Zum Todestag ein "Vater Unser"

Von Luise Sammann |
Wie jedes Jahr am 10. November um 9.05 Uhr steht in der Türkei für eine Minute das Leben still. Autos halten am Straßenrand, Kellner lassen den Tee kalt werden – und das Einzige, was im ganzen Land zu hören ist, sind die Sirenen. Denn heute vor 72 Jahren um genau 9.05 Uhr starb der Gründer der türkischen Republik Mustafa Kemal Atatürk. Er legte den Grundstein für die Türkei, wie sie heute. Strenge Gesetze schützen den "Vater aller Türken", Kritik an ihm ist unerwünscht. Und vor allem unter den Jugendlichen ist der Kemalismus in den letzten Jahren wieder immer sichtbarer geworden.
Montagmorgen, sieben Uhr, in Istanbuls Schulen beginnt eine neue Woche. Und zwar genauso, wie sie seit mehr als achtzig Jahren beginnt: mit der türkischen Nationalhymne.

Etwa hundert Erst- bis Achtklässler einer Schule im Istanbuler Stadtteil Besiktas stehen augenblicklich stramm. Ihre braunen Schuluniformen sind frisch gebügelt, der Blick ruht auf der riesigen schwarzen Büste von Republikgründer Atatürk, dessen Statuen jeden türkischen Schulhof zieren. Zwei vielleicht 12-jährige Mädchen haben sich rechts und links neben einem Fahnenmast aufgestellt, sie sind die einzigen, die sich jetzt noch bewegen dürfen. Wie in Zeitlupe ziehen sie an einem Seil, das Stück für Stück die knallrote türkische Fahne über ihren Köpfen aufsteigen lässt.

Auch Passanten, die auf dem Bürgersteig vorbeikommen, wenden sich sofort der Atatürk-Büste zu, verharren regungslos, bis die letzten Töne verklungen sind. Eine Mutter drückt ihr zappelndes Kind an sich, ein alter Greis stützt sich wie erstarrt auf seinen Spazierstock, richtet sich auf, so gut es eben noch geht ...

Nach zwei, drei Minuten ist alles vorbei. Als ob jemand die Play-Taste gedrückt hätte, setzten sich alle wieder in Bewegung, die Kinder rasen über den Schulhof, der Greis setzt mit wackeligen Schritten seinen Weg fort ... Alltag in türkischen Schulen. Jeden Montagmorgen beginnt die Woche mit diesem Ritual, jeden Freitagnachmittag wird so das Wochenende eingeläutet. An den Morgenden dazwischen legen die Schüler unter den strengen Augen der Atataürk-Statuen im Chor Bekenntnisse zur türkischen Republik ab: "Ich bin Türke, ich bin aufrichtig, ich bin fleißig. Mein Gesetz gebietet mir die Kleinen zu beschützen, die Alten zu respektieren und mein Land und meine Nation mehr zu lieben als mein eigenes Leben."

Während draußen langsam Ruhe einkehrt, die Schüler in den Klassen verschwinden, sitzt Geschichtslehrerin Ayse im Lehrerzimmer, vor sich einen Becher Kaffee. Mit dem Finger fährt die 32-Jährige über das Inhaltsverzeichnis des Schulbuchs in ihrer Hand.

Ayse: "In jedem Schulbuch ist die Nationalhymne, ein Atatürk-Porträt und seine "Rede an die Jugend" abgedruckt. Es wäre ja auch nicht normal, wenn das nicht so wäre! Weil er allein es erreicht hat, dass die türkische Republik gegründet wurde. Es macht uns glücklich, sein Bild auf der ersten Seite jedes Buches zu sehen, und wir wären unglücklich, wenn das nicht so wäre."

Ayse blättert um. "An die türkische Jugend!" steht mit Ausrufezeichen auf der nächsten Seite, darunter die Jahreszahl 1927.

"Es ist stets Deine erste Aufgabe, die türkische Unabhängigkeit und die türkische Republik bis in alle Ewigkeit zu schützen und zu verteidigen." Und weiter: "Die Kraft, die Ihr dazu benötigt, fließt im adligen Blut Eurer Adern."

