"Sankt Petersburgs Klänge sind noch fest in meinem Gedächtnis"
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Igor Strawinsky gilt als genialer Avantgardist und Weltbürger. Zur Musik fand er über Umwege, vor seiner Karriere als Komponist studierte er Jura. Die Biografin Natalia Braginskaja erinnert sich an den Komponisten - und was ihn mit seiner Heimatstadt Sankt Petersburg verbindet.
Im Frühjahr 2015 musste das Sankt Petersburger Konservatorium im Zuge einer umfassenden Gebäuderenovierung das berühmte Haus gegenüber vom Mariinsky-Theater verlassen.
Die Bibliothekare verpackten unzählige Noten und Partituren, die seit dem Einzug des Konservatoriums im Jahr 1896 in derselben Notenbibliothek gelagert worden waren.
Ein überraschender Fund
In den riesigen Nussbaumschränken standen die Noten schon immer in drei Reihen, erinnert sich die Musikwissenschaftlerin und Strawinsky-Biografin Natalia Braginskaja. Seit mehreren Jahren suchte sie bereits in verschiedenen Archiven nach einem Orchesterwerk von Igor Strawinsky, das als verschollen galt.
Sein Name: "Chant Funebre", "Grabgesang", komponiert auf den Tod seines Lehrers Nikolaj Rimsky-Korsakow im Jahr 1908. Igor Strawinsky selbst vermisste dieses Werk schmerzlich und hoffte, dass es einst gefunden werde.
"Das Werk haben die Bibliothekarin Irina Sidorenko und ich während der Verpackungsaktion im Frühjahr 2015 entdeckt", erzählt Natalja Braginskaja, "in einem der letzten riesigen Notenschränke stand in der letzten Reihe tatsächlich das Werk, nach dem ich und so viele Wissenschaftler weltweit jahrelang vergeblich gesucht hatten. Ein Stimmensatz vom "Chant funebre" op. 5 von Igor Strawinsky."
"Es stellt sich die berechtigte Frage", fährt Braginskaja fort, "wie es denn sein kann, dass in einer soliden staatlichen Musikakademie jahrzehntelang Noten unentdeckt liegen, die auch in keinem Katalog erfasst sind? Ich ging dieser Frage nach, und es stellte sich heraus, dass Anfang der 1950er-Jahre – das waren schlimmste stalinistische Zeiten, als Strawinskys Musik in Russland verboten war – dieser Stimmensatz ausgemustert wurde und vernichtet werden sollte. Aber irgendein Mitarbeiter hat die Noten wohl gerettet, indem er sie in der letzten Ecke des riesigen Notenschrankes versteckte."
Im Gedenken an den Lehrer
Das Orchesterstück "Chant funebre" op. 5 wurde zu Lebzeiten des Komponisten nur ein einziges Mal aufgeführt, zu einem Gedenkkonzert an Nikolaj Rimsky-Korsakow am 30. Januar 1909 in Sankt Petersburg. Der Tod von Rimsky-Korsakow ein halbes Jahr zuvor hatte Igor Strawinksij schwer getroffen, denn dieser war sein wichtigster Lehrer gewesen.
"Chant funebre" ist eines der romantischsten Werke von Strawinsky. Hier hört man den Einfluss sowohl von Richard Wagner als auch von Rimsky-Korsakow selbst. Die prachtvollen Orchesterfarben erinnern an den großen Lehrer. Igor Strawinsky war 26 Jahre alt, als er das Werk schrieb.
Über Umwege zur Musik
Igor Strawinksy wurde 1882 in Oranienbaum, einem südlichen Vorort von Sankt Petersbug geboren, sein Vater war der berühmte Petersburger Basssänger Fjodor Strawinsky. Wie seine älteren Brüder sollte auch Igor Jurist werden, entschied der despotische Vater.
Dennoch erhielt der Junge ab dem neunten Lebensjahr Klavierunterricht, durch seinen Vater lernte er das Opernrepertoire kennen. Einmal konnte er aus einer Loge des Mariinski-Theaters den verehrten Peter Tschaikowsky sehen, ein Ereignis, das ihn tief beeindruckte.
