Zum 50. Todestag des Philosophen

Wo Adorno Heimat fühlte

10:21 Minuten
Theodor W. Adorno sitzt an einem Schreibtisch und studiert eine Partitur.
Nach der NS-Zeit kehrte Adorno aus dem Exil zurück und idealisierte das Städtchen Amorbach zu seiner eigentlichen Heimat. © picture-alliance / akg-images
Von Matthias Kußmann |
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Theodor W. Adorno kritisierte seine Umwelt als eine von "Riesenkonzernen gesteuerte Massenkultur". Ein "richtiges Leben im falschen" sei unter diesen Bedingungen unmöglich. Im bayerischen Amorbach fand der Philosoph trotzdem so etwas wie Heimat.
"Trieb ich halbwüchsig allein durch das Städtchen im tiefen Abend, so hörte ich auf dem Kopfsteinpflaster die eigenen Schritte nachhallen …"
"Wenn er hier anreiste, dann war für ihn das ein Glücksmoment, hier fühlte er sich wohl. Hier hat er oft sechs Wochen am Stück verbracht", sagt der Schriftsteller und Adorno-Kenner Werner Völker.
Wir sind in Amorbach im Bayerischen Odenwald, einem Barockstädtchen mit Fachwerkhäusern und Sandsteinbauten. Adorno, Jahrgang 1903, kam schon als Kind hierher, zur Sommerfrische mit den Eltern. Das alte Städtchen, die Berge ringsum, das Hotel Post – das waren Eindrücke, die ihn prägten.
Ansichtskarte des Hotel Post in Armorbach aus dem Jahr 1961. Auf dem Platz davor steht ein Opel Kadett.
Das Hotel zur Post in Amorbach mit Opel Kadett im Jahr 1961.© Ansichtskarte
"Das Hotel Post wurde seit 1742 in Familienbesitz genommen durch meinen Ururgroßvater Friedrich Spoerer." Ulrich Spoerer hat das Hotel mit Restaurant bis 2010 geführt. In der Familie sei oft über Adorno gesprochen worden, sagt er. Dessen Vater war Weinhändler und belieferte Jahrzehnte lang Hotel und Restaurant. Die Familien schlossen Freundschaft.

"Teddie" Adorno sauste auf dem Flügel

"Ich wusste aus Erzählungen: Mein Vater und Tante und Onkel, die nannten ihn 'Teddie', das war also sein Spitzname", berichtet Ulrich Spoerer. "Ich kann mich erinnern an Erzählungen, dass Teddie auf dem Flügel meiner Großmutter herumsauste, im wahrsten Sinn des Wortes, ja."
Adorno spielte schon als Kind Klavier, studierte später neben Philosophie auch Musiktheorie. Ulrich Spoerer zeigt eine Messingplakette aus dem Hotel, auf der "Adorno-Zimmer" steht:
"Das war also die Plakette zu dem Adorno-Zimmer, früher das Fürstenzimmer genannt. Diese Plakette haben wir angebracht, weil Adorno mit seiner Mutter Maria und Tante Agathe stets dieses Zimmer bewohnte. Das war für sie automatisch reserviert, wenn sie eine Bestellung aufgaben."
Als Jude floh Adorno vor den Nazis in die USA, kam nach dem Krieg zurück, wurde Philosophie-Professor in Frankfurt am Main – und reiste immer wieder nach Amorbach. "Wenn wir uns jetzt umdrehen, sehen wir die Löwen-Apotheke," sagt Werner Völker vor dem früheren Hotel Post.
"In dieser Löwen-Apotheke, die weit nach hinten durchging, war ein großes Schreibwaren-Geschäft der Familie Trabold. Und die Familie Trabold war mit Adorno befreundet. Ich habe einen Brief in Erinnerung, da schreibt Adorno an Frau Trabold, 1968, also ein Jahr vor seinem Tod: Dass es für ihn zu den schönsten Erfahrungen gehöre, dass er in Amorbach, dem einzigen Ort – man muss sich dieses Zitat auf der Zunge zergehen lassen –, dem einzigen Ort auf diesem 'fragwürdigen Planeten', wo er sich 'zu Hause' fühle, dass er dort noch nicht vergessen sei."

