Niels Annen, geboren 1973 in Hamburg, seit 1989 SPD-Mitglied, 2001-2004 Bundesvorsitzender der Jusos, 2005-2009 und seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit März 2018 parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt.
Die "gefährlichen Klassen" sind zurück
Im zweiten Teil unserer Marx-Reihe treffen der SPD-Politiker Niels Annen und der Publizist Thomas Steinfeld aufeinander. Einig sind sie sich darin, dass Marx als Analytiker heute noch aktuell sei - er habe die Instrumente für die Analyse des Kapitalismus geliefert.
Marx trifft auf Politik – in unserer Reihe zur Aktualität des Denkens von Karl Marx ist diesmal die SPD gefragt. Der Sozialdemokrat Niels Annen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, und der Journalist und Publizist Thomas Steinfeld diskutieren über Gerechtigkeit, Gleichheit und Ausbeutung – bei Marx und in unserer Gesellschaft. Und kommen zu dem Schluss: Der Analytiker Karl Marx ist heute aktueller denn je.
Deutschlandfunk Kultur: Herzlich willkommen zu diesem Tacheles. Die SPD als Partei verbindet ja eine lange und, ich glaube, man kann sagen, ambivalente Geschichte mit Karl Marx. Sie, Herr Annen, haben als ehemaliger Bundesvorsitzender der Jusos natürlich Ihren Marx gelesen. Was meinen Sie? Warum lohnt es sich heute, sich mit seinen Gedanken zu befassen?
Niels Annen: Ja, ich glaube, dass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit Karl Marx zu befassen. Im Grunde genommen diskutiert die Gesellschaft darüber, welche Auswirkung die Digitalisierung auf die Art und Weise haben wird, wie wir wirtschaften und leben. Man kann es auch anders ausdrücken: Der Kapitalismus geht in eine neue Phase. Und wir haben eigentlich zu wenige Denker, die diese Natur unserer wirtschaftlichen Dynamik analysieren und uns vielleicht auch etwas darüber sagen können.
Insofern habe ich den Eindruck, der Karl Marx des Kommunistischen Manifestes mit einer kommunistischen Vision für die Gesellschaft, über den wird nicht mehr allzu viel diskutiert. Aber der Karl Marx als Analytiker, der Karl Marx, der uns die Instrumente auch für die Gesellschaftsanalyse und der Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge liefert, der ist aktueller denn je. Deswegen finden diese Diskussionen ja auch statt. Das ist, glaube ich, nicht nur ein Rückblick auf 200 Jahre, sondern es ist eine hochaktuelle Debatte. Und ich habe den Eindruck, nicht nur Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lesen heute wieder Marx, sondern auch der eine oder andere in der Vorstandsetage, der es vielleicht aber nicht öffentlich zugeben würde.
Es fehlt an Wissen über die Grundlagen der Wirtschaft
Deutschlandfunk Kultur: Und auch der eine oder andere im Feuilleton, wie Thomas Steinfeld. Sie haben ein ganzes Buch jetzt über Karl Marx geschrieben und veröffentlicht, Herr Steinfeld, und ich nehme an, auch bei Ihnen nicht nur aus historischem Interesse.
Thomas Steinfeld: Nein, keineswegs nur aus historischem Interesse. Ich möchte zunächst einmal sagen, dass ich das, was Herr Annen gerade gesagt hat, eigentlich ganz richtig finde. Wir leben in einer Welt, in der es keine oder viel zu wenig Auseinandersetzung gibt um die Grundlagen, um die Bestandteile dessen, woraus diese Welt eigentlich besteht. Was ist eigentlich Wirtschaft? Was ist Geld? Was ist Ware? Was sind Dinge, die das tägliche Dasein bestimmen? Und es gibt viel zu wenig Wissen darüber, wie diese Dinge beschaffen sind, woher die kommen und welche Bewegungsrichtung sie einnehmen.
Dafür, dass ich mich irgendwann mit Marx beschäftigt habe, dafür gibt's eine ganze Reihe von Gründen. Einmal, dass er mich ein ganzes Leben lang begleitet, seit dem Grundstudium. Dann gibt's zeitungsspezifisch auch noch ein paar Entwicklungen, die hier ganz entscheidend waren. Entscheidend war das Jahr 2008. Das Feuilleton ist immer zuständig in der Zeitung, auch in einer großen Zeitung - die Süddeutsche ist eine relativ große Zeitung -, für das Luftige, für das Phantastische, für das Fiktive, für das Verantwortungslose. Das hat mich immer geärgert und immer genervt. Deswegen habe ich mich aus dem Feuilleton heraus immer fürs Ökonomische interessiert.
Und 2008 schlug die große Stunde, in der ich sagen konnte: Was soll denn der Quatsch? Für die Fiktion ist die Wirtschaft zuständig und nicht ich! (Lachen)
Verteilungsgerechtigkeit oder Chancengerechtigkeit?