Ayse nickt zustimmend. Jedes türkische Schulkind kennt diesen Text auswendig. Und auch sonst, sagt sie, sorgen alle dafür, dass das Erbe des Republikgründers auch 72 Jahre nach seinem Tod nicht in Vergessenheit gerät. Als Geschichtslehrerin ist das ihre Hauptaufgabe:

"Wir haben Bilder von Atatürk in unseren Wohnungen. Und wenn ein Kind zum Beispiel zwei Jahre alt wird, dann bringen wir ihm bei "Atatürk" zu sagen, oder Mustafa Kemal Atatürk. Wir bringen ihm bei zu sagen, dass er unser Land gerettet hat. Denn das ist unsere Aufgabe, unsere Schuld ihm gegenüber. Wenn das Kind dann zur Schule kommt, lernt es Atatürks Namen zu schreiben – und Atatürk ist eines der ersten Wörter, das es lesen kann."

Die Kapitelnamen des Buches in Asyses Hand heißen "Atatürks Leben", "Atatürks Charaktereigenschaften" oder "Atatürks Prinzipien". Fast alles, was die Schüler der 6., 7. und 8.Klasse im Geschichtsunterricht lernen, hat einen Bezug zu Atatürk. Und genauso, findet Ayse, sollte es auch sein:

"Die Weltgeschichte oder die europäische Geschichte kann ein Schüler immer noch lernen, wenn er auf die Universität geht. Aber zuerst sollte er seine eigene Geschichte kennen. Es wäre doch komisch, wenn jemand versucht die Geschichte anderer Länder lernt, bevor er seine eigene kennt."

Was in der Schule beginnt, zieht sich durch das gesamte Bildungssystem der Türkei. Jede Universität muss ein Zentrum zum Studium von Atatürks Revolution einrichten. Kein Student, egal ob Mediziner oder BWLer, kann sein Studium abschließen, ohne in diesem Fach eine Prüfung bestanden zu haben. Atatürk ist das Rückgrat des türkischen Bildungssystems. Einige wenige Geschichtslehrer beklagen sich hinter vorgehaltener Hand, dass für Themen wie die Französische Revolution oder das Mittelalter keine Zeit bleibt, auch die Kurden werden in keinem türkischen Schulbuch erwähnt. Laut aussprechen würde solche Klagen jedoch niemand.

Denn dafür, dass alles bleibt, wie es ist, sorgt das Gesetz: Paragraph 5816 des türkischen Strafgesetzbuches droht jedem, der Atatürk beleidigt oder verunglimpft, mit bis zu dreijährigen Gefängnisstrafen. Wer eine Statue beschädigt, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Auch dem Online-Videoportal Youtube wurde der Schutz Atatürks zum Verhängnis: Weil jemand ein Video hochgeladen hatte, indem ein grell geschminkter Atatürk in Unterwäsche über den Bildschirm tanzt, verbot die türkische Regierung die Plattform 2007 kurzerhand.

Die strenge Erziehung sowie die noch strengeren Gesetze sorgen dafür, dass Kritik an der Rolle Atatürks gar nicht erst aufkommt. Und dennoch wäre es falsch zu glauben, dass junge Türken das Erbe ihres Republikgründers nur durch Zwang hochhalten!

Wieder stehen uniformierte Kinder aufgereiht vor einer riesigen stählernen Atatürk-Statue. Diesmal nicht auf dem Schulhof, sondern am Bosporusufer im asiatischen Stadtteil Kadiköy. Die Bezirksverwaltung hat sie antreten lassen, gefeiert wird das 87-jährige Bestehen der Republik. Die Kinder entzünden symbolisch eine Fackel, Frauen in kurzen Röcken, die Haare streng zum Dutt zurückgebunden, halten Lobes-Reden auf den Staatsgründer. Durch und durch verkörpern sie westliches Auftreten und Säkularität – ganz so, wie Atatürk es immer für sein Land wollte ...

