Eva Marlene Hausteiner arbeitet am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Internationale Politische Theorie, Föderalismus, Demokratietheorie, Imperien und Imperialismus und Politische Ikonographie.
Provisorium für stabile Verhältnisse
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Im weltweiten Durchschnitt werden Verfassungen nicht einmal 20 Jahre alt. Das Grundgesetz hat mit seinen 70 Jahren schon ein stolzes Alter erreicht. Aber ist es dem gegenwärtigen Druck von innen und außen gewachsen?
Das deutsche Grundgesetz hat sich über sieben Jahrzehnte als bemerkenswert robust erwiesen. Es gilt global als Erfolgsgeschichte. Aber ist das Grundgesetz wirklich ein Stabilitätsgarant? Also: Ist es für aktuelle und künftige Herausforderungen gut gewappnet – von der EU-Integration bis hin zu Angriffen von rechts?
Rechtspopulismus bedroht selbst altehrwürdige Verfassungen
An dieser Frage hängt ein Grundproblem der politischen Philosophie, das schon den französischen Philosophen Montesquieu beschäftigt hat, nämlich: Wie lässt sich politische Stabilität herstellen? Gibt es überhaupt Verfassungen für die Ewigkeit, oder sind wir besser beraten, Verfassungen immer wieder anzupassen – oder sogar zu erneuern?
Die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes waren in dieser Hinsicht doppelt bescheiden. Erstens war das Grundgesetz von Anfang an als Provisorium konzipiert. Es sollte, so die Präambel, "für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben" – also bis zur Wiedervereinigung. Daher auch: Grundgesetz, und eben nicht: Verfassung.
Rechtliche Gegenwehr greift oft zu spät
Zweitens ist es auch relativ leicht anzupassen: Vom Tierschutz bis zur Föderalismusreform – 63 Mal wurde das Grundgesetz bislang geändert. Nicht zur Debatte stehen lediglich seine Grundfesten: Grundrechte, parlamentarische Regierungsform, Föderalismus. Sieht so also eine ideale, dauerhafte Verfassung aus: flexibel gegenüber neuen Anforderungen, aber unerschütterlich in ihrem Grundbestand?
In einer Phase, in der sogar in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Rechtsstaat und Verfassungsordnung ausgehöhlt werden – in Polen und Ungarn nämlich, und zwar durch gewählte Regierungen –, ist durchaus Skepsis angebracht. Zwar ist das Grundgesetz weltweit berühmt für seine Vorkehrungen der "wehrhaften Demokratie": Parteienverbot und Grundrechtsentzug sollen als Notbremse gegen antidemokratische Angriffe dienen. Diese drastischen Maßnahmen greifen aber eigentlich erst, wenn es schon zu spät ist.
Das Grundgesetz enthält die Möglichkeit seiner Abschaffung
Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht bei der letzten Ablehnung eines NPD-Verbotes argumentiert, die NPD sei quasi noch nicht gefährlich genug. Der Kitt, der die demokratisch-freiheitliche Ordnung in Deutschland schützen soll, ist grundlegender: der Respekt vor dem politischen Gegner, eine lebendige Zivilgesellschaft, ja, auch ökonomische Gerechtigkeit.
Diesen Kitt zu garantieren, ist einem Verfassungstext kaum möglich. Ein Blick auf die Vorgänge in den USA dieser Tage zeigt, dass ein altehrwürdiger Verfassungsrahmen wenig nützt, wenn politische Gepflogenheiten und Normen langsam korrodieren und die gesellschaftliche Polarisierung überhandnimmt.
Im Lichte solcher Gefahren scheint der letzte Artikel des Grundgesetzes fast schon waghalsig. Dieses verliere nämlich "seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". So sehr dieser Artikel auf die Wiedervereinigung hin geschrieben war: Das Grundgesetz enthält die Möglichkeit seiner eigenen Abschaffung.
Chance auf Erneuerung unserer Demokratie
Aber es formuliert eben auch den Anspruch, dass dies auf demokratischem Wege geschieht – als Prozess, an dem die ganze Bevölkerung teilnimmt, vermutlich durch eine neue verfassungsgebende Versammlung, die die Gesellschaft integriert. Dass das Grundgesetz seine eigene Erneuerung mit regelt, ist vielleicht sein bemerkenswertester Stabilisierungsversuch. Er bietet die Chance, eine neue Verfassung für neue Umstände zu schaffen – etwa für Deutschland in einem noch enger integrierten Europa –, er birgt aber natürlich auch Risiken, nämlich die Abschaffung der Demokratie auf demokratischem Wege.
Die durchschnittliche Lebenserwartung von Verfassungen beträgt weltweit weniger als 20 Jahre. Und auch, wenn das Grundgesetz nun stolze sieben Jahrzehnte überdauert hat: Seine Mütter und Väter haben gewusst, dass kaum eine politische Ordnung von Dauer ist. Von ihnen können wir lernen, dass auch unser bestens verfasstes Gemeinwesen fragil ist, des Engagements und der Verteidigung bedarf. Wir können aber auch lernen, dass eine friedliche Erneuerung dieser Ordnung, falls sie einmal nötig wird, trotz aller Risiken denkbar ist.