Den Atem tanzend sichtbar machen
Tanz als Heilungsritual und Möglichkeit zu persönlichem Wachstum: Anna Halprin entwickelte in den 70er Jahren die Life/Art Methode – aus der eigenen Erfahrung einer Krebserkrankung. Am 13. Juli wurde die US-amerikanische Tochter jüdischer Einwanderer 95 Jahre alt.
Anna Halprin gibt einen Workshop. Sie lädt die Teilnehmer ein, in ihre Hände hineinzuspüren und durch sie den übrigen Körper wahrzunehmen. Die Empfindungen beim Tanzen waren Halprin schon immer wichtiger als tänzerische Raffinesse und Exzellenz:
"Für mich ist Tanz sichtbar gemachter Atem. Denn wenn ich aufhöre zu atmen, bewege ich mich nicht mehr."
Der tanzende Großvater als Vorbild
"Breath Made Visible", heißt auch ein Filmporträt über Anna Halprin, das der Schweizer Regisseur Ruedi Gerber zu ihrem 90. Geburtstag drehte. Nun, fünf Jahre später, tanzt und unterrichtet sie noch immer. Geboren am 13. Juli 1920 in Illinois als Hannah Dorothy Schuman, tanzt die Tochter jüdischer Einwanderer, seitdem sie 4 war:
"Mein Vater und mein Großvater kamen beide aus den Gettos in Russland. Jeden Samstag besuchten wir Großvater in der Synagoge. Wenn er betete, wiegte er sich heftig hin und her, sprang manchmal sogar auf und bewegte sich ekstatisch. Ich war damals fünf. Und mit seinem langen weißen Bart und den wallenden weißen Haaren sah mein Großvater so aus, wie ich mir Gott vorstellte. Und er tanzte! Also dachte ich, Gott sei ein Tänzer. Mein ganzes Leben habe ich nach einem Tanz gesucht, der so viel Bedeutung für mich hätte, so viel Seele und Inspiration, wie der Tanz meines Großvaters für ihn."
Doch weder im klassischen Ballett noch im Modern Dance findet sie, was sie sucht. Mitte der 1940er-Jahre verlässt sie deshalb den New Yorker Broadway und die renommierte Martha Graham Dance Company und zieht mit ihrem Mann, einem Landschaftsarchitekten, an die Westküste. In der Nähe von San Francisco, umgeben von Natur, entwirft er ein Haus mit einer riesigen Veranda, auf der Anna Halprin proben und Workshops geben kann. Später tanzen auch ihre beiden Töchter mit.
Janice Ross, Tanzprofessorin an der Stanford University verfolgt ihre Geschichte, seitdem Anna Halprin als junge radikale Künstlerin die Bühne betrat:
"Anna Halprin war damals das einzige Rollenmodell dafür, dass eine Frau eine Familie und eine Karriere als Tänzerin haben konnte. Es ist schon provokant, wenn diese Frau, die als Erste nackt auf einer amerikanischen Bühne tanzte, nun als Urgroßmutter immer noch auftritt. So bürstet sie unsere Vorstellungen über das Altwerden gegen den Strich."
Abneigung gegen jegliche Form der Diskriminierung
"Meine Jugendzeit, in der ich anfing, über Politik und das Leben nachzudenken, fiel in die Nazi-Ära. Was ich darüber erfuhr, bereitete mir Alpträume. Ich litt an Schlaflosigkeit."
Auf diese Erfahrung führt Anna Halprin ihre heftige Abneigung gegen jegliche Form der Diskriminierung zurück. Als 1965 in Los Angeles im Schwarzen-Getto Watts Unruhen ausbrechen, gründet sie eine gemischtrassige Tanzgruppe - die erste in den USA. Es folgen die Hippie-Zeit und Proteste gegen den Vietnamkrieg.
Auf der Bühne sprengt Anna Halprin die Grenzen zwischen Theater und Tanz, kollaboriert mit Musikern, Malern und Therapeuten, mischt die Genres zur Performance. Ihre Aufführungen werden zu Spektakeln, die in den USA, aber auch in Italien Skandale auslösen. 1972, sie ist 52 Jahre alt, entdeckt sie, dass sie Darmkrebs hat. Aus ihrem eigenen Umgang mit der Krankheit heraus entwickelt sie ein tänzerisches Heilungsritual, arbeitet mit Krebs- und AIDS-Kranken. Erst in den 90er Jahren kehrt sie, mittlerweile in ihren 70ern, auf die Bühne zurück.
Auch im hohen Alter Rollenmodell
Sie schreibt eine Choreographie für Senioren im Schaukelstuhl. Mit Laientänzern veranstaltet sie jedes Jahr ein Frühlingsritual für den Frieden. In dem Stück "Intensivstation" tritt sie auch selbst auf. Und mit 86, tanzt sie wieder ein Solo – bekleidet nur mit einem Tuch, das ihren künstlichen Darmausgang bedeckt.
"Anna Halprin ist noch immer sehr schlank und hat eine wunderbare aufrechte Körperhaltung. Dennoch hinterlässt das Alter unerbittliche Spuren. Und sie scheint zu sagen: "Seht, was der Körper noch leisten kann. Es ist immer noch interessant, immer noch berührend, immer noch schön."
Zu ihrem Tamalpa-Institut nahe San Francisco, an dem Anna Halprins Life/Art Methode seit 1978 gelehrt wird, pilgern noch immer Scharen junger Menschen. Sie ist erneut ein Rollenmodell – für eine neue Art, gut zu altern.
In ihrem Stück "Von 5 bis 100" durchläuft sie tänzerisch nochmals die Stationen ihres Lebens. Und dann, meint sie zum Schluss, mit 110, werde sie die Dinge endlich so tanzen, wie sie wirklich sind.