Hannah Arendt: "Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Kritische Gesamtausgabe"
(Bd. 2 Hrsg. von Barbara Hahn)
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
969 Seiten, 49 Euro
Die deutsch-jüdische Netzwerkerin
09:28 Minuten
Die Schriftstellerin Rahel Varnhagen hat Tagebücher und Briefe hinterlassen, die erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Vor 250 Jahren wurde sie geboren und zeitlebens hat sie ihre Rollenzuschreibungen reflektiert und Menschen wie Hannah Arendt inspiriert.
"Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen."
So die letzten Worte von Rahel Levin Varnhagen auf dem Sterbebett im Jahr 1833. Überliefert hat sie ihr Mann Karl August Varnhagen van Ense und sie eröffnen Hannah Arendts berühmte, 1959 erstmals in Deutschland veröffentlichte Biografie der Autorin.
Bis heute fasziniert die Schriftstellerin, Salondame, Intellektuelle, die in zahllosen Briefen, Tagebucheinträgen und Notizen ihren Herzensangelegenheiten Ausdruck verliehen hat: Der kompromisslosen Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit, dem Versuch, den Dingen durch bedingungsloses Nachdenken auf den Grund zu gehen, dem Postulat, sich dem Leben in all seinen Höhen und Tiefen auszusetzen und für Freundschaft und Menschlichkeit zu werben. Dazu Larissa Smurago:
"Was mir besonders gefällt ist, dass sie eine eigenständige Intellektualität jenseits gesellschaftlicher Normen darstellt. Dass sie als Frau eine relativ ungewöhnliche Biografie hat – mit einer späten Heirat, mit letztendlich auch einer Initiative, die erst später mit diesem Namen bedachten ´Salons` zu gründen, in denen ja teilweise das Who is Who der damaligen Welt zusammenkam ..."
Die 27-Jährige studiert deutsche Literaturwissenschaft und ist Stipendiatin des jüdischen Studentenwerks ELES. Gerade als Jüdin und Frau fühlt sie sich von Rahel Levin Varnhagen inspiriert:
Unendliche Liebe einer emanzipierten Netzwerkerin
"Ich finde einerseits sie als Frau, die eigenständig und vielseitig interessiert war, als jüdische Frau, deren Identität und Herkunft trotz der Konversion für sie eine Rolle für sie gespielt hat, als Intellektuelle, emanzipierte Frau und nicht zuletzt als Netzwerkerin finde ich sie auch interessant."
Rahel Varnhagen war eine Netzwerkerin, die Intellektuelle aber auch Menschen aller Stände um sich scharte, die in ihrem Salon Kommunikation auf Augenhöhe und menschliche Begegnung in einem halb-öffentlichen Raum ermöglichte. Und eine Schreibende, deren radikal persönlicher, aphoristischer, direkter Stil von heutigen Kommunikationsformen wie wir sie aus den sozialen Medien kennen, vielleicht gar nicht so weit entfernt ist. An Clemens von Brentano schreibt sie 1823:
"Ich liebe unendlich Gesellschaft und von je, und bin ganz davon überzeugt, daß ich dazu gebohren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin. Ich habe unendliche Gegenwart und Schnelligkeit des Geistes um aufzufassen, um zu antworten, zu behandeln... Ich bin bescheiden und gebe mich preis durch Sprechen und kann sehr lange schweigen und liebe alles Menschliche, dulde beynah alle Menschen."
Als Jüdin benachteiligt
Doch ihr, die offen ist für Menschen jeglicher Herkunft, jeglichen Standes, schlägt immer wieder antisemitische Ablehnung entgegen – ihre Herkunft aus jüdischem Elternhaus kann sie nicht ablegen.
"Im Jahre 1771 wird Rahel Levin in Berlin geboren: der Vater ein jüdischer Juwelenhändler, wohlhabend, klug und ungebildet, die Mutter ohne eigene Kontur, anlehnungsbedürftig, in ständiger Angst vor der Tyrannei des Mannes, Mutter von fünf Kindern. Das Haus schon fast traditionslos geworden – wenn auch die äusseren Gebräuche noch gehalten werden, noch nicht assimiliert."
So skizziert Hannah Arendt in der ersten, 1933 geschriebenen Fassung ihrer Rahel-Varnhagen Biographie unter der Kapitelüberschrift "Benachteiligtsein" die Herkunft ihrer Protagonistin. Barbara Hahn:
"1933 war das klar, warum sie sich damit beschäftigt. Sie wusste doch damals, dass die deutsch-jüdische Geschichte vorbei ist. Und sie wollte die Geschichte dieses Scheiterns schreiben."
Barbara Hahn hat sich als Germanistin sowohl mit Rahel Varnhagen als auch mit Hannah Arendt intensiv befasst. Unlängst ist der zweite Band der von ihr herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts erschienen, der die intensive Beschäftigung der politischen Philosophin mit der romantischen Schriftstellerin akribisch dokumentiert.
