Foucault als Philosoph des Alltags
Am 15. Oktober 1926, vor 90 Jahren, wurde Michel Foucault geboren. Dem 1984 verstorbenen Philosophen ging es darum, mit Hilfe der Geschichte die Gegenwart zu begreifen. Er wurde einer der einflussreichsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts - und sah Entwicklungen des 21. Jahrhunderts voraus.
Von Hegel stammt der folgende Satz: "Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst." Dieses merkwürdige Diktum könnte einfach bedeuten, dass auch die Philosophen nicht klüger sind als andere Zeitgenossen – niemand kann über den Tellerrand der eigenen historischen Befindlichkeit hinaussehen. Hegels Satz lässt sich aber auch tiefer verstehen, nämlich in dem Sinne, dass Philosophie ihre Gegenwart gedanklich durchdringt und so deren "Wahrheit" offenlegt. Ohne Philosophie als eine spekulative, also reflexive Wissenschaft, könnte keine Zeit sich ihrer selbst bewusst werden.
Michel Foucault war ganz und gar kein Hegelianer, er hat sich noch nicht einmal als Philosoph verstanden. Vielmehr war er ein eigenwilliger Wolpertinger, der sich bei allen möglichen Wissenschaften bediente. Er nannte sich "Archäologe", "Genealoge" oder auch "Ethnograph der eigenen Kultur". Immer aber ging es ihm darum, mit Hilfe der Geschichte die Gegenwart zu begreifen; die Aufgabe der Philosophie, so meinte er einmal, sei Diagnose oder auch: "zu sagen, was geschieht." Und hierin war Foucault ein wahrer Zaubermeister.
Eine für ihn grundlegende Idee ist, dass nicht nur unser Wissen, sondern auch unser Denken durch und durch historisch sei, also nie auf sicherem Grund stehe. Die Form des Wissens, die "Episteme", wie Foucault sie nennt, wandelt sich, daher können wir zu gewissen Zeiten nur auf gewisse Weise denken. Verstand die Renaissance die Welt in Analogien, so ordnete die Klassik sie in Taxonomien und Tableaus, während die Moderne gar nicht anders kann, als alles mit dem Menschen, dem Subjekt der Erkenntnis zu erklären. Bald werde das vorbei sein, prophezeite Foucault, der Mensch werde verschwinden "wie ein Gesicht im Sand".
Foucault war ein Meister darin, Begriffe zu erfinden
Foucault bohrte sich hinein in die Archive, und er erfand Begriffe, die so nebulös wie produktiv waren. Da ist zum Beispiel seine Rede von "Biopolitik" oder "Biomacht". Die Idee dahinter war, dass politische Macht ab dem 19. Jahrhundert ihre Untertanen nicht mehr nur unterdrücke und durch Todesstrafen und Verbote lenke, sondern dass sie produktiv auf die Körper einwirke, dass sie "Leben mache", auch als Bevölkerungspolitik. Foucault schrieb das im Jahr 1976, als noch kaum jemand an einen Boom der Bio- und Reproduktionstechnologien, an Anti-Aging-Medizin und gesteigerte Sorge um Gesundheit und Fitness der Bürger dachte.
Ein verwandter Begriff, der sich als hellsichtig erwies, ist "Gouvernementalität". Foucault hat dieses Wort – das auf "gouvernement", also "Regierung" anspielt – erst spät in seinen Vorlesungen am Collège de France eingeführt. Wieder steckt darin der Gedanke, dass Macht nicht repressiv, sondern produktiv wirke über Techniken des Regierens und Führens. Und regeln wir uns heute nicht vornehmlich sogar selbst, mit Biotrackern, Coachings und agieren als die viel beschworenen Unternehmer unserer selbst?
Gilles Deleuze sagte einmal, Philosophie sei die Kunst, Begriffe zu erfinden. Foucault war ein Meister darin, und natürlich liebte er es, sich als Prophet zu inszenieren. Er wollte an die Grenzen des Denkens, er wollte ergründen, was wir noch nicht oder nicht mehr denken können. Gut möglich, dass es ihm gerade deshalb gelang, über den Tellerrand seiner eigenen Zeit hinauszuschauen.