Eva Gilmer, Habermas-Lektorin bei Suhrkamp, spricht im Deutschlandfunk Kultur über Habermas' aktuelles Buchprojekt, seine Geschichte der Philosophie. Dabei gewährt sie Einblicke in Habermas' Wesen und Wirken einerseits und in die Unermüdlichkeit seines Geistes andererseits. Auch mit 90 Jahren sei Habermas kein bisschen müde und arbeite sich in ihm bisher wenig bekannte Lebenswelten des Mittelalters ein. Das ganze Gespräch können Sie hier hören:
Der Oberaufseher des öffentlichen Diskurses
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Wenn einer an die Kraft rationaler Verständigung glaubt, dann ist es Jürgen Habermas. Er ist der wohl bekannteste lebende deutsche Philosoph unserer Tage und eine Art intellektuelle deutsche Weltmarke. Jetzt wird er 90 Jahre alt.
Die 90-jährige ungarische Philosophin Agnes Heller hat der Wochenzeitung "Die Zeit" mit Blick auf Jürgen Habermas jüngst gestanden: "Ich respektiere und ich liebe ihn." Ein schönes, aber ungewöhnliches Bekenntnis - jedenfalls, was den zweiten Teil, also die Liebe, angeht!
Denn die meisten, die mit der Person Jürgen Habermas und seinem Werk in Berührung kommen, empfinden nur Respekt – der dafür umso gewaltiger ist. Das lässt sich vordergründig mit dem Weltruhm erklären, den sich Habermas mittels epochaler Bücher und durch vehementen Einsatz in öffentlichen Debatten erworben hat.
Kompromisslose Anwendung der Vernunft
Bereits als Habermas 2001 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, erhob ihn Petra Roth, damals Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main, zu einer deutschen Weltmarke: "Was zeichnet den heutigen Friedenspreisträger aus? Unermüdbarkeit des Nachdenkens, Unbestechlichkeit des Urteils und Unwille zur Resignation. Dafür schuldet ihm unser Land Dank, zu dessen kulturellem Ansehen in der Welt Sie so maßgeblich beitragen."
Aber Weltruhm ist im Zeitalter jugendlicher Influencer, die innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen erreichen, eine inflationäre Währung. Tatsächlich erntet Habermas Respekt im XL-Maßstab, weil er – das ist sein intellektuelles Markenzeichen – immerzu auf die kompromisslose Anwendung der Vernunft pocht.
Und – genauso entscheidend – weil er mit einigem Recht beansprucht, besonders gut zu wissen, was das eigentlich heißt: die Vernunft anzuwenden und damit die Königsdisziplin der Aufklärung auszuüben.
1953 gegen Heidegger rebelliert
An entsprechendem Selbstbewusstsein hatte es Habermas schon nicht gefehlt, als er sich 1953 mit dem philosophischen Großmeister Martin Heidegger anlegte. Der 24-Jährige gab damals in der "FAZ" zu verstehen: Der rationale Teil in Heideggers Werk lässt sich retten, der nicht-rationale, weltanschaulich vergiftete Teil muss weg.
Doch um Habermas' Stellung als intellektueller Oberaufseher des öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik zu verstehen, muss man seine "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 aufschlagen. Eine Kernaussage lautet: Wir können uns durch den Austausch von Argumenten im herrschaftsfreien Diskurs verständigen, vernünftige Ergebnisse erzielen und so etwas wie die Wahrheit ausfindig machen, der am Ende alle beipflichten.
Der stummen Gewalt die gemeinsame Sprache entgegensetzen
Rettung durch Reden: Dieses Rezept empfahl Habermas auch, als nach 9/11 ein Kampf der Kulturen auszubrechen schien: "Der ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ ist kein Krieg, und im Terrorismus äußert sich auch der verhängnisvoll-sprachlose Zusammenstoß von Welten, die jenseits der stummen Gewalt der Terroristen wie der Raketen eine gemeinsame Sprache entwickeln müssen."
Natürlich weiß jeder: So toll wie in der Habermas'schen Kommunikationstheorie läuft es in der Realität selten, und am seltensten in der Politik. Da muss man den Aufschwung windiger Populisten à la Donald Trump gar nicht erwähnen.
Und Habermas ist als weitgereister Weltbürger auch selbst nicht von hinterm Mond. Jedoch nimmt er Diskutanten nur ernst, wenn sie nicht täuschen, tricksen oder rhetorischen Schaum schlagen, sondern die rationale Verständigung zumindest als Ideal der Unterredung akzeptieren.
Spielregeln für vernünftige Kommunikation
Denn nur dann kann sich der berühmt-berüchtigte "zwanglose Zwang des besseren Arguments" entfalten – eine abgründige Formulierung, die wie ein Slogan über Habermas' gesamtem Wirken stehen könnte.
Das bekam im Historiker-Streit der 80er-Jahre Ernst Nolte zu spüren. Es ging um die Frage, ob sich der Holocaust historisieren und mit Blick auf den Bolschewismus sogar relativieren lässt. Habermas setzte eine moralisch orientierte Geschichtsschreibung der NS-Zeit durch und zerstörte ohne Gnade die öffentliche Existenz Noltes.
Wo bleiben die Gefühle?
Mittlerweile ist zumindest Habermas' Selbstbild weniger streng. Er hat schon vor Jahren behauptet, sich – so wie die Deutschen insgesamt – intellektuell lockerer gemacht zu haben: "Die exemplarische Veränderung des Tons und der Gesinnung offenbart eine Liberalisierung des Geistes, von der ich mich selbst nicht ausnehme."
Der rationale Sprachgebrauch indessen bleibt die Substanz der Weltmarke Habermas. Dass ihr damit etwas Entscheidendes fehlt, darauf hat jüngst Eva Illouz hingewiesen. Die israelische Soziologin behauptete, wer sich künftig mit Habermas' Werk befasse, könne "die konstitutive, entscheidende und zerstörerische Rolle von Gefühlen in der kommunikativen Vernunft nicht mehr ausblenden."
Ob Jürgen Habermas diese Bemerkung von Eva Illouz für vernünftig hält? Gefühlsmäßig würden wir sagen: eher nicht!