"Gibt es dich noch – Enrico Spoon? Über Menschen und Orte weltweit"
Edition Memoria, 128 Seiten, 20 Euro
"Die meine Wege kreuzten - Begegnungen aus neun Jahrzehnten
Quintus-Verlag, 168 Seiten, 18 Euro
Meine Figuren erscheinen in der Nacht
Der 1924 in Berlin geborene Walter Kaufmann war Seemann und Weltenbummler und schrieb an die 40 Bücher. Sein neues Werk handelt von einem Leutnant, der Anna Seghers las, und einer Begegnung mit Pianist Glenn Gould in der Suppenküche.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Walter Kaufmann ist 1924 auf die Welt gekommen, geboren als jüdisches uneheliches Kind in Berlin. Nach Duisburg wurde er dann adoptiert. Mit 14 Jahren hat er die Pogromnacht erlebt, wie die elterliche Wohnung verwüstet wurde, der Vater verhaftet – später sind die Eltern umgebracht worden. Er selbst entkam dem Massenmord im Kindertransport nach England. Dann aber als "Enemy Alien" nach Australien deportiert, auf dem Weg dahin von einem deutschen U-Boot torpediert. Er überlebt, tritt später in die australische Armee ein, fährt dann als Seemann um die Welt, wird zum Schriftsteller und geht zurück in den 1950er-Jahren nach Deutschland, in die DDR. Jetzt ist sein 39. Buch erschienen. Willkommen in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur, Walter Kaufmann!
Walter Kaufmann: Schön, dass ich hier bin. Ich meine, schön, dass Sie mich eingeladen haben.
Scholl: Ihr Geburtstag ist noch ganz frisch, man darf noch gratulieren. Herzlichen Glückwunsch zum 95., Herr Kaufmann! Wenn Sie, wie ich jetzt gerade sozusagen in 30 Sekunden Ihre Biografie resümiert habe, denken Sie da manchmal auch, meine Güte?
Kaufmann: Ja, das war sehr schnell, ein Durchlauf sondergleichen, sehr aufregend zur gleichen Zeit.
Der hungrige Junge Enrico Spoon
Scholl: Sie haben sich und die Welt mit einem Buch beschenkt, kann man sagen. "Gibt es dich noch – Enrico Spoon? Über Menschen und Orte weltweit", eine Sammlung von kurzen Porträts und Skizzen. Gehen wir mal mitten rein. Wer war denn, wer ist Enrico Spoon?
Kaufmann: Ein kleiner zerlumpter Junge. All die Leute, die in dem Buch vorkommen, gab es wirklich. Und dieser kleine zerlumpte Junge ist mir in Rio de Janeiro über den Weg gelaufen. Eine anrührende Geschichte, wie ich glaube. Sie so zu erzählen, wäre zu nüchtern. Im Buch wird sie lebhaft. Der Junge mit dem kleinen Löffel, deswegen "Spoon", hatte einen langen hölzernen Löffel, ging durch das Restaurant, in dem wir immer aßen, und wir legten ihm Fleisch oder eine Mohrrübe, was auch immer in den Löffel. Er war glücklich und wurde satt, obwohl das nicht so aussah. Er sah so nicht aus. Er sah so abgemagert und hohl aus, wie man nur sein konnte. Aber täglich kam er mit seinem Löffel. Eines Tages wurde er hinausgeworfen. Aber das ist die Geschichte, die Sie lesen müssen.
Scholl: Rio de Janeiro, das hört sich nach einer der Hafenadressen an, Herr Kaufmann, die Sie über viele Jahre als Seemann angesteuert haben. Wie muss man sich das eigentlich vorstellen, Ihr Leben als Seemann und Schriftsteller? Hat das gut gepasst? Hat sich das miteinander vertragen?
Kaufmann: Hat sich insofern vertragen, als die Seeleute, mit denen ich gefahren bin, alle akzeptierten, dass einer dabei ist, der auch schreibt. Einer, der schreiben will, und der die Seefahrt zum Teil nutzt, um Erlebnisse zu sammeln und die später in Bücher umzusetzen. Das hat jeder kapiert. Solange ich meine Arbeit tat, mich bemühte, keine Fehler machte so weit wie möglich, war ich ein gerngesehener Mitfahrer, Seefahrer, Seh-Fahrer auf allen Schiffen, auf denen ich gefahren bin.
Scholl: Im vergangenen Jahr haben Sie ein Buch veröffentlicht, Herr Kaufmann, mit Begegnungen aus neun Jahrzehnten, wie es hieß. Das waren auch ganz kurze Skizzen, Porträts, mit denen aber zugleich ja man auch Ihre eigene Biografie nachzeichnen konnte. Das geht mit dem neuen Buch über die Menschen und Orte jetzt auch ganz gut. Man staunt natürlich als Leser, wo und vor allem wann Sie überall waren, und das noch im Gedächtnis haben. Ich habe mich gefragt, wo nehmen Sie eigentlich die Erinnerung her von Erlebnissen mit Personen, die Jahrzehnte zurückliegen?