Deutschlandfunk Kultur: Grundlagen fehlen, Herr Steinfeld, sagen Sie. Dann lassen Sie uns mal ein paar grundlegende Begriffe und Ideen diskutieren.
Ein zentraler Wert für die SPD auf jeden Fall, Herr Annen, ist ja die Gerechtigkeit. Martin Schulz ist den letzten Wahlkampf gezogen mit dem Slogan: "Zeit für mehr Gerechtigkeit." – Welche Art von Gerechtigkeit vertritt die SPD?
Niels Annen: Ich glaube, auch da ist ja Karl Marx durchaus aktuell. Denn wenn man sich die marxistische Analyse anschaut, dann muss man sagen: Die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel, die Frage, wer eigentlich die gesellschaftliche Macht in Händen hält, die hängt heute auch nach wie vor sehr stark von der Struktur unserer Wirtschaftsordnung ab.
Ich komme aus Hamburg, wir diskutieren gerade in einer sehr reichen, sehr schönen Stadt, die einen großen Wohlstand sich erarbeitet hat, aber die Chancen sind ungerecht verteilt. Selbst in einer so reichen Stadt wie Hamburg gibt es Menschen, die aufgrund von familiären Verhältnissen, weil sie aus einer ärmeren Schicht kommen, weniger Möglichkeiten haben. Und ich glaube, dass wir darüber reden müssen.
Das heißt, der Staat, der die Dienstleistungen, auch die sozialstaatlichen Absicherungen gewährleistet, der muss in die Lage versetzt werden, seine Arbeit zu tun. Das geht im Moment besser, als es noch vor ein paar Jahren ging, weil wir gute Steuereinnahmen haben, weil wir eine robuste wirtschaftliche Situation haben. Das kann sich aber ändern. Es ist kein Naturgesetz. Deswegen glaube ich nach wie vor, dass es für eine Gesellschaft nicht gut ist, wenn es oben eine immer kleinere Gruppe gibt, die Millionen und Milliarden verdient, die in keinem Zusammenhang mehr stehen zu dem, was sie leisten, und es auf der anderen Seite in der Gesellschaft, selbst in einer reichen Gesellschaft Bereiche gibt, die eigentlich keinen Zugang haben zu dem, was wir alle für selbstverständlich erachten.
Und wenn es keine Partei gibt, die sich darum kümmert, die realistische Alternativen erarbeitet und sich dafür einsetzt, dann wird es in einer Gesellschaft schwierig. Und das können wir in anderen Bereichen - auch in Europa - sehen, was das für den Zusammenhalt bedeutet.
Gerechtigkeit bei Marx "etwas Diffuses"
Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja so ein diffuses Grundgefühl, was viele spontan haben. Der eine verdient Millionen im Jahr, Sie haben das gerade angesprochen, und die anderen bekommen kaum das, was zum Lebensunterhalt nötig ist. Da sagt man spontan, das ist ungerecht. Sie haben gleich auf die Chancen verwiesen bei dem Begriff Gerechtigkeit.
Nochmal die Frage zur Gerechtigkeit, oder vielleicht auch an Sie, Herr Steinfeld, die Frage, welche Art von Gerechtigkeit – falls überhaupt - Karl Marx vertreten hat. Es gibt ja verschiedene Auffassungen. Man kann sagen: Gerechtigkeit heißt, alle bekommen dasselbe. Oder Gerechtigkeit ist: Jeder bekommt…
Thomas Steinfeld: … das Seine.
Deutschlandfunk Kultur: … das, was er oder sie braucht.
Niels Annen: Karl Marx hat ja auch gesagt, "jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen". Ich habe Marx aber – der Experte sitzt neben mir - nie so verstanden, dass es dabei darum geht, dass jeder das Gleiche hat. Menschen sind ja auch unterschiedlich.
Deutschlandfunk Kultur: Also, die SPD vertritt nicht diese Auffassung von Gerechtigkeit.
Niels Annen: Ich jedenfalls nicht.
Thomas Steinfeld: Die Kategorie der Gerechtigkeit, wenn ich das eben aus meiner Marx-Lektüre nachtragen darf, ist ja für Marx etwas Diffuses und da ist er überhaupt nicht konsistent. Auf der einen Seite existiert natürlich so etwas wie Gerechtigkeit, wenn er versucht, den Warenwert auszurechnen und auf das Maß der Arbeit kommt, die nicht bezahlt wird, wovon dann der Unternehmer lebt. Da ist durchaus ein Sinn von 'hier stimmt was nicht und das ist Ausbeutung und das gehört wenigstens ausgeglichen'.
Auf der anderen Seite glaube ich, dass seine Gesellschaftsvorstellungen, vor allem die Vorstellung, die er hat vom Umsturz, überhaupt nicht an Gerechtigkeit orientiert sind. Er will der Arbeiterklasse zum Sieg verhelfen. Da sind etliche Ungerechtigkeiten eingeschlossen. Man darf, glaube ich, auch nicht durcheinanderbringen, Gerechtigkeit und Gleichheit sind zwei verschiedene Dinge.
