Als die Israeliten ein Volk wurden
Die Gläubigen in Israel feiern von diesem Wochenende an das Pessach-Fest. Dabei wird an den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten erinnert. Die Geschichte dokumentiert, wie das Volk Israel entstand.
"Einst waren wir Sklaven des Pharao in Ägypten.
Aber der Ewige, unser Gott, hat uns von dort mit starker Hand
und mit machtvollem Arm herausgeführt."
Aber der Ewige, unser Gott, hat uns von dort mit starker Hand
und mit machtvollem Arm herausgeführt."
"Die Kinder Israels, ziehen aus Ägypten aus und wissen nicht, was sie erwartet", sagt der israelische Schriftsteller Chaim Be’er.
"Es gibt das Trauma der mehrere Generationen dauernden Unterwerfung. Wenn man einen Adler aus einem Käfig freilässt, wird er zunächst schnell wegfliegen, sich dann aber fragen, was jetzt? Die B’nei Israel, die Söhne Jakobs, fliehen aus Ägypten, man verfolgt sie, dann geschieht ihnen das Wunder, dass sich das Meer vor ihnen teilt, und sie kommen in die Wüste."
Chaim Be’er ist ein Schriftgelehrter von Jugend an. Er wuchs in einer orthodoxen Familie in Jerusalem auf, lernte auf einer staatlichen religiösen Oberschule und leistete seinen Militärdienst beim Rabbinat der Israelischen Streitkräfte. Heute lehrt Chaim Be’er Literatur an den Universitäten Tel Aviv und Be’er Sheva. Er ist fasziniert von der Pessach-Haggada.
Die Haggada ist die Erzählung, die beim feierlichen Seder-Abend, dem Beginn des einwöchigen Pessach-Festes laut und reihum von allen des Lesens mächtigen Anwesenden vorgetragen wird.
"Der Text der Haggada ist eklektisch. Aber es gibt einige Aspekte, die mich an diesem Text beeindrucken: Zum Beispiel kommt Moshe in der Haggada nicht vor. In der Haggada ist es Gott, der die Kinder Israels aus Ägypten befreit. Das ist Teil einer umfassendere Anstrengung im Judentum, die historische Rolle von Moshe zu marginalisieren. Gott ist die bestimmende Figur, Moshe ist nur ein Instrument."
Eine Fülle von rituellen Vorschriften
Und die Beziehung des Volkes Israel zum Land Israel beschreibt die Erzählung der Pessach-Haggada ganz anders als es das zionistische Narrativ tut:
"Gott sagt seinem Volk in der Haggada, das Land Israel ist nicht euer Land. Es ist mein Land. Wir sind alle Abkömmlinge von Abraham, wir kommen von der anderen Seite des Jordan, deshalb heißen wir 'Die Hebräer'. Hebräer, bedeutet, 'vom anderen Ufer des Flusses'. Wo hat Gott uns als Volk geformt? In Ägypten. Wo hat man uns die Thora gegeben? In der Wüste. Und ich, Gott, führe Euch jetzt in dieses Land. Wenn ihr Euch gut benehmt, könnt ihr hier leben. Wenn ihr Euch nicht gut benehmt - diese Wohnung ist nicht auf Euren Namen ausgestellt. Es ist das Land Gottes. Er gibt es dem, dem er es geben will, wann er es ihm geben will und er kann es uns auch wieder nehmen. So lese ich die Haggada."
Die Lesung der Pessach-Haggada strukturiert den langen Seder-Abend. Das hebräische Wort Seder bedeutet Ordnung. Seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach der Zeitenwende wird der Seder in den Privathäusern abgehalten.
Während des Pessach-Festes kehrt sich die Gewichtung zwischen Haus und Synagoge um, sagt der Gründer und Direktor des renommierten Neve-Schechter-Instituts für Jüdische Studien in Tel Aviv, der konservative Rabbiner Roberto Arbib:
"Zu Pessach feiern die Juden auf der ganzen Welt nicht in der Synagoge, sondern in der Familie. Der Familienvorstand leitet das rituelle Mahl im Kreis der Familie an. Wir wünschen einander ein frohes und koscheres Fest, weil es so schwierig ist, das Fest koscher zu feiern, denn es gibt so viele festgeschriebene Regeln für das Fest: Die Wohnung muss von Chametz, von allem Gesäuertem, befreit, das Geschirr und Besteck muss nach den Vorschriften der Kaschrut vorbereitet werden. Den Seder-Abend der Halacha, dem Religionsgesetz gemäß abzuhalten, ist eine Herausforderung."
Einerseits dürfen also alle die Freiheit genießen, zu Hause zu feiern, zu beten und zu singen. Einige der traditionellen Pessach-Piyutim, der liturgischen Dichtungen zum Pessach-Fest, hören wir hier in einer Aufnahme mit Rabbiner Roberto Arbib.
Andererseits müssen sich alle, obwohl sie in ihren eigenen vier Wänden feiern, an eine Fülle von rituellen Vorschriften halten:
"Der ganze Tisch wird am Seder-Abend zu einer Art Bühne für alle möglichen Überraschungen. Die ganze Ordnung des Seder-Abends ist das genaue Gegenteil der sonst üblichen Ordnung. Wir sitzen so und nicht so, wir waschen die Hände so und nicht so, wir essen Dinge, die wir sonst nie essen und der Sinn ist, uns in einen Zustand des Unbehagens zu versetzen und Fragen zu provozieren."
Die schwere Geburt des Volkes Israel
Eine der Überraschungen, die Roberto Arbib im Sinn hat, ist zum Beispiel die, dass das Volk Israel in der Fremde geboren wurde:
"In der Pessach-Geschichte wiederholt sich die Erfahrung Abrahams: Wie er wird auch das Volk Israel an einem fremden Ort geboren und muss sich bemühen, das Land seiner Bestimmung zu erreichen, das Land Israel. Das Pessach-Fest steht für die schwere Geburt des Volkes Israel. Denn das Volk Israel hat Ägypten zwar als Volk verlassen, war aber zugleich noch in einer Art Embryonalstadium. Es musste erst viele Stationen durchlaufen - und die bedeutendste war sicher das Empfangen der Thora am Berg Sinai - bevor es zu einer Einheit wurde."
Der Seder-Abend erinnert an die schwere Geburt des Volkes Israel. Indem diese Erinnerung in den jüdischen Familien zu Pessach wachgerufen und von Generation zu Generation weitergegeben wird, gründet sich die Identität des Volkes Israel in den jüdischen Familien überall auf der Welt jedes Jahr aufs Neue.
Sie verwurzelt sich in einer gemeinsamen Geschichte. Aber das Pessach-Fest hat auch eine über die jüdische Welt hinaus reichende Botschaft. Dessen ist sich Rabbiner Arbib sicher:
"Mein Großvater in Italien ließ zu Pessach immer nicht nur, wie es in der jüdischen Tradition üblich ist, einen Stuhl am Tisch für den Propheten Elia frei, sondern auch einen leeren Stuhl für die Völker, die noch nicht befreit worden sind. Seiner Ansicht nach ging es zu Pessach nicht nur um die Befreiung des jüdischen Volkes, sondern um etwas Universelles, nämlich den Ruf nach Freiheit aller Völker. In diesem Sinne ist das Pessach-Fest ein universelles und kein rein jüdisches Fest."