Derek Scally, geboren 1977, ist seit bald 20 Jahren der Korrespondent der Zeitung "Irish Times" in Berlin. Er studierte zuvor Journalismus an der Dublin City University. Seine Hauptthemen sind deutsche und europäische Politik, Wirtschaft und Kultur. Er ist häufiger Gast im Radio und Fernsehen, sowohl in Irland wie in Deutschland.
Das Dilemma der Aufdeckung
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Die Bloggerin Marie Sophie Hingst starb, nachdem öffentlich wurde, dass ihre jüdische Familiengeschichte vorgetäuscht war. Der irische Journalist Derek Scally hatte sie noch getroffen und nun über ihre tragische Geschichte geschrieben.
Die Nachricht vom Tod der 31-jährigen Bloggerin Sophie Hingst sorgt bei vielen für Erschütterung. Die Umstände sind bisher ungeklärt, aber einiges deutet darauf hin, dass es sich um einen Suizid handeln könnte. Darüber berichtete als einer der ersten unser Studiogast, der irische Journalist Derek Scally, in einem Artikel für die Zeitung "Irish Times".
Die in der irischen Hauptstadt Dublin lebende Hingst war in den vergangenen Monaten in die Schlagzeilen geraten, nachdem ein "Spiegel"-Artikel im Mai aufgedeckte, dass sie eine jüdische Familiengeschichte vorgetäuscht hatte. Ihr wurde in Folge dieser Enthüllungen der Ehrentitel "Bloggerin des Jahres 2017" aberkannt, den sie für ihren Blog "Read on my dear, read on" erhalten hatte.
Bedenken in Irland
Nach der "Spiegel"-Veröffentlichung habe es in der Redaktion der "Irish Times" zunächst Bedenken gegeben, das Thema in dieser Form aufzugreifen, sagte Scally im Deutschlandfunk Kultur. Er habe die junge Frau kontaktiert und in Berlin getroffen, weil Hingst im "Spiegel"-Artikel mit keinem Zitat zu Wort gekommen sei, sagt Scally. Je länger er mit ihr gesprochen hat, umso mehr habe er gespürt, dass er es mit einer sehr fragilen Person zu tun habe, sagte der Journalist.
Der "Spiegel" habe den Artikel ins Englische übersetzt, sodass die Vorwürfe gegen Hingst weltweit zu lesen gewesen seien. In ihrem Freundeskreis und Berufsleben habe die Geschichte jeder mitbekommen. "Egal, was jemand macht, man hat immer mit einem Menschen zu tun", sagte Scally. Das habe ihm in der Berichterstattung bislang gefehlt. Auch eine offenbar psychisch erkrankte Frau sei zunächst einmal ein Mensch, betonte er. Es handele sich um ein riesiges Dilemma, bei dem er niemanden Vorwürfe machen wolle, sagte Scally.
Unterschiedliche Reaktionen
Es sei anscheinend nicht ungewöhnlich, dass Menschen nicht damit zurecht kämen, zum "Tätervolk" zu gehören. Manche Leute wollten sich eher mit den Opfern des Nationalsozialismus identifizieren. "In dem Fall Hingst wissen wir nicht, was Sophie dazu bewogen hat, das zu tun." Ihre Darstellung sei außer Kontrolle geraten und der "Spiegel" habe das bremsen wollen. Die Mutter der Bloggerin habe ihm über ihre Tochter gesagt: "Die Sophie hat mehrere Realitäten, ich habe aber nur Zugang zu einer."
Es sei interessant, wie unterschiedlich die Reaktionen auf den Fall in Deutschland und in Irland ausfielen, sagte Scally. In Deutschland gebe es ein Verantwortungsgefühl für den Holocaust: "Das ist kein Spielzeug, das irgendjemand für die Karriere benutzen kann." In Irland sei es dagegen mehr um Hingst als Person gegangen. "Vielleicht weil wir ein bisschen Abstand zum Thema Holocaust haben?"
Belastender Wikipedia-Artikel
Besonders belastend für Hingst habe sich vermutlich ein Wikipedia-Artikel ausgewirkt, bei dem jemand besonders emsig gewesen sei. Es habe einen sehr langen Artikel sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch über die Bloggerin gegeben. Der Tenor sei gewesen, dass Hingst eine Bloggerin und Hochstaplerin sei. "Ich glaube, das ist am Ende das, was sie so sehr belastet hat", sagte der Journalist. Selbst wenn sie irgendwann wieder gesund geworden wäre, hätte ihre Vergangenheit sie wohl nicht mehr losgelassen. Die Bloggerin sei eine interessante Person und talentierte Schriftstellerin gewesen. "Sie hatte so viel Zukunft vor sich und sie ist mit 31 jetzt tot."
(gem)
Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei).