Buchtipp:
Kurt Bayertz: "Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie"
C.H. Beck Verlag, 272 Seiten, 24,95 Euro
Was kann die AfD von Marx lernen?
Wiedergewinnung nationaler Souveränität, kulturelle Differenz zum Islam, deutsche Leitkultur: Die Agenda der AfD. Internationalismus, Kommunismus, Kapitalismuskritik: Die Agenda von Karl Marx. Trotzdem haben Marx und die AfD sich etwas zu sagen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Jongen, Politiker der AfD haben sich ein, man könnte sagen, sehr spezifisches Feindbild zurechtgelegt. Jörg Meuthen, ehemaliger Parteivorsitzender, hat mal gesagt: "Wir wollen weg vom link-rot-grün versifften 68er Deutschland." Und Andreas Kalbitz, Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD in Brandenburg, sagte: "Die AfD ist die konservative Revolution gegen 68, gegen das, was unser Land zerstört hat."
Ist denn diese Frontalopposition zu 68, gegen das, was das Land vermeintlich "zerstört" haben soll, auch eine gegen das Denken von Karl Marx, der ja maßgeblich für die 68er Bedeutung gewonnen hatte?
Marx und die 68er - Feindbild für die AfD?
Marc Jongen: Das ist eine sehr interessante und gute Frage, weil man sich ja tatsächlich die Frage stellen kann und muss, ob die sogenannte 68er-Bewegung wirklich so von Karl Marx inspiriert war, wie sie das selbst vorgegeben hat. Das war sie zu einem Teil ganz bestimmt, aber nicht zur Gänze, würde ich sagen.
Es hat einfach auch an einer anderen Sprache damals gefehlt. Man hat für alle Anklagen an die bürgerliche Gesellschaft oder an die Welt, die man vorfand, auf marxsche Begriffe zurückgegriffen, auch dort, wo es vielleicht nicht so angebracht war.
Tatsächlich hat ja auch die 68er-Bewegung das nicht erreicht, was sie ursprünglich wollte, nämlich eine politische Revolution herbeiführen. Aber sie hat sehr wohl eine kulturelle Revolution in Gang gesetzt, von der man, glaube ich, sagen kann, dass sie heute noch wirkt.
Deutschlandfunk Kultur: Emanzipation, Demokratisierung, Teilhabe, Partizipation und so was meinen Sie sicherlich.
Marc Jongen: Ja, das sind ja all die schönen Begriffe, die natürlich verwendet werden von den Protagonisten dieser Bewegung, aber es geht ja natürlich doch noch um die Ziele des sogenannten Kultur-Marxismus, was der Kultur-Marxismus genannt worden ist – mit wieviel Berechtigung, da kann man noch darüber streiten. Aber da geht's natürlich dann um diesen ganzen Komplex der politischen Korrektheit, der Diversity und des Generismus und all dieser Dinge, die meine Parteikollegen da ansprechen, wenn sie von solchen Fehlentwicklungen reden.
Es bedarf einer neuen Ideologiekritik
Und denen gegenüber wäre eine neue Ideologiekritik angebracht, wie sie Marx damals gegenüber der bürgerlichen Ideologie oder der deutschen Ideologie, wie er es damals nannte, ins Feld geführt hat.
Insofern, würde ich sagen, ist Marx für die AfD, für unsere politischen Ziele, eine durchaus ambivalente Figur.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Bayertz, Sie haben ja versucht, in Ihrem Buch Marx als Philosophen zu verstehen und auch vielleicht ein bisschen für die Gegenwart zu retten. Was ist denn für Sie der Kern des marxschen Denkens, der für eine Gegenwartsdiagnose auch mobilisierbar wäre?
Kurt Bayertz: Wenn Sie an Aktualität denken, dann würde ich sagen: Diese Aktualität liegt aus meiner Sicht nicht primär in seinen politischen Vorschlägen, die ja auch im Übrigen sehr zurückhaltend sind.
Was mich interessiert hat, Marx wirklich als Philosophen zu lesen. Er wird ja doch eher als Ökonom oder als Historiker oder als Soziologe wahrgenommen. Ich glaube aber, dass er auch philosophisch einiges zu bieten hat, wenn es darum geht, die philosophischen Grundlagen einer Theorie der Gesellschaft zu ermitteln.