Auch Barbaros Dincer hat seine gesamte Schulzeit über an solchen Zeremonien teilgenommen. Heute müsste er das eigentlich nicht mehr – doch nun kommt er freiwillig! Der 26-Jährige ist seit 5 Jahren Mitglied der Jugendorganisation der Republikanischen Volkspartei, CHP, der Partei Atatürks. Seit einem Jahr ist er ihr Generalsekretär in Istanbul. Jede Minute, die ihm neben seinem Studium an der Istanbul-Universität bleibt, investiert er in sein Amt:

"Ja, wir verbringen viel Zeit damit, aber es macht mich auch glücklich. Ich glaube, dass wir etwas verändern können. Wenn wir in einer besseren Welt leben können, dann ist es kein Problem für mich, Zeit dafür zu investieren. Wenn wir unsere Aktionen planen, dann sind wir immer wieder beeindruckt von Atatürks Gedanken und Ideen. Ich kann sagen, dass er der Bezugspunkt für uns ist."

Genaue Studien oder Zahlen zu glühenden Atatürk-Anhängern wie Barbaros gibt es nicht. Doch es gibt andere Beweise: Allein eine Mustafa-Atatürk-Fanseite der Internetplattform Facebook zählt weit mehr als 2 Mio. Anhänger, daneben gibt es Hunderte weiterer Fanseiten. Sie tragen Namen wie "Unserem Führer, der der Welt fehlt" oder "Ich sterbe für Atatürk". 18-jährige Mädchen schreiben dort Liebesbriefen ähnelnde Gedichte für den Republikgründer, andere entschuldigen sich bei ihm dafür, dass seit neuestem das Kopftuch an türkischen Universitäten erlaubt ist ... Und auch die Zahlen, die Jungpolitiker Barbaros liefert, sprechen für sich:

"Allein in Istanbul haben wir zwischen 20 und 25 Tausend junge Mitglieder. Und verstreut über die ganze Türkei hat die Jugendabteilung der CHP über 100.000 Mitglieder! Wir, als die Jugend der CHP, könnten zahlenmäßig die sechstgrößte Partei der Türkei stellen!"

Die herausragende Rolle Atatürks auch 72 Jahre nach seinem Tod, scheint allein damit, dass sein Porträt in jedem Schulbuch abgedruckt ist, nicht erklärbar. Ganz im Gegenteil: die Allgegenwart seiner Person, seiner Bilder und seiner Zitate könnte ja auch eine Gegenreaktion bei jungen Türken hervorrufen. Doch das ist wohl nur in Ausnahmefällen der Fall.

Harry Tzimitras lehrt Politikwissenschaften an der privaten Bilgi-Universität in Istanbul – und er ist Grieche! "Das sorgt für eine gesunde Distanz", sagt er und die Augen hinter den runden Brillengläsern funkeln vor Vergnügen. Das morgendliche Antreten, das Hymnensingen und stramm stehen, kennt auch er noch gut aus seiner Kindheit im Athen der 60-er und 70-er. Heute aber, sagt er, ist der Unterschied zwischen der Türkei und Griechenland in dieser Beziehung groß. Die Verehrung, die türkische Jugendliche Atatürk – oder dem Großen Führer, wie Tzimitras ihn schmunzelnd nennt – dieser Tage entgegenbringen, erklärt er mit ihrer Suche nach Orientierung. Der rasche Aufstieg einer islamischen Partei – der AKP von Ministerpräsiden Recep Tayyip Erdogan – hat auch in der Türkei viele Menschen verunsichert, so Tzimitras:

"Denn zum ersten Mal hat die Türkei dadurch im letzten Jahrzehnt eine völlig neue Realität erlebt, einen Aufbruch vom klassischen Modell der letzten 75 Jahre. Das war offensichtlich etwas Neues für die Jugend, die sehen, wie die Welt, in der sie aufgewachsen sind, dekonstruiert wird. Weil die Türkei sich so radikal verändert, sowohl innenpolitisch als auch international. Da scheint das Festhalten an dem, was sie kennen, den jungen Leuten als Quelle von Stabilität zu dienen."

Die Türkei, sagt Tzimitras, befindet sich auf einer Art Selbstfindungstrip: Welche Rolle spielt der Islam in der säkularen Republik, rückt das Land langfristig eher in Richtung arabisch-islamischer Welt, oder doch – wie es Atatürks Ziel war – nach Europa? Wie soll mit den vielen Minderheiten im Land umgegangen werden, dem ungelösten Kurdenkonflikt, dem Nachbarland Armenien...? Und auch sozial ist das Land alles andere als geeint. Da sind die Religiösen und die Säkularen, da sind die Eliten in den Städten und die Massen auf dem Land, da sind die Multimillionäre und die anatolischen Bauern ...

