"Dirigent bin ich zufällig geworden"
"Sprengt die Opernhäuser in die Luft" – unter diesem Titel erschien 1967 ein "Spiegel"-Interview mit dem Avantgardisten Pierre Boulez. Er stand für einen musikalischen Neubeginn. Später dirigierte er Wagners Ring in Bayreuth und wurde Musikchef am Pariser Zentrum der Künste. Vereinnahmen ließ er sich nie.
Boulez: "Ich finde, was furchtbar ist für ein kulturelles Leben, das ist diese Sicherheit, man hat kein Zweifel, man bringt keine Fragen. Wir haben immer so gemacht, wir werden immer so machen. Und diese Routine kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Ich finde, das ist der Tod. Ich finde, wenn eine Zivilisation hat zu viel Gedächtnis und keine Kreativität, diese Zivilisation wird sterben, unbedingt."
Seit den Fünfzigerjahren gehörte Pierre Boulez zu den prominentesten Vertretern der Nachkriegsavantgarde. Spätestens seit dem 1967 erschienenen "Spiegel"-Interview mit dem Titel "Sprengt die Opernhäuser in die Luft" hatte die Diskussion um die musikalische Avantgarde, die sonst nur in Fachkreisen geführt wurde, eine größere Öffentlichkeit erreicht.
Boulez: "Mein Satz war wirklich: Was würden sie machen gegen die Routine in einem Opernhaus? Die eleganteste Lösung wäre, das in die Luft zu sprengen. Natürlich, ich habe das nicht als realistisch gezeigt. Das war nur Humor, 1937 / 1949, ich habe das mit Humor gesagt, aber das war wirklich sehr ernst genommen. die leute haben geglaubt, dass ich werde mit Rotgardisten alle Monumente in die Luft sprengen."
Geboren wurde Boulez 1925 in Montbrison. Mit 17 Jahren - noch inmitten des Krieges - begann er ein Studium.
Boulez: "Ich habe Mathematik studiert, aber unter dem Druck meiner Familie, weil ich war begabt für Mathematik schon wenn ich jung war aber meine Absicht war sofort da, ich wollte Musiker werden."
Exponent serieller Musik
Mit 18 ging Boulez nach Paris und besuchte die Kompositionsklassen des Schönberg-Schülers René Leibowitz und Olivier Messiaens. 1952 nahm er zum ersten Mal an den Darmstädter Ferienkursen, der Hochburg seriellen Komponierens, teil. Neben Karlheinz Stockhausen war Boulez der wichtigste Exponent der seriellen Musik, die sich einer rationalistischen, quantifizierenden Methode bediente, die vielleicht seiner mathematischen Begabung entgegen kam.
Doch entsprach der von einer ganzen Gruppe junger Künstler betriebene Versuch eines musikalischen Neubeginns auch dem Ausdruck einer anderen Haltung, die sich von jenem konservativen Geist abzusetzen suchte, der in den Zweiten Weltkrieg geführt hatte.
Bezeichnend ist, wie Olivier Messiaen den damals 28-Jährigen in Darmstadt vorstellte:
"Pierre Boulez ist intelligent, ungemein intelligent, zu intelligent. Seine Rettung ist jene aufs Ganze gehende Aggressivität, darin er zuhause ist und die alle seine Taten stets begleitet - vielleicht um eine übergroße Zartheit zu verbergen."
Doch schon Mitte der Fünfzigerjahre offenbarte sich eine veränderte kompositorische Haltung, mit der Boulez auf die zunehmende Erstarrung und die Ideologiezwänge des orthodoxen Serialismus der frühen Fünfzigerjahre antwortete. In dieser Zeit kreierte Boulez ein Labyrinth von Verknüpfungen mehrerer Stücke nach Gedichten des französischen Surrealisten René Char: sein berühmtes Stück "Le Marteau sans Maître".
Man hat das Stück den "blauen Reiter" der Neuen Musik genannt. Der Komponist selbst beschrieb das Stück als seinen Aufbruch in die Freiheit und zugleich als den Augenblick in seinem Schaffen, an dem er seine eigene Sprache gefunden hatte. Heute gehört der "Marteau" zu den Schlüsselwerken der Musik des 20. Jahrhunderts.