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt das genau? Was könnte man da mobilisieren?
Kurt Bayertz: Also, zum einen gibt es bei Marx sicherlich einen gewissen ethischen Hintergrund. Marx hat das selbst eigentlich gar nicht so wahrhaben wollen. Er hat versucht, seine Theorie moralfrei zu formulieren. Aber es liegt diesem Unternehmen natürlich schon ein moralischer Impetus zugrunde, nämlich der Impetus der Befreiung der Menschen, aller Menschen letztendlich von bestimmten Verhältnissen, die sie unterdrücken oder es schwer machen, glücklich zu werden, um es mal so banal zu sagen.
Kapitalismuskritik als Globalisierungskritik
Da sehe ich zum einen die Aktualität von Marx. Zum anderen hat er das nicht nur sehr allgemein und vage formuliert, wir wollen weg von dem, was uns unglücklich macht, sondern er hat auch ganz klar gesagt, was uns unglücklich macht, nämlich der Kapitalismus. Der Kapitalismus ist zwar nicht die einzige Quelle unseres Unglücks, aber er ist doch eine wesentliche Quelle unseres Unglücks. Daran sollte man sich gelegentlich erinnern.
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt denn das für die AfD als Partei? Gibt es da eine konkrete kapitalismuskritische Sichtweise? Man könnte ja auf der einen Seite sagen, dass Marx, der politische Denker, als Gegenentwurf zur AfD zu denken ist, also Kommunismus, Internationalismus. Aber auf der anderen Seite: der Kapitalismus ist heute viel globaler als er noch zu Zeiten von Marx gewesen ist, sodass man sagen könnte: Steckt da nicht auch ein Kern von Globalisierungskritik drin, die auch vielleicht eine Herausforderung für die AfD sein könnte, Herr Jongen?
Marc Jongen: Absolut. Ich glaube, es ist hier wichtig, daran zu erinnern, dass Marx ja den Anspruch hatte, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und eben das Weltgeschehen nicht von den Ideen her zu denken, sondern von den Produktionsverhältnissen und von den materiellen Verhältnissen. Bei Hegel war schon der Gedanke angelegt, dass die Wahrheit das ist, was sich durchgesetzt hat in der Realität.
Die Aktualität des Materialismus?
Wenn Sie das jetzt ins Materialistische wenden, dann kommen Sie natürlich in eine große Nähe zum Zynismus. Dann ist nämlich das, was wir jetzt praktisch herstellen, die Wahrheit. Wahrheit ist das, was die proletarische Revolution herstellt.
Da ist bei aller Zustimmung, wenn Herr Bayertz sagt, es gibt hier einen moralischen Impetus von Marx, eben auch so eine gefährliche Nähe zum Zynismus festzustellen, die ja nicht umsonst dann auch dazu geführt hat, dass viele Millionen Tote des politisch umgesetzten Marxismus gingen. Ich glaube nicht, dass das im Sinne von Marx gewesen wäre, aber es war doch eben in seinen Gedanken angelegt.
Deutschlandfunk Kultur: Man kann jetzt natürlich die Folgen, die im Marxismus-Leninismus und im Stalinismus sind, diskutieren. Lassen Sie uns mal wirklich bei Marx einen Augenblick bleiben und fragen, was dieser Materialismus eben noch für gegenwartsdiagnostische Kraft entwickeln könnte. Denn Marx ist ja tatsächlich davon ausgegangen, dass es nicht die ideologischen Streitigkeiten oder politischen Streitigkeiten sind, sondern tatsächlich gesellschaftliche Verhältnisse, die er natürlich ändern wollte. Aber vor das Ändern war ja erstmal gesetzt, es zu verstehen, es zu analysieren, wissenschaftlich zu analysieren.
Die Gesellschaft vom Kopf auf die Füße stellen
Herr Bayertz, ist da noch eine Kraft von Marx für die Gegenwart herauszusaugen, sodass man sagen kann, wir leben hier zurzeit in sehr unübersichtlichen Verhältnissen, nicht nur auf der politischen Oberfläche, sondern tatsächlich auch im Hinblick auf die Beschreibung der Gesellschaft, die uns umgibt? Die ist plural, komplex geworden, vielleicht so, dass wir sie noch gar nicht angemessen diskutieren können. Wäre da nicht erstmal sinnvoll, die materiellen Grundlagen wirklich zu verstehen?