"Sie wollte die Geschichte dieser gescheiterten Assimilation und als Beispiel oder beispielhaft erklärt an Rachel Levin Varnhagen und später hat sich das dann umgedreht. Aber das Interesse ist dieses politische Interesse daran, also der Versuch zu erklären, warum die Geschichte der Assimilation in Deutschland gescheitert ist ... Na, die These ist, dass man in einer Gesellschaft, die antisemitisch strukturiert ist, dass, wenn man sich assimiliert, sich an den Antisemitismus assimiliert. Und umgekehrt sagt sie, in Deutschland gab es nie Raum für assimilierte Juden – die waren immer die anderen und die ausgeschlossenen, das ist die These – eine traurige These."
Hat Hannah Arendt sich mit Rahel Varnhagen identifiziert?
"Das ist so eine gängige These, ich finde die ganz verkehrt. Sie war, glaube ich, auch sehr beeindruckt von der Intellektualität dieser Frau. Die hat ja unglaubliche Gedanken formuliert, Gedanken, die man heute mit großer Mühe überhaupt nur nachdenken kann – aber identifiziert hat sie sich, glaube ich, nicht."
Der Mainzer Germanist Dieter Lamping findet den Blick Hannah Arendts auf das Leben Rahel Varnhagens nachvollziehbar, plädiert aber für Differenzierung.
"Hannah Arendts Buch ist außerordentlich scharfsinnig. Es ist auch streng, was die Hauptfigur angeht. Es ist ihm aber wirklich eingeschrieben dieses Datum 1933. Und von diesem Datum her hat sie eben die jüdische Assimilation als gescheitert empfunden. Das ist etwas, was bis heute unter deutschen Juden diskutiert wird, auch diskutiert werden muss. Ich meine, man sollte Rahels Weg differenzierter beurteilen, und sollte dabei auch sehen, dass sie am Anfang einer Entwicklung steht, deren Ende sie nicht vorhersehen konnte."
Zum 250. Geburtstag Rahel Levin Varnhagens hat Dieter Lamping selbst eine Biografie vorgelegt, die die wichtigsten Lebensstationen der Intellektuellen kurz und bündig zusammenfasst. Rahel Varnhagens Muttersprache, schreibt Dieter Lamping, war jiddisch. Ihre Texte verfasste sie später auf Hochdeutsch und brachte sich autodidaktisch mehrere Sprachen bei.
Dieter Lamping: "Rahel Varnhagen. Ich lasse das Leben auf mich regnen"
Ebersbach und Simon, Berlin 2021
144 Seiten, 18 Euro
"Rahel hat schon früh, in den 1790er-Jahren, da war sie Anfang 20, das Judentum als eine Last empfunden, als einen Makel und das hat sie natürlich deswegen getan, weil die preußische Gesellschaft der Zeit Jüdisch-Sein zu einem Makel machte."
Seit 1810 nannte sie sich Rahel Robert und ließ sich auf den Namen Antonie Friderike taufen, um 1814 den 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen van Ense heiraten zu können – zivile Eheschließungen waren damals noch nicht möglich, interreligiöse Ehen gab es nicht. Für Lamping ist Rahel Varnhagen ein frühes Beispiel eines gemeinsamen deutsch-jüdischen Kulturbegriffs:
"An Personen wie Rahel Varnhagen sieht man, welchen Gewinn Juden für deutsche Kultur bedeutet haben und noch immer bedeuten. Und an ihr sieht man das als erster jüdischer Frau, der dann viele weitere jüdische Frauen in der deutschen Geschichte gefolgt sind: Rosa Luxemburg, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, auch Hannah Arendt natürlich."
Persönlichkeit inspiriert heute noch jüdische Menschen
Mag die Rolle von Rahel Levin Varnhagen als konvertierte Jüdin im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte auch unterschiedlich bewertet worden sein – über eines sind sich Barbara Hahn und Dieter Lamping einig: Diese vor 250 Jahren geborene Intellektuelle hat an Aktualität nichts eingebüßt:
"Da ist, wie bei allen großen Denkerinnen noch sehr viel zu entdecken."
"Was mich an ihr angezogen hat, ist der Reichtum der Persönlichkeit. Es ist ihre Lebendigkeit, die sich unmittelbar mitteilt, es ist ihre Originalität. Und es ist das Genialische, das sie besaß und das man immer wieder findet in der Tiefe ihrer Gedanken."
Und Larissa Smurago sagt, sie habe durch die Auseinandersetzung mit Rahel Levin Varnhagen auch Sicherheit über ihre eigene jüdische Identität gewonnen:
"Wir leben ja in einer unbestreitbar anderen Gesellschaft, eine in der die Möglichkeiten als Frau, als Intellektuelle, als Jüdin vielleicht nicht dermaßen beschnitten sind, wie noch zu Varnhagens Zeiten, dennoch glaube ich dass gewisse Vorurteile, wenn auch weniger offen, teilweise immer noch unsere Diskurse beeinflussen. Und da dient sie als Vorbild ex negativo für mich, mich offener zu positionieren als junge, jüdische Intellektuelle."