Zum 350. Geburtstag von Jonathan Swift

"Hammerhart und immer noch sehr, sehr lesenswert"

Zeitgenössisches Porträt des irisch-englischen Schriftstellers Jonathan Swift (1667-1745)
Zeitgenössisches Porträt des irisch-englischen Schriftstellers Jonathan Swift, 1667-1745 © picture alliance / dpa
Maike Albath im Gespräch mit Joachim Scholl |
Sein Buch "Gullivers Reisen" aus dem Jahr 1726 wurde ein Jugendbuchklassiker. Nichtsdestotrotz war Jonathan Swift ein Autor mit ausgesprochen scharfer Feder. "Er hat immer in die Abgründe des Menschen hineingeschaut, das war seine Fähigkeit, und da war er auch vollkommen angstfrei", sagt die Literaturkritikerin Maike Albath.
Joachim Scholl: Von Haus aus war er Theologe, als Mensch soll er nicht gerade angenehm gewesen sein. Jähzornig, unhöflich, Misanthrop. Als Dekan seiner Kirche glänzte er eher durch Abwesenheit, weil es ja auch so viel zu schreiben gab für diesen irischen Brausekopf Jonathan Swift. Heute vor 350 Jahren wurde er in Dublin geboren. Natürlich ist er in seiner Heimat der höchste literarische Heilige neben James Joyce, und nicht nur für jenen Roman, den alle Welt kennt, "Gullivers Reisen". Jetzt zum runden Geburtstag sind auch in Deutschland neue Editionen erschienen. Für uns hat sie die Kritikerin und Kollegin Maike Albath angeschaut. Sie ist im Studio, hallo!
Maike Albath: Hallo!
Scholl: Bei "Gullivers Reisen", Frau Albath, kann ich mich konkret gar nicht erinnern, wann ich es das erste Mal gelesen habe, aber es gehörte irgendwie so völlig selbstverständlich zum Bücherinventar meiner Kindheit, so wie "Robinson Crusoe" oder "Die Schatzinsel". Wie war das bei Ihnen?
Albath: Ja, ganz ähnlich. Das ist irgendwie eingesickert. Ich weiß aber noch ganz genau, wie die Bilder aussahen, also ich kann mich an die Illustrationen erinnern. Und ich weiß auch noch, dass wir mit meinen Geschwistern genau ausgemessen haben, wie groß diese Liliputaner im ersten Teil gewesen sein müssen, weil uns das fasziniert hat. Das ist ja eine ungeheure Allmachtsfantasie für Kinder, plötzlich von so kleinen Miniwesen umgeben zu sein, und das stachelt die Fantasie an, genauso wie der zweite Teil, in dem es dann ja um Riesen geht.
Scholl: Wobei wir natürlich die purgierten Versionen, so heißt es im Fachbegriff, gelesen haben, also die gereinigten Fassungen, die das Buch halt wirklich zum weltweiten Jugendbuchklassiker gemacht haben. Für die Zeitgenossen damals war es aber so ein richtig wüster Erwachsenenknaller. Also Houellebecq des Jahres 1726, da ist es erschienen, könnte man vielleicht sagen. Wie kam das Buch eigentlich auf die Welt?

"Bücher waren ja das Medium, mit dem man Systemkritik üben konnte"