Kurt Bayertz: Ja, ich stimme dem vollkommen zu. Herr Jongen hat den Materialismus bei Marx angesprochen. Was heißt Materialismus? Materialismus heißt, auf einer ganz elementaren Ebene doch zunächst mal nur: Es kommt in der Gesellschaft nur sekundär auf das an, was die Leute sagen. Es kommt in erster Linie darauf an, was sie tun. Das ist natürlich eine sehr einfache Beschreibung dessen, was Materialismus ist.
Aber wenn man den Begriff der Produktivkräfte, der bei Marx in der Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, ansieht, dann glaube ich schon, dass auf eine ganz überraschende Weise dieser Begriff auch eine Aktualität in der heutigen Diskussion hat und dass es durchaus in der gegenwärtigen soziologischen, gesellschaftstheoretischen Debatte Anknüpfungspunkte an diesen Begriff gibt – auch bei Theoretikern, die mit Marx überhaupt nichts am Hut haben, wie beispielsweise bei Luhmann, der auch davon ausgeht, dass die Verhältnisse eine zentrale Rolle spielen. Und die muss man analysieren.
Deutschlandfunk Kultur: Also, wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, das ist ja eine Kernthese von Marx, dann müsste das ja auch zum Verständnis des Seins führen, wenn man politische Forderungen hat. Also, wenn man zum Beispiel das aktuelle Wahlprogramm der AfD sich genauer anschaut, da ist im Zentrum eigentlich die Wiederkehr zu nationaler Souveränität. Wenn man dagegen bei Marx in der Kapitalismuskritik nachliest, heißt es: "Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden" – das könnte man heute auch noch sagen, heute noch viel mehr als damals – "und werden noch täglich vernichtet. An die Stelle der lokalen und nationalen Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen untereinander."
Die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen
Das heißt also, hier ist nicht von nationaler Souveränität die Rede, sondern tatsächlich von einer beschreibbaren großen internationalen Verflechtung.
Marc Jongen: Ganz richtig. Deswegen ist es auch schwierig und natürlich auch unmöglich für die AfD, jetzt an Marx einfach nahtlos anzuschließen. Ich meine, dann wären wir nicht die AfD, sondern die Linke.
Sie haben gerade ein Dokument des Marxschen Internationalismus zitiert, das ja schon in dieser Grundkonzeption von Geschichte bei Marx festgelegt ist, nämlich: "alle Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen", sagt er und kommt dann eben zu seiner berühmten Formel im Manifest der Kommunistischen Partei am Schluss: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"
Das heißt, die Träger der künftigen Geschichte, das sind die Proletarier aller Länder. Das ist ein internationaler Menschenverbund. Der ist definiert durch seine ökonomische Stellung – egal in welchem Land der sich jetzt nun aufhält, dieser Proletarier.
Und das heißt, wenn wir jetzt klassisch marxistisch denken, dass die Proletarier oder die unteren Schichten in den islamischen Ländern, in Ägypten, in Arabien sich irgendwann mit denen in Europa, in Amerika usw. solidarisieren und dann diese große Revolution machen. Das denkt heute kaum noch ein Marxist, außer noch vielleicht ein paar Ultralinke.
Und dem stellt sich eine doch bürgerliche Partei wie die AfD natürlich ganz fundamental entgegen, weil sie die primäre Solidargemeinschaft nicht im internationalen Verbund sieht, sondern in einer Kultur.
Deutschlandfunk Kultur: Ich würde im Grunde gerne dagegen halten, aber ich möchte Ihnen erst, Herr Bayertz, das Wort geben.
Kurt Bayertz: Ja. Ich glaube, dass wir uns dieses Zitat, das Sie vorgelesen haben, noch mal genauer anschauen müssen. Marx beschreibt ja da nicht etwas, was er sich wünscht, sondern er beschreibt etwas, was er diagnostiziert. Und Sie haben richtig gesagt, Herr Jantschek, dass das auf die heutige Lage natürlich noch viel besser zutrifft, als auf die Lage von Marx.
