Die Entdeckung der Kindheit in der Musik der Romantik
28:17 Minuten
Im 19. Jahrhundert steigt die Zahl von Notenbüchern für Kinder stark an. An die 800 verschiedene Alben drängen auf den Musikalienmarkt. Das musikalisch gebildete Kind wird zum Statussymbol einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht.
Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sahen viele im Kind vor allem einen unvollkommenen Erwachsenen, einen jungen Menschen, den es möglichst schnell in die Welt der Großen einzugliedern galt. Der Tenor damaliger Erziehungsratgeber lautete, den Willen des Kindes zu brechen, um ihm die Vorstellungen der Eltern einzutrichtern.
Wie im Keim einer Pflanze
Erst allmählich setzte sich unter dem Einfluss des Philosophen Jean-Jacques Rousseau der Gedanke durch, dass das Kind eine eigene Logik hat. Laut Rousseau ist im Kind alles schon wie im Keim einer Pflanze angelegt. Erziehung ist für ihn folglich ein behutsames Wachsenlassen der kindlichen Anlagen. In seinem Erziehungsroman "Emile" plädiert Rousseau für eine freie und behutsame Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes. Mit dem Erscheinen seines Buches im Jahre 1762 datieren viele Historiker den Anbruch einer neuen Ära. Kindheit wird nun nicht mehr als Vorstufe zum Erwachsenendasein, sondern als eine eigenständige Lebensphase betrachtet.
Auch soziale Veränderungen begünstigen die Hinwendung zum Kind. Mit der beginnenden Industrialisierung löst sich die alte große Hausgemeinschaft mit einer Vielzahl von Verwandten und Angestellten auf. Die Familie formiert sich nun ums Kind, und nach und nach beginnt man, in den Bürgerhäusern Kinderzimmer einzurichten. Kleine Möbel und Spielzeug gehören bald genauso zum Alltag der Kinder wie eine bequeme Kleidung. Auch die Komponisten gehen nun stärker auf die Welt des Kindes ein.
Musizierendes Kind als Statussymbol
Die Stücke tragen meist Titel, die aus der Lebenswelt der Kinder stammen: Spielzeug, Bräuche des Familienlebens und Märchengestalten finden sich darin wieder. Mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung des Bürgertums wächst im 19. Jahrhundert das Interesse an Bildung, wobei man der Musik einen besonderen Stellenwert einräumt: Das musikalisch gebildete Kind wird zum Statussymbol einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht. Nicht nur der künstlerischen Ausbildung des Kindes wird mehr Aufmerksamkeit als zuvor zuteil, sondern dem Kind und seiner spezifischen Erlebnisfähigkeit überhaupt.
Liedsammlung "Des Knaben Wunderhorn"
Im Jahre 1808 erschienen erstmals mit dem dritten Band der von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebenen Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" Gedichte und Lieder, die ausdrücklich für kleinere Kinder bestimmt waren. Hatte man in der Aufklärung der Phantasie des Kindes noch keinen großen Stellenwert eingeräumt, so wird diese nun zu einem wesentlichen Bestandteil der Erziehung. "Des Knaben Wunderhorn" löste eine starke Resonanz aus und regte Komponisten wie Robert Schumann und Gustav Mahler zu Vertonungen an.
Für das Kind im Erwachsenen
Bezeichnend ist, dass die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" zunächst gar nicht für Kinder gesammelt wurden, sondern für Erwachsene. So suchte der Romantiker stets auch nach dem Kind in sich selbst. In dieser Sehnsucht nach dem Kindlichen liegt die Hoffnung nach einer Erlösung aus der "faden Prosa" des Alltags. Frauen und Kinder sollen einen Ruhepol zur konkurrenzbetonten Erwerbssphäre des Mannes bilden.
Kindlichkeit wird nun Mode, eine Mode, die Männern und besonders gut Frauen zu Gesicht steht. Auch vor dem Alter macht sie nicht Halt. Fand man zuvor nichts peinlicher als einen "jugendlich brausenden Greisenkopf", so entdecken die Romantiker nun das antike Vorbild des "puer senex", des "alten Kindes" wieder. Dichter wie Novalis und Ludwig Tieck sehen im Kind einen Repräsentanten des goldenen Zeitalters. Und für Friedrich Hölderlin, Jean Paul und Dorothea Schlegel sind die Kleinen "göttliche, himmlische" Wesen, weil sie nahe bei Gott stehen.
Das Kind, der bessere Mensch
Das Kindheitsbild der Romantik speist sich aus Ideen Rousseaus: Das Kind sei der bessere Mensch, ein Wesen, das im moralischen Sinne von sich aus gut ist. Das Kind lebt - laut Rousseau - in einem arkadischen Paradies und ist frei von den Deformationen der Welt der Erwachsenen.