Kaufmann: Das ist erstaunlich, Sie haben ganz recht. Ich mache keine Notizen, habe kaum Tagebuch geführt. Wenn ich mich auf die Vergangenheit konzentriere, erscheinen die Leute wie aus einer Wolke. Nachts, wenn ich allein bin, wenn ich meine Gedanken ruhen lassen kann und konzentriert an irgendeine vergangene Episode denke, tauchen diese Leute auf, über die ich dann am nächsten Tag schreibe. Manchmal stehe ich auf, mache ein, zwei Sätze Notizen. Die Anfangssätze sind dann festgelegt, und es spult sich ab, als wären die Leute vor meinen Augen.
Der Lieutenant, der ein Buch von Anna Seghers liebte
Scholl: Lassen Sie uns, Walter Kaufmann, auf einige Menschen und ihre Orte blicken. Ich möchte gern einen Sprung gleich machen nach Australien, nach Melbourne 1944, zu Lieutenant Murray. Wer war das und an was erinnern Sie sich da mit ihm?
Kaufmann: An vieles. Aber das Konzentrierte ist, dass er ein ungemein zugänglicher, guter Kommandant war. Ein Mann, der in Neu-Guinea verwundet worden war und einen Schonplatz hatte in unserer Einheit, die ja kaum je an die Front kam. Der eine Einheit von zusammengewürfelten Refugees, also Flüchtlingen aus allen möglichen Ländern zu einer Einheit schmieden musste. Er konnte kein Deutsch, er konnte keine der Sprachen, Italienisch, was auch immer, die in unserer Einheit vorkamen. Aber er war ein toleranter, aufmerksamer, kluger Kerl und wusste unsere Einheit zusammenzuschmieden durch seine Toleranz, gleichzeitig seine Disziplin. Er war ein Mann von innerer Disziplin, und alle mochten ihn. Lieutenant Murray war ein beliebter Mann.
Scholl: Und Sie brachten ihn dazu, Anna Seghers "Das siebte Kreuz" zu lesen.
Kaufmann: Ich brachte ihn nicht dazu. Er kam zufällig, als ich Bücher zu ordnen hatte – ich war eine Art Bibliothekar. Wie nannte er das so hochtrabend: Education Officer in der Einheit. Was bedeutete, dass ich mich ein, zwei Stunden am Tag in einer Baracke aufhielt, wo Bücher in Regalen gestapelt waren und wo sich unsere Leute, unsere Soldaten Bücher ausleihen konnten. Und da war eine Sendung eingetroffen von den Amerikanern, von der amerikanischen Armee. Da waren fünf Exemplare von "Seventh Cross" –
Scholl: "Das siebte Kreuz", der berühmte Roman.
Kaufmann: Ich habe den Roman in englischer Sprache gelesen, bevor ich ihn je auf Deutsch in die Hand bekam, war fasziniert von dem Buch. Es hat mich enorm gefesselt. Und Lieutenant Murray kam in die Baracke und sagte, was lesen Sie denn da. Ich sagte ihm, was ich da lese, erzählte ihm den Inhalt, und er sagte, oh, interesting, und borgte sich ein Exemplar aus, kam am nächsten Morgen mit roten Augen etwas müde zurück in die Baracke, gab mir das Buch und sagte: Are there any more of that writer? Have you any more books by that writer? Hatte ich nicht. Aber er sagte, das ist jetzt ein Befehl, suchen Sie noch Bücher von dieser, wie heißt sie, Anna Seghers. Und ich suchte in Melbourne, ich suchte in Sidney, ich suchte überall in der amerikanischen Bibliothek, ich fand kein zweites. Aber er war fasziniert, so wie ich es war.
Mit Glenn Gould in der Suppenküche
Scholl: Das war Lieutenant Murray. Richtig prominent, wo es Ihnen mal auch selbst den Atem verschlagen hat, war eine Begegnung 20 Jahre später, 1964, mit Glenn Gould in New York, dem Musikgenie. Wie haben Sie denn den getroffen?
Kaufmann: Jetzt passen Sie mal auf, es hat mir nicht den Atem verschlafen. Ich war einfach neugierig. Ich ging in ein kleines Restaurant, eine Art elegante Suppenküche, nicht irgendwie für Obdachlose, sondern eine kleine, gediegene Suppenküche in Manhattan, in Greenwich Village. Da saß ein Mann und löffelte seine Suppe. Und als der damit fertig war, steckte er seine Hände in einen Muff. Ein etwa 30-jähriger, schlanker, klug aussehender Mann mit dunklem Haar. Und die Sache mit dem Muff, das interessiert doch jeden, besonders einen Schriftsteller. Ich konnte nicht umhin, immer wieder auf seine Hände zu gucken, die dann auch nicht lange im Muff blieben, denn er spielte eine Art Klavier auf dem Tisch und summte dazu.