Albath: Es ist anonym erschienen, und Swift war sehr, sehr vorsichtig, weil er eine Verleumdungsklage fürchtete, auch zu Recht. Er hat das Buch, das Manuskript erst mal an einen anderen Schreiber gegeben, der es abgeschrieben hat, also man konnte durch die Handschrift nicht auf ihn rückschließen. Und dann hat er es in London von einer Droschke nachts abwerfen lassen, vor dem Haus des Verlegers, also hat allerlei Maßnahmen getroffen. Das ist schon fast ein Romanstoff. Und vielleicht muss man auch noch bedenken, dass er natürlich viel, viel mächtiger war, als es heute Houellebecq sein kann, denn Bücher waren ja das Medium, mit dem man auch Systemkritik üben konnte. Das war Facebook und Twitter und Fernsehen und Radio zusammen und war wirklich ungeheuer gefährlich und hatte eine enorme Sprengkraft. Das Buch war das Medium, das ja dann auch auf Englisch in ganz Europa gelesen wurde und sofort in andere Sprachen übersetzt. Also er hatte einen großen, großen Einfluss, und man fürchtete seine Feder.
Scholl: Und es ist ja auch definitiv als politische Satire geschrieben. Wen hat er denn eigentlich im Visier gehabt?
Lemuel Gulliver wird gerade klar, dass er ein gefangener Lilliputaniens ist: Chromolithograph einer Edition von Jonathan Swifts "Gulliver's Travel", New York 1911
Lemuel Gulliver wird gerade klar, dass er ein gefangener Lilliputaniens ist: Chromolithograph einer Edition von Jonathan Swifts "Gulliver's Travel", New York 1911 © imago/United Archives International
Albath: Er hat Zeitgenossen angegriffen, den König, König Georg I., ganz böse, und auch den Finanz- und Schatzminister, den Premierminister Walpole. Das konnten aber Zeitgenossen vor allem dechiffrieren. Wir brauchen heute eigentlich einen Anmerkungsapparat, um das zu verstehen. Und er hat dann aber auch ganze philosophische Richtungen verdammt und hat darauf aufmerksam gemacht, dass zum Beispiel die kartesianische Philosophie ein Problem hat, dass es sehr schwierig sei, einfach so an die Vernunft des Menschen zu glauben. Da war er auch ganz, ganz böse und sehr skeptisch. Ich glaube, er hat immer in die Abgründe des Menschen hineingeschaut. Das war seine Fähigkeit, und da war er auch vollkommen angstfrei.
Scholl: Was war er denn überhaupt für ein politischer Kopf und Geist, wenn Sie auch sagen, er war richtig mächtig.
Albath: Das fand ich jetzt hochinteressant in der Beschäftigung auch wieder mit ihm. Ich hab das dann als junge Erwachsene mal gelesen und jetzt wieder. Und da merkt man ja dann vor allem bei den großen Satiren, es gibt eine ganz berühmte mit einem ganz langen Titel, die heißt "Bescheidener Vorschlag, um zu verhindern, dass die Kinder der Armen in Irland ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen, und um sie der Allgemeinheit nutzbar zu machen". Und das war eine Satire, die gehört zu den ganz großen der Weltliteratur, in der er wie ein Beamter alles ausgerechnet hat und gesagt hat, in Irland gibt es sowieso zu viele Kinder, 120.000, 100.000 soll man mal ganz einfach verfüttern. Und da hat er eine Vision gehabt.
Scholl: Als Delikatessen anbieten, furchtbar.
Albath: Genau, und zwar der Oberschicht, damit sie gut genährt sind, und dann würde man das Kinderproblem lösen. Es gibt nicht mehr so viele Betrunkene auf den Straßen, es ist sowieso zu voll, und als Einjährige sind diese Kinder besonders zart. Aber das ist als Satire markiert, und das war wirklich etwas ganz, ganz Böses, da läuft es einem kalt den Rücken runter, und das nimmt auch den Teilen, dem dritten und vierten Teil von "Gulliver" nichts. Da war er hammerhart und ist auch immer noch sehr, sehr lesenswert.
Scholl: Kommen wir genau auf diese Passagen von Gulliver, die man nicht so kennt. Ins kollektive Gedächtnis sind ja eigentlich nur zwei seiner vier Reisen gegangen, also die ins Land Liliput, das ist im Begriff "Liliputaner" sprichwörtlich geworden. Hier ist er Gulliver, der Riese unter Zwergen. Und dann, in Brobdingnak, geht es andersherum, da ist Gulliver der Winzling unter den Riesen. Die Abenteuer, die Gulliver hier erlebt, die sind so zeitlos, kulturübergreifend, drollig. Ganz anders aber, Sie haben es schon angesprochen, Maike Albath, bei der dritten und vierten Reise. Worum geht es denn da? Zunächst im Land Laputa?

"Kritik der Philosophie, die an den vernünftigen Menschen glaubt"

