Eine Lyrik voller Stimmen Europas
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"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland": Diese Zeile aus der "Todesfuge" fällt vielen sofort zu Paul Celan ein. Heute wäre der Dichter 100 Jahre alt geworden. In seinem Werk habe er viele Stimmen Europas vereint, sagt der Experte Thomas Sparr.
"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland": Diese Zeile aus der "Todesfuge" fällt vielen sofort zu Paul Celan ein. Heute wäre der Dichter 100 Jahre alt geworden. In seinem Werk habe er viele Stimmen Europas vereint, sagt der Experte Thomas Sparr.
Liane von Billerbeck: Er war Dichter, Jude, Philosoph, Bukowina-Übersetzer und eine Person des 20. Jahrhunderts, aber vor allem ist er Flüchtling – geflohen nach Paris, aber mit der deutschen Sprache im Gepäck: Paul Celan. So hat ihn der ukrainische Schriftsteller Andrij Ljubka beschrieben. Heute wäre Paul Celan 100 Jahre alt geworden.
"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" ist wohl die bekannteste Zeile aus seinem Gedicht "Todesfuge", und hier liest er noch mal den Anfang dieses Gedichts:
"Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens, wir trinken sie nachts, wir trinken und trinken."
Paul Celan, heute wäre sein 100. Geburtstag gewesen. Wäre, denn er hat sich 1970 in Paris das Leben genommen. Ich will über den Dichter mit Thomas Sparr reden. Er ist nicht nur Geschäftsführer des Suhrkamp-Verlages, sondern er hat ein Buch geschrieben, "Todesfuge" heißt das, "Biografie eines Gedichts".
Der Bundespräsident hat kürzlich einen Abend zur Erinnerung an Paul Celan gegeben. Es ist der 50. Todestag und der 100. Geburtstag in einem Jahr, und doch, so war jedenfalls unser Eindruck, war von Paul Celan in diesem Jahr eher wenig zu hören. Täuscht dieser Eindruck?
Sparr: Dieser Eindruck täuscht, weil viele Artikel, viele Bücher doch schon im Frühjahr erschienen sind. Ein bisschen sind sie auch in den Shutdown oder in den Lockdown gegangen, aber vieles ist uns auch gegenwärtig geworden, nämlich dass Paul Celan seinen 50. Geburtstag gar nicht mehr erreicht hat und erlebt hat, sondern vorher in die Seine gegangen ist. Insofern ist es ein doppeltes Jubiläum, ein Jubiläum der Erinnerung an den 100. Geburtstag, wie aber auch an den 50. Todestag.
Kein Volksdichter im landläufigen Sinn
von Billerbeck: Man kennt, ich hab’s gesagt, ja vor allem diese eine Zeile aus seinem berühmtesten Gedicht, "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Celan ist Thema im Schulunterricht, und dennoch, Sie haben sich lange mit ihm beschäftigt, ist seine Lyrik zu sperrig für breite Leserschaften?
Sparr: Celan ist bestimmt kein Volksdichter im landläufigen Sinne, aber er ist ein Dichter für viele wenige, die ihn entdecken können, für viele Einzelne, die seine Gedichte auf ihr Leben beziehen können.
Es war für mich sehr interessant zu sehen, wie man Celan etwa Ende der 80er-Jahre in der DDR gelesen hat. "Es wird Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt", eine solche Gedichtzeile hat man auf die politischen Verhältnisse in der damaligen DDR bezogen, und insofern ist Celan ein Dichter, der noch viele Überraschungen für aufmerksame Leser und Lesende bereithält.
von Billerbeck: Schön, dass Sie daran erinnern, daran erinnere ich mich nämlich auch. Trotzdem die Frage: Wir haben ein Beethoven-Jahr, wir haben ein Hölderlin-Jahr, wir haben Fontane-Jahr, wieso haben wir kein Celan-Jahr?
Sparr: Das ist eine gute Frage. Celan und das öffentliche Gedenken, das ist tatsächlich sperrig, weil die "Todesfuge" 1988 im Deutschen Bundestag rezitiert wurde von einer Schauspielerin, Ida Ehre, und nach dieser Rezitation und der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger musste er vom zweithöchsten Staatsamt zurücktreten, weil die "Todesfuge" und seine Rede sich nicht zusammenfügten. Seitdem hat man die "Todesfuge" öffentlich, jedenfalls in Deutschland, nie wieder rezitiert.
Die "Todesfuge" hat Celans Leben begleitet
von Billerbeck: Die Biografie eines Menschen zu schreiben, das kennt man, Sie haben aber nun die Biografie eines Gedichts, nämlich der "Todesfuge" geschrieben. Worin unterscheidet die sich von der Biografie, wenn man über einen Lebenden schreibt?
Sparr: Sie unterscheidet sich an etlichen Punkten gar nicht. Sie geht mit dem Leben einher, sie hat ihn begleitet, aber sie hat sein Leben eben auch überdauert. Wir blicken jetzt auch auf 50 Jahre, eine längere Wirkungsgeschichte der "Todesfuge" zurück, ein neues Verständnis. Wir haben in diesen 50 Jahren einen Begriff vom Holocaust und von der Schoah gefunden, was es 1970 noch gar nicht gab. Insofern hat ein Gedicht ein Nachleben, das aber auch das Leben des Dichters in sich aufbewahrt.
von Billerbeck: Das war ein Dichter, ein Mensch, ein Flüchtling, wie der Schriftstellerkollege aus der Ukraine das beschrieben hat, auf Deutsch schreibend, also mit der Sprache Hölderlins und der Sprache der Mörder im Gepäck. Ist das der rote Faden dieser Biografie?
Sparr: Das ist ein wesentliches Moment, aber es ist nicht nur die Sprache Hölderlins, es ist auch die Sprache Mandelstams, es ist die Sprache der französischen Surrealisten, es ist die Sprache der rumänischen Dichtung. Celan hat in seinem Gepäck so etwas wie die europäische Lyrik mitgenommen ins Exil, und er hat sie uns, den Nachlebenden, in wunderbaren Übersetzungen vermittelt und weitergereicht.
Große Individualität, weiter europäischer Horizont
von Billerbeck: Adorno wird ja häufig mit dem Satz zitiert, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", aber hat Celan ihm mit der "Todesfuge" nicht gerade widersprochen, der Barbarei etwas entgegengesetzt, ausgerechnet mit Dichtung und dann noch auf Deutsch?
Sparr: Das ist im Grunde so etwas wie eine Widerlegung dieses Satzes, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Es ist eine großartige poetische Widerlegung dieses einen Satzes.
von Billerbeck: Wenn Sie zusammenfassen müssten, was die Faszination des Werks von Paul Celan für Sie ausmacht, was ist das?
Sparr: Das entschlüsselbare Rätsel, die große Individualität bei einem weiten europäischen Horizont, das scheint mir Celans Lyrik auszumachen. Wir werden eines ganzen Kontinents gewahr, wir hören viele Stimmen, und wir können ihn für uns selbst ganz individuell entdecken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.