Gleichheit ist für Marx auch etwas Ambivalentes. Auf der einen Seite braucht es die Gleichheit in der Auseinandersetzung mit der Aristokratie und dem herrschenden Bürgertum. Auf der anderen Seite ist aber Gleichheit eine Voraussetzung von kapitalistischer Konkurrenz. Also, wer als Ware konkurriert und mit Waren konkurriert, kann nicht anders, als sich den anderen Marktteilnehmern als Gleicher gegenüber zu verhalten. Also, man stützt und stürzt das System gleichzeitig. Und das sind schwierige Verhältnisse.
Gleichheit gab es auch in der DDR nicht
Deutschlandfunk Kultur: Es ist schön, dass Sie darauf hinweisen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit mitnichten dasselbe sind. Ich habe mir mal das aktuelle Grundsatzprogramm der SPD daraufhin durchgelesen. Das ist das so genannte Hamburger Programm, in dieser reichen Stadt Hamburg beschlossen worden im Jahr 2007.
Niels Annen: In der das Kapital herausgegeben wurde! (Lachen)
Deutschlandfunk Kultur: Eine historische Stadt.
Darin (im Grundsatzprogramm) wird die Losung der Französischen Revolution zitiert, paraphrasiert: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit." Und die SPD macht dann so eine kleine Bewegung, nämlich macht sie aus der Gleichheit die Gerechtigkeit. Nun ist ja die Frage, was darin eingeschlossen ist, denn es ist ja so eine Sache mit der Gleichheit. Ich glaube, Herr Steinfeld, Sie in Ihrem Buch verweisen auch darauf: Wenn wir ungleiche Menschen gleich behandeln, dann kommt am Ende nur noch mehr Ungleichheit heraus und keine Gleichheit.
Niels Annen: Es gibt einen, ich glaube auch historischen Disput. Der hat ja am Ende auch mit zur Spaltung der Arbeiterbewegung beigetragen. Die SPD hat sich für einen demokratischen Weg entschieden und das kommunistische Experiment, da ist man sich, glaube ich, heute doch weitestgehend einig, ist doch gescheitert, auch mit dem Versuch, sozusagen Gleichheit von oben durch eine Form der Diktatur quasi zu verordnen. Wenn man hinter die Kulissen geschaut hat, gab es auch in der DDR ja keine Gleichheit. Von dieser Vorstellung einer Gesellschaft der Gleichen haben wir uns verabschiedet, aber nicht von der Vorstellung einer…
Deutschlandfunk Kultur: Ich glaube schon, dass man festhalten kann, dass in der DDR die Ungleichheit wesentlich geringer war als im heutigen Deutschland.
Niels Annen: Das will ich nicht bestreiten, aber es hat nicht gerade zur Legitimation des Systems beigetragen, dass gerade eine Gesellschaft, die von sich behauptet, eine entwickelte sozialistische Gesellschaft gewesen zu sein, dann diese Form von Privilegien ja auch unterhalten hat.
Aber es geht aus meiner Sicht schon darum, dass wir gleiche Chancen brauchen. Das bleibt möglicherweise auch eine Illusion oder eine Vision, aber eine, zu der ich mich bekenne. Ich denke auch manchmal, uns fehlen die großen Debatten, auch in der SPD. Als ich eingetreten bin mit 16 Jahren, da musste man Theoriediskussionen führen. Da konnte man gar nichts werden bei den Jusos, wenn man nicht mit marxistischem Vokabular vertraut war. Das war manchmal auch ein bisschen absurd, aber es hat dazu beigetragen, dass Generationen von Politikerinnen und Politikern, die heute auch Verantwortung tragen, sich mit den Grundelementen der politischen Ökonomie auseinandergesetzt haben. Das fehlt uns ein bisschen.
Gleichzeitig entscheidet sich aber Politik vor Ort. Ob wir es schaffen, Kinderbetreuung kostenfrei anzubieten, ob wir einen vernünftigen ÖPNV haben, ob das Bildungssystem durchlässig ist. Da wollen die Leute von uns keine großen Reden hören, aber am Ende gehört beides zusammen. Und deswegen finde ich diese Diskussion auch sehr vernünftig und anregend.
Für eine Politik der zweiten, dritten, vierten Chance
Deutschlandfunk Kultur: Aber da liegt der Teufel dann wieder im Detail. Die Frage ist ja: Wer profitiert von einer kostenlosen Kinderbetreuung tatsächlich am meisten? Das sind ja im Allgemeinen diejenigen, die dafür den vollen Satz zahlen müssen, also die gut und besser Verdienenden, und nicht diejenigen, die ohnehin wenig Geld haben, weil die meist auch wenig zahlen.
