseldorfer Kunstakademie entfernen.
Auch sich selbst begreift Beuys als Gestaltungsmasse, erklärt Guido de Werd, ehemaliger Direktor des Museums Kurhaus Kleve: "Er hat ganz früh gewusst, dass er eine Stilisierung seiner Person betreiben musste, um so viele Leute wie möglich zu erreichen. Später hat er das perfektioniert: Dann gab es ja die Anglerweste oder die Fliegerjacke. Dann gab es die rote Weste, roter Pulli darunter, wie man ihn kennt."
Kapitalismuskritiker und Öko – mit Rechtsdrall?
Immer wieder provozieren seine Auftritte – etwa, als er 1967 bei den Eröffnungsreden in der Kunstakademie mehrere Minuten lang wie ein Hirsch ins Mikrofon röhrt, statt eine Rede zu halten. Und immer wieder sucht Beuys die öffentliche Diskussion, auch bei Fernsehauftritten. Seine Kunsttheorie verbindet er dabei mit fundamentaler Gesellschafts- und Kapitalismuskritik.
In diesem Zusammenhang fordert Beuys auch einen anderen Umgang mit Ressourcen: "Ich bin nicht davon überzeugt, dass diejenige Wirtschaft die beste ist, wo sehr viel gekauft wird", vielmehr glaube er, "dass eine Gesellschaft umso gesunder ist, je weniger gekauft wird."
1980 nimmt er an der Gründung der "Grünen" teil und kandidiert später sogar – erfolglos – für den Bundestag.
Allerdings taucht in jüngster Zeit auch die Frage auf, wie politisch rechts Beuys gewesen ist: Unter anderem werden ihm Kameradschaftsabende mit früheren Weltkriegssoldaten und die zeitweise Zusammenarbeit mit rechten Politikern vorgeworfen, zum Beispiel 1976 mit der Arbeitsgemeinschaft der unabhängigen Deutschen.
Klaus Staeck ist hingegen überzeugt: "Das waren alles kurze Phasen und sind von mir aus nur damit erklärbar, dass er irgendwie diesen Urglauben an alle Menschen hatte. Nein, ein Rechter? Ich hätte es nie mit einem Rechten ausgehalten."
Verehrt und verhasst
Bei aller Bewunderung, die Beuys erfährt, bekommt er auch starken Gegenwind zu spüren. Bereits 1968 unterzeichnen neun Professoren der Düsseldorfer Kunstakademie ein Misstrauensmanifest gegen ihn. Die Kollegen beklagen eine "Sucht nach weltanschaulicher Bevormundung, anmaßender politischer Dilettantismus, Intoleranz und Diffamierung".
Als Beuys 1972 zum zweiten Mal abgelehnte Studienbewerber in seine Klasse aufnehmen will – denn auf welcher Basis könne man eine Auslese treffen? – und dafür mit Anhängern das Sekretariat besetzt, kündigt ihm Nordrhein-Westfalens damaliger Wissenschaftsminister Johannes Rau umgehend fristlos.
Zwei Tage später sollen Polizisten das Gebäude räumen und Beuys verlässt – bildgewaltig – die Akademie durch ein Spalier von Polizisten. Nach einer erfolgreichen Klage gegen seine Entlassung darf Beuys allerdings in die Akademie zurückkehren.
In den 1960er- und 1970er-Jahren passiert viel im Leben und Wirken von Beuys, er ist sehr produktiv. Neben großformatigen, fast raumsprengenden Installationen für Museen und Galerien fertigt er Multiples an: Kunstwerke in mehreren Auflagen oder Exemplaren, wie eine leere Holzkiste, die er "Intuition" nennt.
Beuys signiert Plakate und Postkarten. Und wird durch seine mannigfaltige Produktivität auch zu einem "Liebling des Kunsthandels", wie Guido de Werd es formuliert.
Dabei sei es ihm eigentlich darum gegangen, so Bettina Paust, "dass Kunst nicht nur für diejenigen etwas ist, die sich das leisten können". Demgegenüber habe er in der Tat hat "einen Demokratisierungsprozess eingeleitet".
Weitsichtiger Visionär
Im Mai 1985 erkrankt Joseph Beuys an einer seltenen Lungenkrankheit. Am 12. Januar 1986 bekommt er den Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg. Einer der Laudatoren, der Direktor des Kröller-Möller-Museums in den Niederlanden, spricht den großartigen Satz aus: "Unter diesem Hut steckt Utopia".
Wenige Tage später, am 23. Januar stirbt Joseph Beuys in seinem Düsseldorfer Atelier am Drakeplatz.
Arte-Reportage über das Jubiläumsprogramm "Beuys2021":
Heute gilt Beuys als einer der prägendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Eine Figur, an der sich Zeitgeschichte ablesen lässt, die Zeitgeschichte aber auch geprägt hat: Kunst wird nie mehr nur reduziert sein auf Skulptur und Malerei.
Den Satz "Jeder Mensch ist ein Künstler" kennt fast jeder – auch wenn nicht jeder weiß, was er wirklich bedeutet. Und das kapitalistische Gesellschaftssystem wird im Zeichen der Klimakrise gerade jetzt wieder infrage gestellt.
"Wenn man sozusagen von heute auf Beuys guckt in diesem Thema, bewertet man ihn anders", meint Bettina Paust. "Und dann sieht man auch, wie vorausschauend sein Denken und auch sein künstlerischer Ansatz war in diesen Bereichen."
Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Berit Hempel
Regie: Burkhard Reinarzt
Redaktion: Monika Künzel
Sprecherin: Frauke Poolman
Über die Autorin: Die Journalistin und Autorin Berit Hempel studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Völkerkunde und arbeitete seitdem als Autorin für Hörfunk und Fernsehen sowie als Redakteurin für den Westdeutschen Rundfunk und den Deutschlandfunk. Als Stipendiatin war sie in Frankreich tätig und berichtete aus Südafrika, ihre Wissensfeatures im Headroom-Verlag wurden mehrfach ausgezeichnet.