Albrecht Müller: "Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger"
Westend Verlag Frankfurt/M. 2013,
160 Seiten, 12,99 Euro
"Er hat die Fenster aufgemacht in diesem doch sehr verrotteten Land"
Kritisch guckt der ehemalige Wahlkampfmanager Albrecht Müller auf Brandts Amtszeit zurück. Die Wirtschaft habe damals eine "Riesen-Kampagne" gegen ihn gestartet. Eigene Parteimitglieder wie Herbert Wehner hätten es darauf angelegt, ihn zu "demontieren".
Liane von Billerbeck: Heute vor 100 Jahren wurde Willy Brandt geboren. Inzwischen verehrt und respektiert in allen politischen Lagern, ist ein wenig in den Schatten gerückt, wie umkämpft er in seiner Zeit als Kandidat und SPD-Kanzler gewesen ist. Immerhin hatte er ja das große Tabu gebrochen und gesagt, dass die deutschen Ostgebiete durch den Zweiten Weltkrieg verloren waren, und auch, dass man die DDR nach dem Mauerbau nicht mehr einfach ignorieren konnte. Brandt hat dafür großen politischen Streit gewagt und das öffentliche Bewusstsein verändert. Als die gestern erneut gewählte Angela Merkel 2005 erstmals eine Rede als Kanzlerin hielt, da zitierte sie ja Brandts „Mehr Demokratie wagen“ und deutete ihn gleichsam um in „Mehr Freiheit wagen“. Trotz aller Verehrung für Brandt – so sieht es jedenfalls Brandts Wahlkampfleiter von 1972, der Ökonom Albrecht Müller – würde die Treibjagd auf Brandt von damals, von politischen Gegnern und eigenen Leuten angezettelt, dessen Bild bis heute beschädigen. Müller hat über Brandt ein kleines Büchlein geschrieben und das heißt: „Treibjagd auf einen Hoffnungsträger“. Er ist jetzt am Telefon, Herr Müller, ich grüße Sie!
Albrecht Müller: Guten Morgen!
von Billerbeck: Das heutige Brandt-Bild ist ja das Bild einer politischen Ikone, trotz aller politischen Gegensätze ist Brandt ein respektierter Staatsmann. Was stimmt an diesem Bild und was ist falsch?
Müller: Ja, gut, dass er ein großer Politiker war, dass er zum Beispiel langfristig denken konnte – was die Ostpolitik und die Erfolge, die damit verbunden waren, auch zeigen –, das ist schon heute anerkannt, aber es geht auch in der jetzigen Berichterstattung zum Geburtstag im Grunde einen Kern oder einige Kerne dieser damaligen Aggressionen weiter. Also man sagt nach wie vor, er sei ökonomisch nicht erfolgreich gewesen, also die „Zeit“, diese große Zeitung, hat ein Heft rausgebracht, da heißt es, „er wusste keine Antwort auf die Krise nach der Wirtschaftswunderzeit“ – das ist wirklicher Unsinn, denn auch gerade Helmut Schmidt, sein Nachfolger, hat damals dokumentiert, wie erfolgreich die Regierungszeit Willy Brandts auch ökonomisch war.
von Billerbeck: Das heißt, man sieht Willy Brandt immer nur als Außenkanzler und erkennt die innenpolitischen Erfolge Brandts nicht?
Müller: Ja, das ist sehr gängig. Das hat damals Günter Gaus in die Welt gesetzt, das war eher so ein Versuch, den „Spiegel“ aus der Regierungsnähe zu entfernen, aber es hat nachhaltig gewirkt. Seitdem wird in fast jedem historischen Werk das wiedergekaut, er habe nur Sinn für die Ostpolitik gehabt. Dabei: Willy Brandt war der Erfinder der Umweltpolitik in Deutschland! Er hat solche großartigen Sachen eingeleitet wie das Städtebauförderungsgesetz. Er hat, was viel wichtiger war noch, dafür gesorgt, dass die protestierende Jugend von damals eine Möglichkeit zur Integration in der Gesellschaft hatte. Er hat die Fenster aufgemacht in diesem doch sehr verrotteten Land oder ziemlich konservativen Land.
