"Er ist das Gegenteil eines Staatsdichters"
Heute wäre der Dramatiker und Dichter Heiner Müller 85 Jahre alt geworden. Der Autor Alexander Kluge über Müllers beste Texte, Gedichte auf der Intensivstation und die Blödheit der deutschen Theater.
Frank Meyer: Heute wäre der Dramatiker und Dichter Heiner Müller 85 Jahre alt geworden, und wir reden über ihn mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Herr Kluge, sein Sie herzlich willkommen!
Alexander Kluge: Willkommen, und ich denke sehr an Heiner Müller.
Meyer: Sie haben die Rede zu seiner Beerdigung gehalten Anfang des Jahres 1996, Herr Kluge, und da haben Sie gesagt, Sie seien bei einer Beerdigung eines Menschen, den man lieb hat. Standen Sie ihm so nah, waren Sie so eng befreundet, dass Sie davon sprechen konnten, ihn lieb zu haben?
Kluge: Ich habe keine persönliche Beziehung wie zu einer Frau oder einem Mann zu ihm gehabt, aber als Autor fühle ich mich ihm sehr nahe. Und wir haben etwa zehn Jahre lang regelmäßig Gespräche geführt, Fernsehgespräche, die übrigens alle gesammelt sind in einer amerikanischen Universität und die man abrufen kann in der Cornell University. Und das ist eine literarische Form, die ich also sehr schätze – das ist der Dialog selber. Und das schätzte er auch. Und das ist eine Form, die unterscheidet sich von dem, was wir sonst an Werken schreiben oder an Filmen machen oder so etwas, weil, wenn man so spontan miteinander redet, dann ist das eine eigene Art von, wenn Sie so wollen, Kunst. Und das mag ich sehr. Und außerdem: Ich mag seine Haltung; es ist eine geistige Liebe, das gibt es ja.
Meyer: Sie haben in Ihren Gesprächen, einige davon kenne ich, auch immer wieder natürlich gesprochen über die großen Theatertexte von Heiner Müller und über sein Geschichtsbild, das ja ein ganz eigenes war. Wie würden Sie das beschreiben, den Blick von Heiner Müller auf die Geschichte, gerade auch die deutsche Geschichte?
Kluge: Sehen Sie, wenn man den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, wenn man dann in der DDR gewissermaßen nicht über alles frei reden kann, dann hat man sozusagen durchaus eine Tendenz, 2000 Jahre rückwärts zu denken und in der Antike meinetwegen, bei Seneca oder anderen nachzusehen, was die denn schon gedacht haben. Man kriegt eigentlich einen gestauten Blick, so kann man das ausdrücken, wenn man dann in der DDR ein Autor ist, der sich unterfordert fühlt. Der tiefere Grund ist, dass dieses 21. Jahrhundert ja entgleist ist. Das ist schon 1914 entgleist durch den Ersten Weltkrieg, durch Auschwitz noch mal und durch den Zweiten Weltkrieg; es ist nichts verbessert oder repariert worden.
Und sowohl Heiner Müller, der ja ein paar Jahre älter ist als ich, als auch ich – aber ich bin auch Kriegsgeneration –, beschäftigt nach wie vor, dass wir eigentlich mit dieser Vergangenheit, mit dieser Geschichte gründlich aufräumen müssen. Das ist eigentlich der Gegenstand von Literatur oder Drama, auf der Bühne oder im Film. Und das ist unsere gemeinsame Überzeugung, daran haben wir gearbeitet.
Meyer: Heiner Müller hat ja auch davon gesprochen, dass für ihn die historische Alternative so stehe: Sozialismus oder Barbarei. Und das gerade vor dem Blick des Endes des Sozialismus. Wie haben Sie ihn da verstanden? Warum kam er zu diesem Blick?
Kluge: Er würde jetzt das, was hier als real existierender Sozialismus bestand, nicht für Sozialismus halten. Und der Satz von Rosa Luxemburg, Sozialismus oder Barbarei, bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg. Wenn eine bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, einen solchen Krieg, ein solches Massaker zu verhindern, und wir können heute sagen, und alle Folgen dann in Kauf nimmt, die das hat, das reicht ja bis Auschwitz, dann taugt diese Gesellschaft nichts. Und er würde wahrscheinlich nicht sich festlegen lassen, was Sozialismus wäre. Aber was Barbarei ist, das wissen wir beide. Und dagegen anzugehen, das lohnt sich. Und das haben wir lebenslänglich gemacht. Ich rede immer so, als ob er hier neben uns wäre – er ist nicht tot, also für mich. Und ich glaube, auch für die Menschen, die ihn mögen und seine Theaterstücke sehen oder seine Texte lesen – und die letzten Texte vor seinem Tod sind die besten –, die werden auch finden, dass er nicht tot ist.
Meyer: Wenn Sie sagen, die letzten Texte vor seinem Tod sind die besten, welche haben Sie da im Auge?