Lichtgestalt der Studentenbewegung

Der Philosoph Adorno gehörte zur gesellschaftskritischen Frankfurter Schule. Bis 1968 war er eine Lichtgestalt der Studentenbewegung. Doch er lehnte deren Radikalisierung und Gewalt ab. Schließlich wandten sich manche Studenten gegen ihn, was ihn schwer traf.
"Ich habe ihn in Erinnerung als einen relativ gebückten, emotional gebückten Mann, was sich auch in seiner Haltung ausdrückte, meines Erachtens. Und er hatte einen Spazierstock dabei, so habe ich ihn in Erinnerung. Also keine freudige Erscheinung, sag ich mal."
Adorno war tief mit Amorbach und der umgebenden Landschaft verbunden. "Als er mal von einer Umgehungsstraße hört, die gebaut werden soll, da meldet sich der inzwischen Universitäts-Professor zu Wort." Mit einem Brief an die Stadtverwaltung. "Das würde die Kulturlandschaft aufs Empfindlichste verletzen und er ist da natürlich dagegen."
Adorno schrieb: "Vor einigen Monaten bin ich in Eberbach am Neckar gewesen und habe gesehen, welche Verwüstungen dort während der letzten zwanzig Jahre sich zugetragen haben. Es wäre mir unendlich viel daran gelegen, wenn ähnliches Unheil in dem Ort, den ich heute eigentlich als meine Heimat betrachte, vermieden würde."
Es half nichts. Die Umgehungsstraße wurde schließlich gebaut. Interessant ist, dass Adorno ausdrücklich von "Heimat" spricht. Denn in seiner düsteren Philosophie gibt es keine Heimat: Der Kapitalismus zerstöre das Leben und nach Auschwitz sei alle Kultur "Müll", heißt es da. Berühmt ist Adornos Satz, der es so zusammenfasst: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen.""

Verklärende Prosa über Amorbach

Wenn andere Philosophen positiv über die Gegenwart sprachen, watschte er sie ab – genau wie Schriftsteller, die von alten, vermeintlich besseren Zeiten schrieben. Das sei verklärend, "butzenscheibenhaft", sagte er. Allerdings hat Adorno selbst ein ziemlich "butzenscheibenhaftes" Prosastück verfasst. Es handelt – von Amorbach.
Adorno schwärmt vom "sympathisch riechenden Weiher" im Seegarten, die "Wildschweinfütterung bei Breitenbuch" gibt es, und sogar eine Anekdote vom Gasthaus-Stammtisch. Jedem Schriftsteller hätte er derlei um die Ohren gehauen. Also musste eine – freilich ziemlich schwache – Ausrede her:
"Läse man es in einem Roman, es wäre unerträglich wie von Schriftstellern, die das Kauzige als unverwüstlichen Humor aufwärmen. Aber ich erfuhr es aus erster Hand."
"Das übernächste Haus nach der geliebten Post war die ehemalige Schmiede." Heute ein grün gestrichenes Wohnhaus mit einem Pflegedienst im Erdgeschoss.
"Adorno schreibt in Briefen von einem grell lodernden Feuer und er wurde oft ganz früh schon geweckt von dröhnenden Hammerschlägen. Aber er war nicht zornig deshalb und sagt sinngemäß: Sie brachten mir das Echo des längst Vergangenen zurück."
"Mindestens bis in die 20er Jahre hinein … hat die Schmiede existiert. In Amorbach ragt die Vorwelt Siegfrieds … in die Bilderwelt der Kindheit."

