Programmhinweis: Wir wiederholen heute, den 4. Juni 2021, um 19:30 ein Feature über Mayröcker aus unserem Archiv. Einen Nachruf von Carola Wiemers lesen Sie hier.
Energie, Intensität und absolute Unbedingtheit
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Die verstorbene Friederike Mayröcker hat viele andere Dichterinnen und Dichter mit ihrem eigenwilligen, genreübergreifenden Stil geprägt. Aus jedem ihrer Sätze spreche Jugendlichkeit und Frische, sagt der Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl.
Rauschhaft, blubbernd, schillernd – und zugleich von großer Schlichtheit: So beschreibt der Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl die Texte der jetzt im Alter von 96 Jahren verstorbenen Friederike Mayröcker.
Die Todesnachricht habe ihn sehr betroffen gemacht, Mayröcker sei eine Jahrhundertdichterin gewesen, sagt Lehmkuhl. Gerade erst vor kurzem habe er in ihrem aktuellen Gedichtband gelesen, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. "Und ich war wieder begeistert von der großen Jugendlichkeit und Frische, die aus jedem Satz spricht", schwärmt der Kritiker.
Gattungsgrenzen über Bord geworfen
Die Lyrik der Österreicherin, geboren 1924 in Wien, habe sich über die Jahrzehnte immer wieder gewandelt, so Lehmkuhl. Ihr Debüt-Gedichtband aus den 1960er-Jahren sei noch von einer gewissen Härte und Kargheit geprägt gewesen: "Doch das hat sich im Laufe der Jahre aufgelöst. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich ihr Schreiben noch einmal stark dadurch verändert, dass sie im Grunde alle Gattungsgrenzen über Bord geworfen und poetische Prosa geschrieben hat."
Dies sei schon in den 1980er-Jahren in den "Magischen Blättern" ein deutliches Kennzeichen gewesen und habe sich seit den 2010er-Jahren noch einmal verstärkt, besonders deutlich zu erkennen in der Trilogie "études", "cahier" und "fleurs": "Da machte sie gar keinen Unterschied mehr zwischen Lyrik, Prosa und Tagebuch."
"So rauschhaft-manisch und enthoben, wie man ihre Texte vordergründig manchmal erleben mag, stellt man dann doch beim Lesen fest, dass sie gesättigt sind von Wirklichkeit und von ihrem Alltag. Auch wenn sie ihren Schreibtisch oder ihre Straße kaum verlassen hat, war sie immer eine sehr aufmerksame Wahrnehmerin dessen, was sie umgibt", sagt Lehmkuhl.
Von Mayröckers Büchern trösten lassen
Ähnlich sieht es der Lyriker und Essayist Marcel Beyer. Mayröcker habe in "einem tollen Wechselverhältnis" gelebt und geschrieben.
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So habe sie ihre ganz eigene Welt gehabt und zugleich sei sie "ungeheuer offen für die Welt da draußen" gewesen. Sie habe "ganz viel Welt herangezogen" und beschrieben - und das auch in ganz alltäglichen Situationen wie beim Einkauf im Supermarkt. "Das Schreiben ist gewissermaßen so etwas wie ein Filter, der einem dazu dienst, die Welteindrücke zu strukturieren", sagt Beyer.
"Sie hat immer klipp und klar gesagt: 'Sie hasst den Tod'. Für sie liegt ein Trost im Schreiben." Durch das Schreiben bleibe Mayröcker lebendig, zitiert Beyer die Dichterin. "Diesen Trost hat sie auch auf die Leser übertragen. Immer konnte man, wenn man selber in einer nicht guten Verfassung ist, zu einem Buch von ihr greifen und sich von ihr trösten lassen."
Vorbild für Generationen nach ihr
Selbst die Trauer über den Tod ihres langjährigen Lebensgefährten und Dichterkollegen Ernst Jandl sei "äußerst produktiv" für ihr Schreiben gewesen. Ein Beispiel dafür sei unter anderem Mayröckers Requiem auf Ernst Jandl.
Die Lyrikerin sei ein Vorbild für Generationen von jüngeren Dichtern nach ihr, betont Lehmkuhl: "Niemand von ihnen schreibt wie Mayröcker. Aber was viele von ihr und vielleicht auch von Ernst Jandl übernommen haben, ist eine Energie, Intensität und Unbedingtheit. Ich glaube, Mayröcker ist für viele das Ideal der Unbedingtheit und der ganzen Hingabe an die Kunst."
(mkn)