Kluge: Das ist seltsamerweise ein Gedichtband. Ein Band mit gedanklichen Gedichten, sehr starken, "Mommsens Block" oder "Der Selbstmord des Seneca". Das sind ganz starke, sprachlich starke Gedichte. Die ganze Zeit hätte man das nicht von ihm erwartet, denn er ist ja Theaterdramatiker. Und plötzlich erweist er sich als ein Poet in der großen Linie, die geht bis Hölderlin zurück.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Alexander Kluge über Heiner Müller. Heute wäre der Dramatiker und Dichter 85 Jahre alt geworden. Weil Sie die Gedichte ansprechen – das war ja in der Tat fast eine Überraschung, als seine Gedichte nach seinem Tod veröffentlicht wurden in einem dicken Band. Das sind ja auch Gedichte, in denen sich der Mensch Heiner Müller, der ja in seinen Theaterstücken nur sehr vermittelt sichtbar war, sehr direkt gezeigt hat. Meinen Sie auch das damit, dass dieses späte Werk so beeindruckend ist.
Kluge: Das haben Sie sehr gut formuliert. Das ist die persönlichste Äußerung, die er je getan hat. Und er macht sie in einer verdichteten Sprache. Er hat mal einmal gesagt, als er in der Intensivstation lag unter diesen ganzen Maschinen und eigentlich sich hätte ohnmächtig fühlen müssen, da kam Rhythmus in seinen Kopf. Und er hat da gedichtet. Also mitten da, in der Tortur der Operationen, hat er gedichtet. Ich glaube, dass das stimmt. In der Not wird der Mensch erfinderisch, aber man kann auch sagen, in der Not ist der Mensch poetisch.
Meyer: Sie haben auch mal über ihn gesagt, wenn ich das richtig verstanden habe, er sei ein Mensch gewesen, der vom Witz gepanzert gewesen sei. Hat diese Panzerung dann am Ende nachgegeben?
Kluge: Nein. Ich würde so sagen, er ist bewaffnet mit Witz. Aber man muss dann sagen, was ist Witz. Aber das beste, was wir in unserem Deutschland haben, ist Till Eulenspiegel als Poet. Diese Seite, zusammen mit ernsthaftem Denken, das ist eine Panzerung, die eigentlich den Menschen nicht beschädigt. Nicht der gepanzerte Mensch von 1914, sondern das ist der gepanzerte Mensch von heute, im 21. Jahrhundert, der bewaffnete Mensch – mit Witz bewaffnet.
Meyer: Herr Kluge, wenn Sie sagen, für Sie ist Heiner Müller sehr lebendig, als wenn er neben Ihnen stünde – wenn man aber auf die Theater heute schaut, er wird wenig gespielt, ganz im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten. Was denken Sie, woran das liegt?
Kluge: Wenn ich es grob sagen darf, das wäre die Blödigkeit der Theater. Ich bin aber nicht ganz sicher. In der Schweiz wird er gespielt, ich habe ihn in Paris gesehen. Das heißt also, er wird an Theatern gespielt, nur eben an unseren deutschen Theatern, offenkundig, machen sie eine Pause. Das wird wieder kommen.
Meyer: Das wird wieder kommen – Sie haben auch einmal gesagt, dass sein avantgardistisches Werk uns helfen wird, die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu übertragen. An welche Werke denken Sie da? In welchen Stücken ist das 20. Jahrhundert aufbewahrt?
Kluge: In allen. Und wenn Sie auch für die Zuhörer dieses Urteil, er wird nicht gespielt, korrigieren wollen, dann müssen Sie sagen, im Residenz-Theater, da hat jetzt gerade in diesen Wochen eine Aufführung Furore gemacht mit "Zement". Das ist eines seiner Stücke. Und einer seiner besten Interpreten, der übrigens auch gestorben ist im vorigen Jahr, hat das noch inszeniert als sein letztes Werk, "Zement". Und es reicht ja manchmal, wenn ein Stück wirklich groß heraus kommt, um das Gedächtnis an einen Menschen und eben, was Sie sagen, an die Themen des 20. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Die Masse macht es nicht. Sie kennen ja den berühmten Satz, wenn der Geschmack von Fliegen maßgebend wäre, dann wäre Scheiße das wichtigste Medium.
Meyer: Ich würde noch einmal kurz zurückblicken – wir haben begonnen unser Gespräch mit Ihrer Rede bei der Beerdigung von Heiner Müller. Damals gab es 3000 Trauernde, die an dieser Beerdigung teilnehmen wollten. Es hieß in einem Artikel dazu, es war, als wäre der Staatsdichter des vereinigten Deutschlands damals zu Grabe getragen worden. Das wäre aber ein Titel, der Heiner Müller überhaupt nicht recht gewesen wäre, oder?
Kluge: Nein. Und es ist auch falsch. Denn er ist das Gegenteil eines Staatsdichters, und ich glaube, das ist der Grund, dass so viele um ihn trauerten bei seinem Tod, dass er eben einer der spontansten, autonomsten und im Grunde antistaatlichsten Meinungsführer war.
Meyer: Heute wäre der Dramatiker und Dichter Heiner Müller 85 Jahre geworden. Wir haben über ihn gesprochen mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Herr Kluge, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Kluge: Danke Ihnen!
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