Mich wundert aber, Herr Annen, weil Sie gerade auf Ihr theoretisches Studium verwiesen haben, Sie bleiben ja doch bei der Gleichheit und bei der Gerechtigkeit immer bei den Chancen. Und dann ist sozusagen jeder seines Glückes Schmied?
Niels Annen: Nein. Ich glaube, das wäre ein Missverständnis. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, 'es gibt am Anfang die Chancen für alle, und wer sie nicht nutzt, hat Pech gehabt'. Ich glaube schon, dass eine Partei wie die SPD eine Politik betreiben muss, bei der man auch eine zweite, eine dritte, vielleicht auch eine vierte Chance bekommt. Das sieht man ja auch in den Diskussionen beispielsweise über das Bildungssystem, über die Hilfsstrukturen, die wir anbieten im Bereich des Arbeitsmarktes, dass wir dafür sorgen müssen in Deutschland, dass es keine Schülerinnen und Schüler mehr gibt zum Beispiel, die ohne Schulabschluss von der Schule gehen, dass man denjenigen hilft, die Probleme haben, dass man immer wieder auch Angebote macht.
Nur, was wir nicht ersetzen können, ist am Ende eine Entscheidung, die jeder Bürger, jede Bürgerin für sich selber treffen muss. Deswegen kann es am Ende auch keine Arbeitsplatzgarantie geben wie im realsozialistischen System. Da kann ich auch niemandem versprechen, dass er oder sie am Ende den Beruf ergreifen wird oder die Chancen ergreifen wird. Aber ich bin nicht der Meinung, dass wir am Anfang einmal sagen, alle haben die gleichen Chancen und der eine kommt aus einem Professorenhaushalt und der andere aus einer Hartz-IV-Familie. Und wenn diejenigen aus der Hartz-IV-Familie die Chance nicht ergreifen, haben sie Pech gehabt. Das ist nicht meine Vorstellung von Gesellschaft.
Thomas Steinfeld: Großes Thema. Aber was ich erstmal richtig finde, ist, dass hier doch durchklingt, dass so etwas wie Klassen nach wie vor existiert. Das war ja jahrzehntelang, sagen wir mal, zumindest umstritten, gerade in der Bundesrepublik, ob die Bundesrepublik noch eine Klassengesellschaft ist. Natürlich ist sie das! Und das schließt ein gerüttelt Maß von Ausbeutung ein.
Und wir leben ja mittlerweile in einer Welt, die man nur noch bedingt nationalstaatlich betrachten kann. Zu dieser Welt gehört der Umstand, dass große Teile der ehemaligen Arbeiterklasse mittlerweile auf fernen Kontinenten sich befinden und dort ein Proletariat in einer Form weiter existiert, wie es das bei uns nicht mehr gibt. Das kann man als Privileg betrachten. Das kann man aber auch als Fortexistieren der kapitalistischen Gesellschaftsordnung betrachten. Und das kann man auch als Beleg dafür betrachten, dass der alte Marx seine Aktualität nicht verloren hat.
Das Primat des Politischen muss man sich leisten können
Deutschlandfunk Kultur: Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton hat ja einen Wahlkampf geführt mit dem berühmt gewordenen Slogan: "It's the economy, stupid!" Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf. Die SPD hingegen beharrt in ihrem Grundsatzprogramm auf dem "Primat des Politischen über die Ökonomie". Das ist aus marxistischer Sicht ziemlich naiv, oder?
Thomas Steinfeld: Ich weiß nicht, ob naiv dafür das richtige Wort ist. Ich glaube nicht, dass man die Dinge so trennen kann. Schauen Sie, in einem Land wie der Bundesrepublik existiert natürlich auch ein Primat des Politischen. Aber dieser Primat des Politischen existiert auch deswegen, weil man sich das ökonomisch leisten kann – und umgekehrt.
Deutschlandfunk Kultur: Das würden aber viele auch bestreiten, dass ein Primat des Politischen herrscht.
Thomas Steinfeld: Nun ja. Ein viel deutlicheres Beispiel ist: Ich verbringe ja einen großen Teil meiner Zeit in Italien. In Italien ist nach dieser Wahl eine Situation eingetreten, in der mehrere Parteien gesagt haben, die politischen Verhältnisse sind uns weitaus wichtiger als die ökonomischen, also stellen wir mal den Euro zur Verfügung. Dafür haben sie sich dann anhören müssen, das ist aber sehr verantwortungslos. Das gibt's durchaus. Solche Bewegungen gibt's auch. Natürlich reagiert man auf solche Bewegungen.
Deutschlandfunk Kultur: Also, wenn wir an die Finanzkrise denken, die Sie vorhin schon angesprochen haben, dann fragt man sich natürlich: War das jetzt ein Primat des Politischen oder ein Primat der Ökonomie, die Banken mit Steuergeldern zu retten?