Und dann blickte er rüber zu mir: Erkennen Sie die Musik? Ich sage, ja, Bach. Und er sagte, das musikalische Genie aller Zeiten. Und dann erkannte ich, mit wem ich sprach. Er hatte gerade sein Haar aus der Stirn geworfen – Glenn Gould. Und er erkannte, dass ich ihn erkannte, und war dann so leutselig, will ich mal sagen, zu sagen, come along with me to the church. – The church? Kirche? Ich glaubte, er spielt mir ein Orgelstück vor. Nein, es war kein Orgelstück. The Church, das waren die Columbia Studios, die nicht weit weg waren, und die nannten die Künstler The Church, die Kirche. Dort hatte ich das große Glück, ihn die Fugen von Bach live spielen zu hören. Wie das so ist, Suppenküche, Mann mit Muff, später eben in den Columbia Studios.
Scholl: Eine unglaubliche Geschichte, Walter Kaufmann.
Kaufmann: Nicht unglaublich, es war so.
Der australische Radiomoderator und sein "White House"
Scholl: Doch, sie ist unglaublich einfach, wenn man sie so hört. Was für ein herrlicher Zufall, und wie wenige Menschen können das von sich sagen, dass sie Glenn Gould live in seinem Studio gesehen haben. Am Ende Ihres Buches, das ist noch nicht so lange her, 2013, waren Sie wieder in Australien, und da haben Sie einen Mann getroffen, den Sie uns auch kurz porträtieren. Philipp Adams heißt er, ein australischer Radiomoderator. Mit ihm schließt sich ja gewissermaßen ein riesiger biografischer Kreis. Denn den haben Sie schon vor 60 Jahren getroffen, und er hat sie damals interviewt.
Kaufmann: Richtig, ja! Sie nehmen die Pointe vorweg!
Scholl: Erzählen Sie.
Kaufmann: Das ist wahr. Ich kam rein zufällig zu dem ungeheuren Vorteil, will ich mal sagen, in eine fremd gewordene Stadt, Sidney, der ich entfremdet war, obwohl ich sie liebe, durch eine Sängerin, die sagte, ich muss Sie unbedingt mit einem Moderator zusammenbringen, der macht Interviews, die jeder in Australien hört. Jeden Donnerstag ist er zu hören, und alle Leute schalten ein. Sie hatte keinen Namen genannt, sie brachte mich mit diesem Mann zusammen, der ein kerniger 70-Jähriger war ungefähr, mit grauem Haar, noch sehr sportlich, noch sehr agil. Der begann das Interview mit den Worten, Mister Kaufmann: "You don't know me! I know you!" Das war ein herrlicher Anfang. Und er erzählte, dass er mit 16 Jahren in einer Schülerzeitung Reporter war, und dass er mich als junger 16-jähriger Reporter interviewt hatte. Viele Jahre liegt das zurück, mehr als 20 damals schon, als ich meinen ersten Roman "Stimmen im Sturm" geschrieben hatte.
Und er hat ein wunderbares Interview gemacht. Nun schloss sich der Kreis. Da war er wieder, mein Interviewpartner, und wollte von meinem Leben hören, dass inzwischen sehr abenteuerlich auf der anderen Seite der Welt gewesen ist. Und ich hätte nie über ihn geschrieben, wenn die ganze Geschichte sich nicht auch zu einer Pointe zugespitzt hätte. Denn ich las später, als ich wieder in Berlin war, in einem australischen Magazin, dass das Haus von Philipp Adams verkauft worden war. Eine schöne, weiße Villa, die er "My White House" nannte. Und seine Frau wurde gefragt, wem denn das Haus nun gehöre. Die Frau hielt sich zurück und gab keine Antwort, und er ließ einfließen, Donald Trump hat das gekauft. Und ich glaube, er wird es mal brauchen, wenn sie ihn in Amerika nicht mehr haben wollen, kann er in Sidney sein White House bewohnen. Mein White House, sein White House. Das war die Geschichte.
Scholl: Eine Geschichte aus dem neuen Buch von Walter Kaufmann, "Gibt es dich noch – Enrico Spoon? Über Menschen und Orte weltweit", jetzt in der Edition Memoria erschienen, mit 128 Seiten, 20 Euro der Preis. Jener andere Band mit Begegnungen aus neun Jahrzehnten "Die meine Wege kreuzten", ist der Titel, ist im Quintus-Verlag veröffentlicht, zurzeit zwar ausverkauft, aber man denkt über eine zweite Auflage nach. Walter Kaufmann, ich danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch. Alles Gute Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.