Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Kommentar: "Grenzsituation" - ein Begriff mit Schattenseite
Der Begriff "Grenzsituation" gehört heute zur Alltagssprache. Geprägt hat ihn Karl Jaspers vor hundert Jahren. Doch die Denkfigur kann ideologisch vereinnahmt werden. Wolfram Eilenberger skizziert in seinem Kommentar eine kurze Geschichte der Grenzsituation von Jaspers bis Angela Merkel.
Das Karl Jaspers-Haus: Hier bleibt das Denken des Philosophen lebendig
Karl Jaspers starb 1969 in Basel. Seine Bibliothek ist heute für die Forschung und interessierte Gäste in Oldenburg zugänglich: In der Geburtsstadt des Philosophen bekam sie ein neues Zuhause. Felicitas Boeselager hat das Karl Jaspers-Haus besucht.
Philosophischer Störenfried, dessen Kritik bis heute trifft
40:30 Minuten
Nach dem Dritten Reich brach er das Schweigen über Schuld und Verantwortung, kämpfte für Demokratie und moralischen Wiederaufbau: Karl Jaspers – Philosoph, Psychiater und öffentlicher Intellektueller. Vor fünfzig Jahren ist er gestorben.
"Wie war es möglich, dass ein kranker Mann, der Monate, manchmal ein Jahr fast, nicht recht arbeiten konnte, der ausgeschlossen war von der normalen Geselligkeit und der normalen Öffentlichkeit, das überhaupt erreichen konnte", fragt sich Karl Jaspers in den 1960er-Jahren im Rückblick auf sein Leben.
Ideen, die die Welt bewegen
Ein chronisches Lungen- und Herzleiden zwang Jaspers über weite Strecken zu einer disziplinierten und zurückgezogenen Lebensweise. Früh hat er die Liebe zur Philosophie entdeckt, studierte jedoch zunächst Medizin und trug wesentlich zur Entwicklung der Psychiatrie als Wissenschaft bei. In seinem Lehrbuch "Allgemeine Psychopathologie", bis heute ein Standardwerk, griff er bereits philosophische Prinzipien auf, sagt Matthias Bormuth, Professor für Ideengeschichte und Vorsitzender der Karl Jaspers-Gesellschaft, im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur:
"Er hat von Max Weber die philosophische Methode des Verstehens aufgenommen und in die Psychiatrie eingeführt. Und in der Philosophie hat er dann diese psychologische Methode angewandt, um nicht mehr kranke Menschen zu verstehen, sondern die innere Dynamik von gesunden Menschen, die sich mit Ideen beschäftigen, die die Welt bewegen."
Wagnis der Existenz
Jaspers‘ Buch "Psychologie der Weltanschauungen" von 1919 markiert seine Wende zur Philosophie. Gemeinsam mit Martin Heidegger, mit dem er eine Zeit lang eng befreundet war, gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Existenzphilosophie in Deutschland. Der erste Weltkrieg und die russische Revolution hatten die Autorität von Staat und Kirche ins Wanken gebracht. Aus der Wissenschaft ließen sich keine moralischen Maßstäbe ableiten. Deshalb sah Jaspers die Philosophie in besonderer Verantwortung, so Bormuth: als Ansporn, selbst zu urteilen.
"Die letzten Lebensziele, die den Einzelnen oder die Gesellschaft ausrichten können, müssen für sich verantwortet werden, ohne dass Religion, Wissenschaft oder Staat sie vorgeben. Diese drei Größen können mitwirken, aber sie haben nicht die letzte Autorität, sondern die Entscheidung bleibt den Einzelnen überlassen – und damit auch das Wagnis."
Geächtet und bedroht während der Nazi-Zeit
Als Heidegger sich 1933 öffentlich zum Nationalsozialismus bekannte, kam es zum Bruch der Weggefährten. Karl Jaspers verlor seine Ämter an der Universität und durfte nicht mehr publizieren. Er und seine jüdische Frau Gertrud mussten um ihr Leben fürchten und entgingen nur knapp der Deportation in ein KZ. Für diesen Fall hatten sie bereits den gemeinsamen Selbstmord geplant. "Grenzsituationen", ein zentraler Begriff von Jaspers‘ Denken, hat er vielfach persönlich erfahren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brach Jaspers als einer der ersten das Schweigen und setzte sich in einer breiten Öffentlichkeit differenziert mit der moralischen Verantwortung für die Verbrechen der Nazi-Zeit auseinander. Sein heftig diskutiertes Buch "Die Schuldfrage" von 1946 machte ihn zu einem öffentlichen Intellektuellen von enormer Reichweite. Jaspers appellierte an jeden Einzelnen, die eigene Verantwortung zu hinterfragen. Gleichzeitig wies er die Vorstellung von einer Kollektivschuld zurück.
Kritik am Parteienstaat und Plädoyer für direkte Demokratie
Karl Jaspers begleitete kritisch den politischen Wiederaufbau Westdeutschlands. Mit Sorge beobachtete er, dass es mit dem demokratischen Geist vieler seiner Landsleute nicht weit her war. In seinem Buch "Wohin treibt die Bundesrepublik?" von 1966 kritisierte er die Machtverhältnisse im Parteienstaat und plädierte für mehr direkte Demokratie. Auch in der Auseinandersetzung um die deutsche Teilung und die Gefahr eines Atomkrieges bezog er öffentlich Stellung.
"Philosophie hat mit Politik gemeinsam, dass sie alle angeht. Dies ist der Grund, dass sie in die Öffentlichkeit gehört, wo nur die Person und die Bewährung zählen", sagte Hannah Arendt 1958 in ihrer Laudatio zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Karl Jaspers. "Der Philosoph, im Gegensatz zum Wissenschaftler, gleicht dem Staatsmann darin, dass er für seine Meinungen mit seiner Person haftet. Wobei der Staatsmann noch in der gewissermaßen glücklichen Lage ist, nur dem eigenen Volke verantwortlich zu sein, während Jaspers zumindest seit 1933 immer so schreibt und spricht, als müsse er sich gegebenenfalls vor der ganzen Menschheit verantworten."
Philosophie im öffentlichen Raum
Viele von Jaspers' Schriften lohnen gerade heute die Wiederentdeckung, sagt Matthias Bormuth. Besonders in seinen späten Essays, der "kleinen Schule des philosophischen Denkens" werde klar, "was Philosophie im öffentlichen Raum sein kann". Darin habe Karl Jaspers, der am 26. Februar 1969 in seiner Schweizer Wahlheimat Basel starb, deutlich sein Credo zum Ausdruck gebracht:
"Der Philosoph ist nicht jemand, der abgehoben lebt, sondern der mit seinen Gedanken über die Zeit hinausgeht, aber in die Zeit hinein spricht."