Niels Annen: Vielleicht darf ich zu Bill Clinton nochmal einen Satz sagen. Ich habe diesen Clinton-Satz immer – ich vereinfach jetzt etwas – so verstanden, dass er gesagt hat: Wenn die Wirtschaft ordentlich brummt, es ausreichend Arbeitsplätze gibt, die Löhne steigen, dann gewinnt man auch eine Wahl in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das müssen die Demokraten verstehen, dass es im Kern um die ökonomische Kompetenz geht.
Daran haben sich viele, auch europäische sozialdemokratische Parteien orientiert, die Labour-Party mit Tony Blair, auch die SPD unter Gerhard Schröder mit den Debatten dritter Weg usw. usf.
Heute denke ich über diesen Satz manchmal nach und frage mich: Stimmt der überhaupt noch? Denn wenn ich mir anschaue, welch dramatische Wahlniederlage die SPD gerade eingefahren hat, wir haben das historisch schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik bekommen, und ich schaue auf die Ökonomie, dann sehe ich sinkende Schulden, steigende Steuereinnahmen, steigende Löhne, steigender Beschäftigungsgrad.
"Es gab noch nie so viel Wohlstand"
Deutschlandfunk Kultur: Und zum ersten Mal die AfD im Bundestag.
Niels Annen: Und natürlich gibt es die Ungerechtigkeiten, über die wir gesprochen haben, und der Reichtum ist ungerecht verteilt. Aber es gab noch nie so viel Beschäftigung. Es gab noch nie so viel Wohlstand. Und trotzdem, da haben Sie gerade zu Recht drauf hingewiesen, haben die traditionellen Parteien, die regiert haben, verloren. Die AfD ist im Bundestag. Wir haben eine völlig neue Diskurslage. Insofern frage ich mich: Ist es wirklich "the economy, stupid" oder sind es nicht auch soziale Themen? Welche Ängste werden artikuliert durch bestimmte Parteien?
Und ist es nicht am Ende dann auch wieder die Frage von Karl Marx nach der ökonomischen Basis? Woher kommt diese Verunsicherung, dass uns Bürgerinnen und Bürger sagen, eigentlich bin ich ganz zufrieden mit meiner Situation, aber ich weiß nicht, bleibt es so?
Thomas Steinfeld: Ich glaube, das hat etwas mit dem Thema zu tun, das wir eingangs entwickelt hatten, und zwar mit der Gerechtigkeit. Also, ich glaube, dass es ein historischer Fehler der Sozialdemokraten war, den Wahlkampf mit der Gerechtigkeit zu führen. Jetzt sage ich was Ketzerisches. Das müssen Sie mir nachher verzeihen. Wenn Marx noch lebte, wenn er noch unter uns wäre und wenn man ihn fragte, was ist eigentlich mit der Sozialdemokratie passiert, dann würde er sagen: Die historische Aufgabe der Sozialdemokratie war die Verwandlung des Proletariats ins Kleinbürgertum. Und als diese Aufgabe erledigt war, verschwand die Sozialdemokratie.
Niels Annen: Gut, dass er nicht mehr dabei ist!
Thomas Steinfeld: Und ich glaube, da liegt ein großer Teil des Problems. Vor allem, was wir jetzt am rechten Rand des politischen Spektrums haben, also in Form von AfD, das sind ja Leute, die sich betrogen fühlen, obwohl sie keinen Grund haben, sich betrogen zu fühlen. Und dieses Gefühl, betrogen worden zu sein, das hat, glaube ich, etwas damit zu tun, dass diese Menschen denken, der Staat sei zu allererst zu ihrer privilegierten Behandlung da. Dass der Staat andere Aufgaben hat, da fehlt ein bisschen staatsbürgerliche Schule.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ich finde da bei Marx auch keine Antwort auf dieses Problem.
Thomas Steinfeld: Sie finden bei Marx überhaupt sehr wenig Antworten, wenn es um das Funktionieren des Staates geht.
Kapital und Wirtschaft werden als Naturkräfte wahrgenommen
Deutschlandfunk Kultur: Denn Sie, Herr Steinfeld, stellen fest, dass heute das Leben jedes einzelnen Menschen wie auch das ganzer Staaten komplett dem Diktat des Geldes unterworfen sei und beklagen, dass es darüber keine Reflektion auf der Höhe dieses Sachverhaltes gibt.
Thomas Steinfeld: Klagen möchte ich eigentlich nicht. Ich möchte eher feststellen. - Wir haben ja ein eigenartiges Verhältnis zur Wirtschaft oder ein eigenartiges Verhältnis zum Kapital. Also, Kapital und Wirtschaft treten uns entgegen, als wären das Naturkräfte. Es gibt keine oder viel zu wenig grundsätzliche Auseinandersetzung damit. Und wir leben in frommen Verhältnissen, radikal frommen Verhältnissen der Wirtschaft gegenüber.
Ich glaube, wer immer ein bisschen Vernunft in diese Gesellschaft bringen möchte, der täte gut daran, diese Geld- und Wirtschaftsfrömmigkeit, na ja, aufzukündigen würde ich nicht sagen, aber mal gründlich infrage zu stellen.