Das ist alles wirklich sehr viel mehr als die ostpolitischen Erfolge. Und dennoch hält sich diese Behauptung, es hält sich, was mich sehr betrifft und wirklich mich umtreibt, der Vorwurf, er sei depressiv gewesen. Das kommt in vielen Berichten auch jetzt immer wieder. Ich habe gestern gerade eine Besprechung Ihres Kölner Senders gelesen, wo drinsteht, man solle Schöllgen lesen, das ist ein Historiker, der eine erste Biografie geschrieben hat – ja, bei Schöllgen steht das mit der Depression auch drin, und bei Schöllgen, … Was ganz wichtig ist: In fast keinem historischen Werk wird erwähnt, welche Riesen-Kampagne die Wirtschaft – nicht die organisierte Wirtschaft, sondern Leute mit viel Geld – damals 1972 gegen Willy Brandt und die SPD gemacht haben.
von Billerbeck: Sie haben ja damals in der SPD-Baracke, in der Parteizentrale gearbeitet, Sie waren Wahlkampfmanager Brandts 72. Erinnern wir uns noch mal daran: Was sind das für Vorwürfe gewesen und wie ist das abgelaufen im Ende der Sechziger, frühen Siebziger? Warum entlud sich dieser Hass so auf Brandt?
Müller: Also es sind ja viele Komponenten zusammengekommen: Die Menschen, die ihre Heimat im Osten verloren haben oder die eben fliehen mussten und weg waren, vertrieben wurden, die meinten, Willy Brandt hätte ihre Heimat verkauft. Das ist wirklich eine ganz große Fehleinschätzung gewesen, und Gott sei Dank hat sich das ja inzwischen rumgesprochen. Andere meinten, er sei eine Gefahr für die Freiheit, und das taucht ja bei dem auf, was Sie zitiert haben von Frau Merkel. Das ist grotesk gewesen! Willy Brandt war wirklich ein großer Bewunderer der Freiheit, jetzt dessen, dass man frei denken kann und dergleichen mehr.
Und er war allerdings auch ein Kritiker dieser Ideologie, die damit verbunden ist, und er hätte mit Herrn Gauck überhaupt nichts anfangen können, weil bei dem das ja wirkliche Lippenbekenntnisse sind über Freiheit. Wir werden abgehört von Amerikanern hier, und dann reden wir groß von Freiheit und tun so, als wäre der Westen gut und der Osten schlecht. Und das ist eine der eigentlichen großen Vermächtnisse von Willy Brandt, das will ich vielleicht mal anfügen, dass er gesagt hat, nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge – und er hat die Konfrontation zwischen Ost und West abgebaut. Und wir fangen jetzt wieder an, diese Konfrontation aufzubauen! Verfolgen Sie mal, was im Zusammenhang mit Ukraine alles abgesondert wird.
von Billerbeck: Wenn wir noch mal zurückgehen in die damalige Zeit, trotzdem noch mal die Nachfrage: Was war der Grund, dass sich der Hass so an der Person Brandt entzündete?
Müller: Ja, das war einmal so: Es gab natürlich viele konservative Leute, die nicht ertragen konnten, dass sie regiert werden von einem Mann, der unehelich geboren wurde. Es gab ganz viele nationalistisch denkende Menschen, die nicht aushalten konnten, dass einer das Land regiert, der vor Hitler geflohen ist aus Deutschland, also der in ein anderes Land ging. Da gab es ja ganz böse Bemerkungen von Franz Josef Strauß, dem damaligen CSU-Vorsitzenden: „Wir wissen, was wir hier getan haben, und der Brandt war in Norwegen“ – das ist sozusagen ein Fundament von üblen Denken gewesen, was damals dann die Aggressionen gegen diese Person besonders gefördert hat.
von Billerbeck: Aber es waren ja nicht nur die politischen Gegner und mit ihnen verbundene Medien und Wirtschaftsleute, sondern Brandt ist ja auch aus der eigenen Partei schwer angegriffen worden, insbesondere von Herbert Wehner. Was waren das für Angriffe?
Müller: Ja, Herbert Wehner hat bösartige Sachen gesagt, er hat gesagt, es ist der Herr, der lau badet, und hat ja auch insinuiert, sogar formuliert, dass im Grunde man ihm die Regierungsarbeit nicht überlassen könne, …
von Billerbeck: Er sei eine Fehlbesetzung.
