Ágnes Heller: Paradox Europa
Edition Konturen, Wien und Hamburg 2019
62 Seiten, 12 Euro
"Europa ist auf einem gefährlichen Weg"
15:12 Minuten
Sie sah zwei Diktaturen kommen und gehen und warnte noch im Mai 2019 vor einer nationalistischen Wende in Europa. Nach dem Tod der ungarischen Philosophin Ágnes Heller wiederholen wir dieses Gespräch, das wir anlässlich ihres 90. Geburtstags geführt haben.
"Ich habe mehr Vertrauen in die USA als in Europa", gestand Ágnes Heller anlässlich ihres 90. Geburtstag. Denn in den USA sei die Demokratie aus der Mitte der Gesellschaft entstanden. Ganz im Gegensatz zu Europa. Hier sei Frankreich das einzige Land, das niemals einen Diktator gewählt habe.
Nationalismus braucht Feinde
Die Schrecken der beiden Weltkriege sieht die ungarische Philosophin inzwischen verblassen. Als Jüdin entkam sie gemeinsam mit ihrer Mutter nur knapp dem Holocaust, ihr Vater wurde im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Nach jahrzehntelanger Repression durch das realsozialistische Regime in Ungarn wanderte sie 1977 aus. Zunächst nach Australien, in den 80ern schließlich nach New York, wo sie den Lehrstuhl von Hannah Arendt übernahm. Seit ihrer Emeritierung pendelt sie zwischen den USA und Ungarn. Dort betrachtet sie die zunehmend nationalistische Ausrichtung der Regierung unter Viktor Orbán mit großer Sorge.
"Europäische Nationalisten brauchen Feinde", warnt Heller, "denn ohne Feinde gibt es keinen ethnischen Nationalismus. Jetzt ist der Feind Brüssel – für Salvini, Orbán und andere. Aber was passiert, wenn sie Brüssel übernehmen? Dann wird die EU sicherlich zerfallen. Wer wird dann der Feind sein? Die Nachbarstaaten, wieder einmal."
Gefahr eines neuen Krieges in Europa
Wir müssten uns die Möglichkeit eines erneuten Krieges zwischen europäischen Staaten vor Augen führen, fordert Heller: "Natürlich ist das eine Dystopie. Aber es ist eine wirkliche Gefahr. Und wenn man die Gefahren nicht sieht, kann man sie nicht vermeiden."
Heller vergleicht die gegenwärtige Situation in Europa mit der vor dem Ersten Weltkrieg. "Damals gab es zwei Generationen, die den Krieg nicht kannten". Das Gleiche gelte heute. Wieder schauten wir auf zwei Generationen, die nicht mehr wüssten, was ein Krieg tatsächlich bedeutet, und die das Bedürfnis hätten, sich mit ihrem Nationalismus unabhängig von den Nachbarländern zu machen.
"Es ist ein Riesenproblem der EU, dass sie bei den Menschen kein europäisches Wir-Bewusstsein entwickeln konnte", stellt Heller fest, und weiter: "Ich glaube, Dystopien sind nützlicher als Utopien". Utopien von idealen Gesellschaften müssten die Perfektionierbarkeit des Menschen annehmen. "Wenn man daran nicht glaubt, wenn man davon ausgeht, dass der homo sapiens ist, was er ist, dann muss man hingegen an Institutionen glauben."
Den Garten Europa kultivieren
Wir sollten also den Rahmen des Möglichen ernstnehmen, empfiehlt Heller, und "unseren Garten Europa" kultivieren. Wir könnten zum Beispiel keine Welt ohne Armut herbeiführen, aber dafür sorgen, dass Armut sich nicht weitervererbt. Es sollte uns also darum gehen, resümiert Ágnes Heller, "unseren Garten gerechter und glücklicher zu machen."