Deutschlandfunk Kultur: Okay...
Niels Annen: Wobei...
Deutschlandfunk Kultur: ...einmal diesen Gedanken zu Ende, der beißt sich dann ja doch mit dem, was eben Herr Annen gerade zu Recht festgestellt hat. Wirtschaftlich geht es den Menschen in Deutschland so gut wie noch nie in der Geschichte. Und trotzdem formiert sich so eine Protestbewegung.
Thomas Steinfeld: Ich glaube nicht, dass man das so isoliert betrachten kann. Das ist im Augenblick so. Und das ist aber so auf Kosten von anderen. Und irgendwann schlagen diese Kosten natürlich auch zurück. Und es wäre dumm, sich die Illusion zu machen, das würde nicht geschehen.
Niels Annen: Der Punkt, wo ich Ihnen zustimmen möchte, ist, dass wir in den letzten Jahren, vielleicht sogar in den letzten Jahrzehnten, uns mehr und mehr angewöhnt haben, die Bedingungen, die auf den internationalen Finanzmärkten herrschen, in der Tat quasi als so etwas wie eine Naturgesetzlichkeit…
Thomas Steinfeld: Wie das Wetter…
Niels Annen: ...zu akzeptieren. Und wir vergessen dabei natürlich, dass ein Teil der heutigen Lage durch politische Entscheidungen erst möglich geworden ist. Es hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Teil dramatische Entscheidungen gegeben in Richtung Deregulierung der internationalen Finanzmärkte. Daran war auch unser Land mit beteiligt. Und wir haben, übrigens unter einer sozialdemokratischen Regierung, sehr bewusste Entscheidungen getroffen, die sogenannte Deutschland AG zu zerschlagen, damit natürlich auch nochmal sozusagen einen Bereich der Wirtschaft den internationalen Finanzmärkten bewusst auszusetzen, sich international konkurrenzfähiger zu machen.
Die Politik hat sich selbst entmächtigt
Und ich glaube auch nicht, dass man alles von dem wird zurückdrehen können. Aber wenn Politik selber einen Teil seiner eigenen Gestaltungsmöglichkeiten dauerhaft aufgibt und das sozusagen zu einem Sektor erklärt, in dem die Politik keinerlei Befugnisse, Einfluss oder Interventionsmöglichkeiten hat, dann nehmen wir uns natürlich selber einen Teil der Gestaltungskraft. Und das macht mir schon große Sorgen, und ich glaube in der Tat, dass wir auch da keine Antwort finden bei Marx, aber schon einige wichtige Hinweise, weil Marx immer jemand war, der internationalistisch, in internationalen Zusammenhängen gedacht hat.
Und meine Partei, die sozialdemokratische Partei und ihre Schwesterparteien, sind eigentlich immer aufgewachsen auch mit dem Stolz, dass wir diesen internationalistischen Blick von Anfang an auch in unserer Politik mit verfolgt haben. Das ist ein bisschen unter die Räder gekommen, ist aber unabhängig von Parteipräferenzen, wenn wir uns einfach anschauen, was heute zu tun ist, wichtiger denn je. Deswegen bleibt Marx für mich auch ein aktueller Denker.
Deutschlandfunk Kultur: Ja. Und das ist auch, wie Herr Steinfeld sagt, ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Denn Herr Steinfeld hat ja gerade auch gesagt, keine Ökonomie heute lässt sich mehr national denken. Und Marx war ein Internationalist.
Thomas Steinfeld: Das Kapital ist nationalstaatlichen Angelegenheiten gegenüber blind.
Deutschlandfunk Kultur: Und der Wohlstand, von dem wir hier alle so profitieren in diesem Land, der Wohlstand der Deutschen wird ja erkauft mit der Ausbeutung von Menschen in anderen Ländern.
Sie haben gerade gesagt, Herr Annen, die Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass sie das immer im Blick gehabt haben. Aber ich habe den Eindruck, dass heutige Politiker entweder machtlos oder desinteressiert sind an diesem Sachverhalt.
Niels Annen: Ach, na ja. Ich müsste jetzt natürlich ein klein bisschen auch mal die Politiker verteidigen.
Deutschlandfunk Kultur: Machen Sie mal.
Niels Annen: Denn ich glaube, das Dilemma, mit dem wir auch auf unterschiedlichen Ebenen konfrontiert sind, ist ja, dass zwischen der Allmacht, die uns manchmal zugeschrieben wird und die wir uns manchmal in Wahlkämpfen auch selber zuschreiben, und dem wahren Einfluss, den wir haben, der ist höher als das, was uns manchmal erzählt wird, aber Politik kann nicht alles lösen, nicht alles alleine regulieren.
Trotzdem, wenn ich an internationale Handelsbeziehungen denke, es war eine Partei im Deutschen Bundestag, nämlich die SPD, die fast bis hin zu Spaltungstendenzen darüber diskutiert hat: Was machen wir mit dem Freihandelsabkommen mit Kanada? Da stand der damalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel vor einer Situation, wo er möglicherweise sogar mit Rücktritt gedroht hat oder vielleicht sogar zurückgetreten wäre.