Müller: Er sei eine Fehlbesetzung. Also das war von Wehner ganz übel und es war völlig drauf angelegt, dass Willy Brandt demontiert wird, und so ist es ja auch gekommen. Bei Helmut Schmidt, muss ich sagen, kann ich das verstehen, er war fünf Jahre jünger und wollte auch Bundeskanzler werden, und deshalb hat er darüber nachgedacht und sich Gedanken gemacht, wie er an die Macht kommen könne. Ich finde das allerdings nicht sehr anständig, wie das dann gehandelt worden ist – also ich spreche von einer politischen Erpressung im Juli 1972, und dann bin ich nach wie vor sprachlos, dass Schmidt und Wehner zusammen die Koalitionsverhandlungen nach dem Sieg des Willy Brandt geführt haben, weil Willy Brandt im Krankenhaus war und gar nicht reden konnte. Sie haben die Verhandlungen geführt und dann haben sie unglaublich viel an die FDP verschenkt, zum Beispiel ein weiteres klassisches Ministerium, das Wirtschaftsministerium, und dann haben sie, wie Helmut Schmidt jetzt in der „Zeit“ vom 14.11. dieses Jahres sagte, ihm das Ergebnis hingestellt.
von Billerbeck: Und er hat es angenommen.
Müller: Und er hat nicht widersprochen, der konnte gar nicht, weil nämlich das schon in die Öffentlichkeit lanciert war und weil Willy Brandt das gar nicht zurückdrehen konnte. Da war ja auch ein anderer Partner dabei, nämlich die FDP, und die hätte sich schon bedankt dafür, dass er den Versuch gemacht hätte, das zurückzudrehen. Also das war alles nicht sonderlich anständig, muss ich sagen, und mich empört es bis heute, und ich kann eben darüber auch gefühlsmäßig nicht hinweggehen.
von Billerbeck: Sie haben viele Jahre für Willy Brandt gearbeitet, später dann auch für Helmut Schmidt, Sie kennen also auch die Unterschiede. Fragen wir noch mal da nach, wenn man das zusammenfasst: Wie war Brandt – vor allem ein politischer Überzeugungstäter? Was war er für ein Mensch?
Müller: Er war ein sehr intelligenter Mensch. Lassen Sie mich kurz eine Geschichte erzählen. Ich habe Oscar Lafontaine erzählt, dass ich dieses Buch schreibe, und dann hat der sehr schön gesagt: „Du weißt ja, ich halte mich für sehr intelligent, aber bei einem, nämlich bei Willy Brandt, war ich dann überzeugt davon, dass er noch intelligenter ist als ich.“ Das war eine ganz wichtige Sache. Dann war er schnell in Entscheidungen – also so einen Wahlkampf wie 1972 konnte man nur so führen, weil er eben entscheidungsfreudig war. Wir haben innerhalb von zwei Stunden das ganze Wahlkampfkonzept besprochen und beschlossen, und er hat gesagt, wo es nicht geht und wo es anders gehen sollte.
von Billerbeck: Und wie hat er es dann am Ende geschafft, dass sich der Hass gegen ihn verflüchtigte und er zu so einer Art überparteilichem Staatsmann geworden ist?
Müller: Ja, gut, das hat etwas mit Veränderungen auch innerhalb der Union zu tun, und da haben ja andere Leute mitgewirkt, wie etwa der spätere Bundespräsident Weizsäcker, der viel dazu getan hat, dass auch innerhalb des konservativen Lagers eingesehen wurde, dass die Ostpolitik richtig war, und dann kam eben der Erfolg. Also der Fall der Mauer ist doch der Beleg dafür, dass die Konzeption, nämlich Wandel durch Annäherung, Wandel durch Abbau der Konfrontation, Wandel im Osten funktioniert hat. Gorbatschow hätte es ohne die Politik Willy Brandts nicht gegeben, und das Wirken Gorbatschows war wichtig dafür, dass in Europa die Konfrontation abgebaut worden ist, die Mauer fiel und das alles. Und dieser Erfolg war natürlich so eindrucksvoll, dass auch konservative Leute, die früher seine harten Gegner waren, inzwischen ihre Meinung geändert haben.
von Billerbeck: Das sagt Albrecht Müller, Willy Brandts Wahlkampfleiter von 1972. Heute vor 100 Jahren wurde Willy Brandt geboren. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Müller: Ja, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.