"Urbild aller Städtchen"

So stilisiert Adorno das Städtchen zu einem überzeitlichen Ort, samt Siegfried aus der Nibelungensage. Doch warum diese Verklärung? Die Gräuel der NS-Zeit hatten Adorno tief geprägt. Als er 1949 aus dem Exil zurückkam, fand er keinen überzeugenden Neuanfang, weder im Wirtschaftswunder noch im vermeintlich "realen Sozialismus". So wurde ihm das Amorbach seiner Kindheit und Jugend zur idealisierten Heimat: "das Urbild aller Städtchen." Die meisten Lokale, die Adorno in den 50er- und 60er-Jahren dort besuchte, gibt es nicht mehr, oder sie stehen leer.
Die Türme der Klosterkirche in Amorbach im bayerischen Odenwald
Adorno überhöhte Amorbach zu einem Ort, in dem "die Vorwelt Siegfrieds … in die Bilderwelt der Kindheit“ ragte.© picture alliance
"Wir stehen jetzt vor der Brauerei Burkarth, wo Adorno gern einkehrte, mit seiner Frau Gretel. Und er sagt: Ihr Bier ist besser als je, und es ist Gretels ganzes Entzücken. Regelmäßig gingen sie zu einem Dämmerschöppchen da hin."
Jetzt hängt da ein Schild: "Zu verkaufen." Um die Ecke geht es in die zentrale Löhrstraße. Dort steht jedes zweite Geschäft leer. Der Einzelhandel hat gegen Supermärkte und Einkaufsmalls am Stadtrand keine Chance. Der Zauber aus Adornos Zeit verblasst. Wie reagiert man in Amorbach darauf?
"Es gibt hier sicherlich verschiedene Ansätze", meint Gerhard Köhler von der Stadtverwaltung. "Zum einen haben wir im Altstadtbereich ein Sanierungsgebiet ausgewiesen, wo Investitionen auch steuerlich begünstigt durchgeführt werden können. Es sind oft dicke Bretter, die zu bohren sind. Aber die Neueröffung des Hotels Emichs zeigt, dass wir mit Kooperationspartnern auch Erfolge haben."

Hotel nach Leerstand neueröffnet

Nachdem die Familie Spoerer das Hotel Post schloss, stand es lange leer. Jetzt wurde es entkernt, saniert und heißt "Emichs Hotel". Kalli Schneider leitet das Haus: "Was erhalten ist, ist die gesamte historische Fassade, nach außen hin. Aber es mussten natürlich auch, aus Baugegebenheiten heraus, einige Räume neu gestaltet werden."
Von den historischen Zimmern und der vertäfelten Gaststube ist nichts erhalten. Alles wurde sehr schick neu gemacht. Doch wie zu Adornos Zeit gibt es eine Fürstensuite mit zwei Zimmern.
"Gegenüber vom Wohnraum wollen wir eine kleine Bibliothek einrichten. Da haben wir ein Sideboard stehen, dort sollen Bücher von Adorno mit reinkommen. Gegebenenfalls auch mal noch ein oder zwei Bilder, wo wir einfach an diesen tollen Philosophen erinnern wollen."

Nachholbedarf in Amorbach

Der "tolle" Philosoph Theodor W. Adorno starb am 6. August 1969. Danach wurde es in dem Städtchen, das er seine Heimat nannte, still um ihn – wohl auch, weil ein Philosoph, der als "links" galt, in Bayern schlecht ankam.
"Aber wir sind dabei, diese Erinnerung an Adorno und Amorbach verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken", so Gerhard Köhler von der Stadtverwaltung.
"In maßgeblicher Weise wirkt hier die FIA mit, die Freie internationale Akademie Amorbach, die sich auch dem Thema Adorno sehr widmet in Form eines Adorno-Stipendiums."
Zudem soll es jetzt, in Adornos 50. Todesjahr, Vorträge geben und Wanderungen auf seinen Spuren. Bislang weist in Amorbach nichts auf seine lebenslangen Besuche hin. Es gibt keine Erinnerungstafel oder Ähnliches.
"Da sind wir derzeit dabei, einen sogenannten kulturhistorischen Altstadtrundweg zu kreieren, und da wird das Thema Adorno-Amorbach, seine Liebe zu Amorbach, sicherlich ein Thema sein."
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