Ein Teil unseres Wohlstandes basiert auf Ausbeutung
Jetzt will ich nicht sagen, dass das alles perfekt ist, aber wir haben mit dafür gesorgt, dass in ein schon ausgehandeltes Abkommen neue Standards eingeführt wurden, dass wir die Arbeits- und Lebensbedingungen, soziale Verhältnisse mit in den Blick nehmen. Also, da ist nicht alles Gold, was glänzt, aber wir setzen uns mit diesen Fragen auseinander. Das muss mehr werden. Wir sind da nicht am Ende.
Aber ich glaube, dass man schon sagen kann, es gibt einen Teil unseres Wohlstands, der basiert auch weiterhin auf Ausbeutung. Da bin ich Ihrer Meinung. Es gibt aber auch eine Politik in Deutschland, die Sie in vielen anderen Ländern nicht finden, die sich um gerechtere Handelsbeziehungen bemüht, die sich auch um einen Dialog auf Augenhöhe bemüht. Deswegen muss man da immer ein bisschen, finde ich, in der Bewertung dessen, was wir tun, und dessen, was wir tun können, auch die Balance wahren.
Thomas Steinfeld: Es kommt ein wichtiger Aspekt hinzu. Das ist der Finanzmarkt. Finanzmarkt ist sozusagen die Wirtschaft der Wirtschaft. Das ist ein eigenes System, das aber durch alle anderen Systeme durchdringt. Damit haben wir nach 2008 ziemlich radikale Erfahrungen gemacht. Nach wie vor ist es so, dass der nach wie vor so funktioniert, wie er damals funktioniert hat, dass keiner genau weiß, wann die nächste Krise kommt, aber alle wissen, dass sie kommt. Das kann nicht anders sein, denn solche Kapitalmarktkrisen sind Glaubenskrisen. Und wo geglaubt wird, da ist die Krise selbstverständlich auch immer dabei.
Dafür überhaupt ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das ist, glaube ich, nicht geleistet worden. Alle Leute haben die Erfahrung gemacht. Alle Leute haben Angst gehabt, dass nach 2008 irgendwann der Bankautomat kein Geld mehr ausspuckt. Aber passiert ist tatsächlich an diesem Punkt nie etwas.
Die Dynamik der Digitalisierung verstehen
Deutschlandfunk Kultur: Wo wir gerade bei Begriffen sind, Schlüsselbegriffe bei Marx: Arbeit, Kapital wird heute gar nicht mehr so häufig verwandt, und vor allen Dingen ein Begriff, "Entfremdung", ist mir aufgefallen. Ich glaube, wir sprechen heute gar nicht mehr über entfremdete Arbeit. Wir sprechen inzwischen höchstens noch vom Burnout. Das erinnert mich an die historische Aufgabe der SPD, das Proletariat abzuschaffen und das Kleinbürgertum an die Stelle zu setzen.
Niels Annen: Die Frage ist ja ein bisschen, was verstehen wir denn, wenn wir jetzt den Begriff Proletariat nehmen, dann denkt man vielleicht an den Bergarbeiter, den Fabrikarbeiter. Das gibt es übrigens auch immer noch. Das darf man nicht vergessen. Wenn Sie durch die Stadt fahren hier, Sie sehen, dass überall gebaut wird. Es sind Bauarbeiter, die auch immer noch hart körperlich arbeiten. Also, das ist nicht verschwunden. Wir sind auch weiterhin eine industrielle Gesellschaft, in der industrielle Produktion stattfindet.
Aber ich denke, was wir auch intellektuell leisten müssen, ist, einmal überhaupt zu verstehen, welche Dynamik die Digitalisierung für die wirtschaftlichen Zusammenhänge bringt. Frau Nahles hat in ihrer alten Funktion als Arbeitsministerin mal über "digitalen Kapitalismus" geredet. Der Begriff ist jetzt nicht von jedem gleich aufgegriffen worden. Ich glaube, wir sind in der Begriffsbildung auch noch nicht fertig, wenn ich das aufgreifen darf. Aber es gibt sehr wohl so etwas wie ein Proletariat auch dieses digitalen Kapitalismus.
Die SPD war stolz darauf, bestimmte Grundregeln erkämpft zu haben – den Achtstundentag, die Mitbestimmung und andere Dinge. Fragen Sie mal heute bei Menschen, die zum Beispiel selbständig als Webdesigner tätig sind, ob die einen Achtstundentag haben, ob da Grundlagen des Arbeitsschutzes eingehalten werden, ob so etwas wie eine Arbeitsplatzverordnung und andere Dinge, wo es um Sicherheit geht, wo es um Fragen geht, über die die meisten Bürgerinnen und Bürger überhaupt gar nicht mehr nachdenken, weil sie heute selbstverständlich sind, aber irgendwann mal von Gewerkschaften und von Parteien mit erkämpft worden sind.