Seine Karriere verlief rasant
Viele bewunderten an Boulez die Elegance und Clarté seiner kristallinen Strukturen. Ebenso bestechend waren sein analytischer Blick und das dezidierte Urteil in Bezug auf die Musik seiner Vorgänger und Weggefährten. Mit dem Titel "Schönberg ist tot" setzte sich Boulez nach dessen Tod im Winter 1952 von seinem Vorbild ab.
Man warf ihm Vatermord vor. In seiner 1952 gegründeten Konzertreihe "Domaine musicale" hatte sich Boulez vor allem jungen Partituren gewidmet und dabei ganz nebenbei den Grundstein für die kulturelle Institution gelegt, als die Pierre Boulez zunehmend im parisfokussierten Frankreich wahrgenommen wurde.
Boulez: "Dirigent bin ich zufällig geworden. Wir waren also gegen das Establishment, und wir wollten zeigen, dass wir fähig waren auch, etwas zu machen. weil ich finde, wenn man radikal ist, man muss auch zeigen, was möglich ist."
Überrascht war die Musikwelt, als er 1966 nach Bayreuth kam. Als Dirigent hatte er schon zuvor Meilensteine gesetzt, mit der Präzision und Transparenz in der er Debussy, Strawinsky, Bartok und die zweite Wiener Schule aufführte.
Zehn Jahre später dirigierte Boulez den gesamten Ring, den so genannten Jahrhundertring. Gemeinsam mit Patrice Chereau unterzog er Wagners Zyklus einer kritischen Sichtung. Für die Kritik ein Lichtblick, für das Publikum ein Skandal.
Seine Karriere als Dirigent verlief rasant, führte Boulez zum Cleveland Orchestra, zum BBC Symphonie Orchestra und zum New York Philharmonic Orchestra und begann, seinen Ruf als Komponist einzuholen.
Brillant in seiner Radikalität
Als sich der französische Staatspräsident George Pompidou für das neu zu gründende Zentrum der Künste Pierre Boulez zum Musikchef wünschte, verstand es dieser, sich einen Traum zu verwirklichen: das Institut de Recherche et Coordination Acoustic/Musique - kurz: IRCAM. Bis heute liegt der Schwerpunkt im Bereich Forschung von Akustik, Elektroakustik und Computertechnologie, was ihm in der Softwareentwicklung Bedeutung über die Musik hinaus verleiht.
Zwischen allen Wellen hat Pierre Boulez die Klippen des Musikbetriebs immer wieder heil zu umschiffen verstanden. Denn Boulez war brillant - brillant in seiner Musik, seiner Rhetorik, auch in seiner Radikalität. Seinen Erfolg hatte er, gerade weil er radikal war, weil er sich nicht vereinnahmen ließ und in gewisser Weise immer eigenständig und unberechenbar geblieben ist. Auch dann, als er als Komponist und Dirigent längst das internationale Musikleben mitbestimmte.
Boulez: "Kultur ist wie eine Autobahn. Man muss die reparieren, das ist endlos."
Der Musikkritiker Uwe Friedrich hat den verstorbenen französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez als auch rebellischen Künstler gewürdigt. So habe es noch 2004 – im hohen Alter von Boulez – eine Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Regisseur Christoph Schlingensief bei der Inszenierung des "Parsifal" in Bayreuth gegeben. - Hier nachhören:
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Er hat das klassische Repertoire auf den "ursprünglichen Stand zurückgebracht", sagt der Komponist Peter Eötvös über Pierre Boulez. Weil die Musiker haargenau spielen mussten, was in der Partitur zu lesen ist:
"Besonders Werke wie zum Beispiel Debussy oder Bartok oder Strawinsky oder Webern, um nur einige Komponisten zu nennen, haben eine ganz andere Qualität bei ihm dadurch erfahren, dass er keine emotionalen Zusätze gemacht hat. Und das hat den Orchestern auch sehr viele neue Erfahrungen gebracht."
Hier können Sie das Interview mit Peter Eötvös nachhören:
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"Dieses anarchische Frühwerk mit den Klaviersonaten, dieses ungeheuer elegante, aber sehr abgründige dunkle Alterswerk" - Interview mit Winrich Hopp, Leiter der Berliner Festspiele:
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