Albath: Laputa ist eine fliegende Insel, und das ist die Passage, die sich gegen die Philosophie richtet. Das ist auch großartig heute zu lesen, weil es zum Beispiel darum geht, dass die Sprache stört. Man soll überhaupt nicht mehr laut sprechen, so wie wir das tun, das ist ganz schädlich, weil wir unsere Lungen abnutzen. Und man sollte stattdessen, stellen Sie sich das mal im Radiostudio vor, Gegenstände mitbringen und die dann hochhalten. Also das geht eigentlich gegen Locke und gegen die Vorstellung, dass Wörter immer nur den Nebel vor unseren Augen bilden und wir gar nicht über das Eigentliche sprechen können.
Das ist ganz boshafte Sprachkritik, und es führt dann aber dazu, dass man immer Bedienstete dabei haben muss, die dann auch noch Gegenstände tragen, und dass das Haus ganz voll ist, weil man so viele Dinge braucht, um sich eben ausdrücken zu können. In diese Richtung geht das. Und es gibt dann, und auch da ist es eine Kritik der Philosophie, die an den vernünftigen Menschen glaubt und an die Klarheit des Denkens. Sondern er sagt, der Mensch ist eben triebgesteuert. Und das ist dann auch das, was im vierten Teil eine Rolle spielt.
Scholl: Da wird es dann nämlich richtig gespenstisch und fies, im Land der Houyhnhnms, der klugen Pferde und ihrer Sklaven, den Yahoos, das haben wir auch jetzt auf dem Schirm, denn der Name Yahoo, da kommt das nämlich her, also die Suchfirma. Das ist eine Art tierischer Menschengattung. Und was schildert denn Swift da auf dieser vierten Reise?
Albath: Das ist ganz unheimlich, wenn man das vor allem auf dem Hintergrund liest, den wir jetzt haben, des geschichtlichen Wissens und der Erfahrung, weil hier ein Teil dieser Bewohner der Insel degradiert wird, zu Sklaven gemacht wird. Und das sind bestialische Menschenwesen, also die nur noch triebgesteuert sind und die ganz übel sind. Und die Pferde sind die Weisen, also die lassen sich dann von Gulliver erklären, wie das in Großbritannien so ist und dass Geld da verwendet wird, was das für eine komische Sache ist, also das ist auch sehr, sehr gespenstisch, das heute zu lesen, da läuft es einem kalt den Rücken runter, gerade, weil es diese Teilung der Gesellschaft gibt und weil es im Grunde auch schon ein Zerrbild ist der kolonialen Unternehmungen Großbritanniens, und was es heißt, wenn ein Teil der Bewohner degradiert wird. Und da, finde ich, ist er auch ungeheuer scharfsinnig, und auch da wieder ganz böse, und es ist sehr bitter, sich damit zu befassen, weil es auf so viel hindeutet, was wir dann, genau wie bei der Satire über die Kinder, erlebt haben mit Gefangenenlagern, mit Konzentrationslagern. Also da ist er sehr, sehr treffend.
Scholl: Sie haben, Maike Albath, nun alle diese Reisen in der vollständigen neuen deutschen Ausgabe gelesen. Es gibt eine schöne, die der Manesse-Verlag zum 350. Geburtstag von Swift spendiert hat, muss man sagen, neu übersetzt von Christa Schuenke. Ist das eine gute Fassung, eine schöne Edition?
Albath: Ja. Christa Schuenke ist eine großartige Übersetzerin. Es ist eine sehr wortschatzreiche Sprache, die sie verwendet, und es hat ja diesen trockenen Berichtsstil, der auch in eine Reibung kommt mit den fantastischen Erlebnissen. Das ist hier sehr schön gelungen. Und es gibt auch einen guten Anmerkungsapparat, und es ist dieses klassische Manesse-Format, das kleine, was man auch gut in die Tasche stecken kann. Also, das ist eine sehr schöne Edition, und es gibt dann noch Kinderbücher, auch zum 350. Geburtstag. Ein Buch mit vielen Bildern, das für Erstleser gedacht ist. Und da hat mir gefallen, dass zum Beispiel bestimmte Begriffe, die auch bei "Gulliver" in den klassischen Übersetzungen, wie "der Menschenberg" hier auftauchen. Also, es ist sorgfältig gearbeitet, und da gibt es sowohl eine Jugendbuchfassung als auch eine Kinderbuchfassung, im Arena-Verlag erschienen, die auch sehr schön sind. Aber die haben natürlich wieder mehr dieses Possierliche, und die fortgeschrittenen Leser sollten unbedingt, auch die jungen Erwachsenen, zu dem klassischen "Gulliver" greifen, ist mein Eindruck.
Scholl: Unbestritten war Jonathan Swift einer der ätzendsten Satiriker und Kritiker seiner Zeit und Epoche. Ich meine, die aktuellen politischen und sozialen Bezüge im "Gulliver", die kann heute kein Leser mehr herstellen. Diese Schärfe verstehen wir nicht mehr. Das haben Sie auch schon betont, Maike Albath. Was wäre denn aber so für unsere Zeit noch fruchtbar zu machen? Was ist heute noch aktuell an "Gullivers Reisen"?

"In dem Moment, in dem Gulliver ganz klein ist, wirkt das Große absurd"

Albath: Aktuell ist die Auseinandersetzung mit dem, was das Andere sein kann und das Fremde und ob man das überhaupt denken kann. Und auch die Frage, ob sich nicht alle Kategorien, die wir haben, also auch die Kategorie des Normalen komplett relativiert in dem Moment, in dem Moment, in dem wir mit einer ganz anderen Gesellschaftsform konfrontiert sind. Das passierte ja. Also in dem Moment, in dem Gulliver ganz klein ist, wirkt das Große absurd und umgekehrt. Und da, finde ich, kann man sehr viel begreifen auch von dem, was wir heute für Schwierigkeiten haben damit, das Fremde überhaupt zu denken. Und er zeigt auch die Kosten, er zeigt auch den Schmerz, den es da gibt, und die Probleme, die das erzeugen kann, wenn diese Systeme ins Wanken geraten. Und dafür ist die Lektüre auch sehr erhellend und macht großen Spaß.
Scholl: Und in dem Zusammenhang ist auch noch die Herkunft des Namens vielleicht ganz interessant. Das haben wir ja noch unterschlagen, Frau Maike Albath, "Gulliver" kommt nämlich von "gullible", das heißt …?
Albath: Das ist der Leichtgläubige, also derjenige, der auf alles reinfällt. Und so scheint es ja bei Gulliver zu sein. Wobei er sich ja dann wirklich physisch eines Besseren belehren lassen muss.
Scholl: Jonathan Swift zum 350. Geburtstag. Das war Maike Albath mit ihrem Blick auf neue deutsche "Gullivers Reisen". Danke Ihnen. Die verschiedenen Ausgaben stellen wir mit allen Verlagsdetails für Sie auf unsere Webseite unter www.deutschlandfunkkultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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