Das heißt, ich habe den Eindruck, viele der Fragen stellen sich neu. Wir haben es aber noch nicht so richtig gemerkt.
Thomas Steinfeld: Das ist übrigens auch eine Antwort auf Ihre…
Niels Annen: Die Bürger merken das aber, dass wir noch keine Antworten haben.
Freiberufler - das neue Proletariat?
Thomas Steinfeld: Das ist eine Antwort auf Ihre Frage, wo ist eigentlich die Entfremdung geblieben? Also, wenn jeder als Unternehmer seiner selbst auftritt, dann kennt er keine Entfremdung mehr, auch wenn er Webdesigner ist. Und es ist völlig richtig, dass vieles von dem, was früher mal Proletariat war, in diesen freien Berufen aufgegangen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Beziehungsweise das körperlich arbeitende Proletariat haben wir größtenteils ausgelagert in andere Länder.
Thomas Steinfeld: Um jedes halbwegs erfolgreiche Industrieunternehmen herum gibt es eine ganze Korona von Leuten, die freiberuflich arbeiten oder in Minimalfirmen arbeiten. Da herrschen ausbeuterische Verhältnisse, die nicht so heißen und auch nicht so begriffen werden, weil sich jeder Mensch als Ressource seiner selbst betrachtet.
Niels Annen: Und da haben wir ein ähnliches Phänomen wie bei der Debatte über das Kleinbürgertum, dass sich ein Teil des Proletariats ja auch damals eher mit der Bourgeoisie identifiziert hat, weil sie einen bestimmten Habitus imitiert haben, weil sie sich damit identifiziert haben, aber nicht mit der Arbeiterbewegung identifiziert haben. Da gibt es eine interessante Lektüre bei Marx darüber.
Thomas Steinfeld: Und auf der anderen Seite gab es damals bei Marx so etwas wie die "gefährlichen Klassen", also, die nicht im Proletariat aufgingen, sondern irgendwie in der Gosse lebten.
Deutschlandfunk Kultur: Das Lumpenproletariat.
Thomas Steinfeld: Ja. Und irgendwie leben wir in Verhältnissen, in denen die gefährlichen Klassen wieder zurückkehren, white trash, Hartz IV.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das so?
Thomas Steinfeld: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Annen, teilen Sie diese Analyse?
Niels Annen: Ja, wir haben natürlich einen Teil der Gesellschaft, die sich von uns nicht mehr vertreten fühlen und die häufig in den Parteien, da will ich jetzt nicht nur über meine Partei reden, auch nicht präsent sind, weil sie schlicht und ergreifend gar nicht auf die Idee kommen, sich politisch zu engagieren, weil sie dafür keine Zeit haben oder ihnen vielleicht auch andere Voraussetzungen fehlen.
Verachtung für das Lumpenproletariat
Und dieses Phänomen, da bin ich auch dankbar für den Hinweis, ist kein neues Phänomen in der organisierten Arbeiterbewegung. Also, die alten Arbeiterführer haben durchaus mit Verachtung auf das Lumpenproletariat geschaut. Aber wir dürfen den Anspruch nicht aufgeben für die gesamte Gesellschaft, da sind wir wieder bei den gerechten Chancen, zu arbeiten. Und ich glaube, dem Anspruch werden wir zurzeit insgesamt nicht gerecht.
Deutschlandfunk Kultur: Kann ich es so zusammenfassen, dass Karl Marx uns heute noch beschäftigt, weil viele seiner Begriffe und seiner Analysen uns heute noch zu beschäftigen haben, dass wir aber im Grunde genommen einen neuen Karl Marx oder vielleicht auch eine Karla Marx bräuchten, um die treffenden Begriffe auch für unsere Situation zu finden?
Niels Annen: Also, der Experte sitzt ja neben mir. Ich würde mal sagen, dass der Instrumentenkasten, den uns Karl Marx mitgegeben hat, um den Kapitalismus zu analysieren, hoch aktuell ist.
Thomas Steinfeld: Karl Marx ist ein rastloser Denker gewesen. Und zu seiner Rastlosigkeit gehört, dass er nichts von dem oder wenig von dem, was er behauptet hat, nicht revidiert hat. Trotzdem würde ich sagen: Die Grundlagen, die Kategorien, in denen nachgedacht werden muss, die sind einfach da und die sind von ihm exemplarisch vorgedacht worden. Da kann man weiter denken – beim Geld, bei der Ware, beim Kapital.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Steinfeld, Herr Annen, ich danke Ihnen fürs Gespräch.
Niels Annen: Dankeschön.
Thomas Steinfeld: Danke auch.
Thomas Steinfeld, geboren 1954 in Leverkusen, Germanist und Musikwissenschaftler, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, Autor mehrerer Bücher, zuletzt "Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx", erschienen im Hanser Verlag.