Noch vor dem Abitur drängte Strawinksy darauf, in die Harmonielehre eingewiesen zu werden. Er beschäftigte sich intensiv mit Kontrapunkt und entdeckte die Musik von Debussy und Ravel. Der Vater nahm diese Studien nie ernst, die Beziehung war schwierig.
Erst nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1902 warf Strawinsky den ursprünglichen Plan, Jurist zu werden, über den Haufen und begab sich unter die Fittiche von Nikolaj Rimsky-Korsakow. Der Komponist wurde für ihn Musiklehrer und Ersatzvater zugleich.
Mit Privatstunden zur Meisterschaft
In Nikolaj Rimsky-Korsakow, dem bedeutendsten Komponisten Sankt Petersburgs, fand Strawinsky einen strengen, aber wohlwollenden Lehrer. Er unterrichtete seinen Schüler in theoretischer und praktischer Instrumentation.
Von Strawinskys früheren Kompositionen sind neben dem kürzlich wiederentdeckten "Chant Funebre" zwei Klavierwerke erhalten geblieben – ein Scherzo für Orchester und die Klaviersonate in fis-Moll. Beide zeigen die Nähe zu Tschaikowskys und Rachmaninows Musikstil.
Sechs Jahre lang, mehrmals in der Woche, pilgerte Strawinsky durch die Straßen Sankt Petersburgs zur Wohnung seines Lehrers. Strawinsky liebte seine Heimatstadt sehr.
So erinnerte er sich in seinen Memoiren auch über 70 Jahre später noch an die Klänge Sankt Petersburgs. Igor Strawinsky betonte, dass diese "neoitalienische" Stadt, die europäischste unter allen russischen Städten, für seinen späteren musikalischen Werdegang verantwortlich war.
Entdeckt und gefördert durch Djagilew
Sergej Djagilew, Manager und legendärer Visionär, war der Impresario der Tanzkompanie "Ballets Russes" – und wohl kaum jemand hat den Verlauf der Kunst- und Musikgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts so geprägt wie er. Djagilew verdanken wir die Entdeckung Strawinskys.
Die beiden Männer lernten sich am 6. Februar 1909 kennen, bei der Uraufführung von Strawinskys Orchesterwerk "Scherzo Fantastique". Darin sind zwar Anklänge an Debussy und Ravel hörbar, doch gleichzeitig nimmt dieses Stück mit seinen erlesenen Harmonien, bunten Klangfarben und der brillanten Instrumentierung fast Strawinskys erste Ballettmusik "Der Feuervogel" vorweg.
Diesen 6. Februar 1909 bezeichnete der Komponist als das wichtigste Datum in seinem Leben. Denn Sergej Djagilew war vom Scherzo begeistert. Umgehend erteilte er dem 28-Jährigen den Auftrag, Musik für ein neues Ballett für seine "Ballets Russes" zu schreiben. Als Sujet dienten zwei russische Volksmärchen, "Der Feuervogel" und "Der unsterbliche Zar Koschtschej".
Die klangliche Raffinesse der "Feuervogel"-Musik erinnert noch an Rimsky-Korsakows Suite "Scheherazade". In der expressiven Motorik des Zaren Koschtschej kündigt sich jedoch bereits die Kompositionstechnik der späteren Ballette "Petruschka" und "Sacre du Printemps" an.
Rein ins Rampenlicht
Die von Tumulten begleitete Pariser Uraufführung des "Sacre du Printemps" am 29. Mai 1913 ging als Theaterskandal in die Kulturgeschichte ein. Der "Sacre" war revolutionär. Und das nicht, weil halbnackte Tänzerinnen und Tänzer heidnische Riten darstellten – es war Strawinskys Musik, die für das damalige Publikum nicht mehr fassbar war, weil sie vor allem den Rhythmus betonte.
Die ablehnende Publikumsreaktion verärgerte Strawinsky zunächst sehr. Es sollte jedoch gerade dieser Skandal sein, der den 31-jährigen Komponisten berühmt machte.