Tzimitras: "Was der 'Atatürkismus' geschafft hat, war, als eine Art Kleber zu dienen zwischen all diesen unterschiedlichen Menschen in der Türkei. Ich meine nicht die ethnische Gruppen, sondern die vielen unterschiedlichen sozialen Gruppen, als einen Staat zusammen zu halten."

Tzimitras lässt eine Mini-Atatürk-Büste durch die Finger gleiten, die auf seinem Schreibtisch steht. Ein Geschenk des Kultusministeriums ... Atatürk, sagt er, hat damit hat auch acht Jahrzehnte nach seinem Tod noch eine Funktion in der türkischen Gesellschaft ... Doch nun plötzlich ist da eine Alternative: Recep Tayyip Erdogan und seine AKP, die innerhalb weniger Jahre Millionen hinter sich gebracht haben und eine neue Orientierungshilfe bieten. Und so ist Atatürk nun häufig nicht mehr der "Kleber", der die türkische Gesellschaft zusammenhält, sondern stattdessen Symbol derer, die den Aufstieg des islamischen Erdogan fürchten. Atatürk, dessen Maxime es war, die Religion aus der Politik herauszuhalten, gilt heute vielen als die letzte Bastion gegen den Islamismus.

Dass diese Angst auch viele türkische Jugendliche umtreibt, zeigen nicht nur die Atatürk-Fanclubs im Internet: Tattoo-Studios in Istanbul, melden seit einiger Zeit einen rekordverdächtigen Ansturm von jungen Kunden, die immer den gleichen Wunsch haben: ein Atatürk-Tattoo, erzählt Studio-Besitzer Hüseyin:

"Wir haben eine besondere Aktion am 10 November: Für die ersten 50 Kunden ist das Tattoo von Atatürks Unterschrift gratis! Besonders Jugendliche zwischen vierzehn und siebzehn fragen danach. Das Land, in dem sie leben wurde ihnen von Atatürk hinterlassen, da kann man sein Tattoo doch mit Stolz tragen."

Hüseyin – selbst an beiden Armen unzählige Male tätowiert – sitzt mit einem Kunden auf der knallroten Couch in seinem Studio, und blättert durch einen Ordner mit Atatürk-Tattoos. Da sind Porträts im Profil und von vorn, da ist die berühmte Unterschrift, da sind Bilder vom General Atatürk in Uniform und zu Pferd. Für Kunde Akin, 26, ist es das erste Tattoo – und wohl auch das letzte. Eigentlich ist er nicht der Typ für Tattoos, er, der BWL-Student. Aber bei Atatürk ist alles anders:
"Vielleicht ist der Grund der Fanatismus, von dem doch ein bisschen in jedem von uns steckt ... Etwas zu tragen, was du unterstützt und wofür du brennst. Aber etwas, das man nur ansteckt oder trägt wie eine Uhr, ein Armband oder so, das wird nicht wirklich Teil von einem. Nur, wenn es wirklich im Körper ist, dann ist es Teil von dir, ein Spiegel deiner Seele."

Wo es denn hin soll, das Tattoo, fragt Tätowierer Hüseyin. Akin überlegt nicht lange: Auf den Oberarm. Wenn er ein T-Shirt trägt, soll es jeder sehen. Hüseyin nickt. Das ist allen wichtig, die wegen Atatürk kommen, sagt er. 90 Prozent entscheiden sich am Ende für die Unterschrift des Republikgründers auf der Innenseite ihres Unterarms. Doch sein Unterarm, sagt Akin, ist ihm zu klein für das, was er sich vorstellt:

"Warum soll ich es haben, wenn man es nicht sehen kann? Der Grund ist ein bisschen politisch: In den letzten acht Jahren findet eine Polarisierung in der Türkei statt. Diejenigen, die ich nicht als echte Atatürk-Anhänger bezeichnen würde, sehen sich plötzlich als Führer im Land. Sie denken, dass alles unter ihrem Monopol steht und dass niemand sie aufhalten kann. Aber wir Atatürk-Anhänger sind gegen sie – und ich möchte, dass sie das spüren!"