Von Kulturbanausen und nationaler deutscher Identität
Der Autor Botho Strauss fürchtet, dass die Deutschen den Bezug zur ihrer Kultur immer mehr verlieren. Der Journalist Rolf Schneider macht ähnliche Beobachtungen - und spitzt zu: Irgendwann ist es so weit, dann sitzen in unseren Theatern und Konzertsälen nur noch gebildete Immigranten.
Kürzlich sah ich einen Film, der von den Arbeiten an Peter Steins Berliner Schaubühne erzählte. Es trat darin auch der Bearbeiter von Gorkis Stück "Sommergäste" auf, ein langhaariger Dramaturg namens Botho Strauß. Seine Äußerungen waren die nach 1968 bei Intellektuellen üblichen: ein schneidiger Neomarxismus.
Davon hat sich der inzwischen viel gespielte Autor längst verabschiedet. Auch andere Anhänger der Studentenrevolte haben ihre einstige Haltung aufgegeben, manche entschieden, andere eher behutsam. Strauß gehört erkennbar zu den Entschiedenen.
Dies wurde spätestens deutlich im Jahre 1993, als er den Aufsatz "Anschwellender Bocksgesang" veröffentlichte. Im Protest wider den damals vorherrschenden Linksliberalismus mit seiner untiefen Populärkultur trat er ein für eine Art mystisches Deutschtum, was ein inständiges Interesse für existentielle Kämpfe samt damit verbundenen Schrecknissen einschloss.
Strauß Identität reduziert sich auf Muttersprache
Soeben wiederholte er dies. Sein Anlass sind die anschwellenden Flüchtlingsströme. Strauß sieht die Gefahr einer ethnischen Überfremdung und begreift sich selber, einigermaßen kokett, als letzten Deutschen. Dies auch darum, weil er eine geistige Ahnenreihe beschwört, die er, in solcher Form, nun in der Tat für sich fast alleine hat.
Er nennt ein knappes Dutzend Namen, bei denen auffällt, dass ihre Träger überwiegend Anti-Aufklärer sind, manche als konservative Theologen, manche als Hitler-Flüchtlinge, andere zeigen eine beunruhigende Nähe zu Hitlers Weltanschauung. Sie alle miteinander haben nur dies gemeinsam: dass sie sich der deutschen Sprache bedienen.
Die nationale Identität, um die es Botho Strauß zu tun ist, reduziert sich, was er nicht sagt, was er vielleicht nicht einmal sieht, auf unsere Muttersprache.
Sprachen verändern sich, ohne sich zu verletzen
Um deren Bestand sorgen sich viele: wegen der Invasion modischer Anglizismen, wegen der medialen Verhunzung, wegen des Junge-Leute-Jargons und der "Kanaksprak". Vergleichbares gab es freilich zu allen Zeiten. Und eine entsprechende Sprachpolizei gab es auch. Dass Sprachen sich ständig verändern, in ihrer Substanz jedoch unverletzbar sind, gehört zu den sicheren Erkenntnissen aus 150 Jahren empirischer Linguistik.
Ein Passus des Textes von Strauß ließ mich aufmerken. Er ist, wie alles übrige, ebenso luzide wie schwammig formuliert; habe ich ihn richtig verstanden, will er sagen: Die immigrierten Muslime könnten nach erfolgter Integration außer über ihre mitgebrachten kulturellen Traditionen auch noch über jene ihres Gastlandes verfügen. Den autochthonen Deutschen wären sie dann gleich zweifach überlegen, da letztere die eigene Tradition zunehmend vernachlässigten.
Nicht allein Immigranten sollten unsere Kultur pflegen
Hieran ist so viel wahr, dass unsere kulturelle Vergangenheit eine immer kleiner und immer älter werdenden Minorität beschäftigt. Wenn, wie geschehen, der Schüler einer hiesigen Abiturklasse seine Lehrerin fragt, wer denn eigentlich dieser Friedrich Schiller sei, ist das ein einschlägiges Indiz.
Zu Ende gedacht hieße es, dass unsere Museen, Theater, Bibliotheken und Konzertsäle irgendwann bloß noch von gebildeten Immigranten bevölkert werden. Eingeladen dorthin seien sie gewiss. Dass sie dabei völlig unter sich bleiben, wollen wir nicht hoffen. Wir sollten einiges dagegen tun.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller.
Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.
Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.