Die Kosten der Globalisierung
Es gibt eben eine Globalisierung. Und diese Globalisierung ist ein Prozess, den wir nicht rückgängig machen können. Das hat Marx als einer der Ersten gesehen und diagnostiziert. Ich glaube, das ist eine seiner großen Leistungen. Er war nicht mit allen seinen Diagnosen sehr glücklich, aber mit der hat er ins Schwarze getroffen.
Die zweite Frage ist, weil Herr Jongen eben sagte, der Marxismus oder der Materialismus kann auch zum Zynismus führen: bei Marx nicht! Marx hat zwar diesen Globalisierungsprozess diagnostiziert, er hat aber auch sehr wohl gesehen, dass dieser Prozess mit großen Opfern verbunden ist, dass er zu vielen sozialen, politischen Verwerfungen bis in das Leben des Einzelnen führt.
Und er war der Meinung, dass man diesen Prozess zwar nicht abschaffen kann, aber man kann ihn lenken. Dem sollte eben sein politisches Programm gelten, das wir so natürlich nicht mehr heute fortführen können. Aber das sollte uns zumindest zeigen, wo die Richtung liegt, sich nicht gegen den Strom stellen, sondern den Strom versuchen in die richtigen Bahnen zu lenken.
Deutschlandfunk Kultur: Ich würde bei Marx sogar noch mal einen drauf setzen. Also, erstens: Ferdinand Lassalle hat er dafür ordentlich gerügt, dass er – Lassalle – die soziale Gerechtigkeit, Zitat, "vom engsten nationalen Standpunkt fassen wollte". Das war für ihn gar nicht möglich, und zwar nicht deshalb, weil es irgendein revolutionäres Subjekt namens Proletariat geben könnte, sondern Marx wollte wieder auf der Analyseebene, also auf der Ebene des Verstehens des Seins, keine internationalistischen Sonntagsreden haben, sondern, das schreibt er an einer anderen Stelle, "die internationale Funktion der deutschen Lohnabhängigen in der weltweiten Arbeitsteilung verstehen".
Das heißt also, es geht darum, ökonomisch im Rahmen des Weltmarktes zu verstehen, was da eigentlich genau passiert. Und ich glaube, dass man da eben mit einem nationalistischen Konzept von Staat und Wirtschaft überhaupt nicht weiterkommt, dass dieses "take back control", wie wir es aus dem Brexit gehört haben, einfach eine Illusion ist im Blick auf die real existierenden Verhältnisse.
Kulturkampf statt Klassenkampf?
Marc Jongen: Nein, also, dass die Globalisierung stattfindet und auch nicht einfach jetzt zurückgedreht werden kann, ich glaube, da sind wir uns vollkommen einig. Dass Marx hier auch wichtige Analysen geliefert hat und übrigens auch so früh so radikal formuliert hat, dass man permanent das Gefühl hat, der spricht eigentlich von der Gegenwart und von der Zukunft und nicht von 1850 oder so. Deswegen sprechen wir ja auch hier bei Ihnen, weil er Durchblick und Weitblick bewiesen hat.
So, glaube ich, sollte er für eine Partei wie die unsere oder auch eine Bewegung, wie soll ich sagen, ein Sparringpartner sein oder ein Warner, es sich auch nicht zu einfach zu machen und jetzt nicht in so vereinfachte Formen zu verfallen von Renationalisierung der Wirtschaft oder so und dergleichen. Da sind wir uns vollkommen einig.
Worum es mir ging, ist eigentlich die Frage: Was sind eigentlich die großen tatsächlichen Akteure, die die Weltgeschichte bewegen? Da, glaube ich, trifft Marx schon eine Grundentscheidung, nämlich ausgehend von seiner ökonomischen Analyse, und er macht die an einer Klasse fest. Dem will ich jetzt im Sinne der AfD, aber auch vieler anderer Denker, die uns vielleicht näher stehen als Marx, widersprechen und da zum Beispiel mehr als von einem Klassenkampf von einem Kampf der Kulturen sprechen, der jetzt auch nicht die ganze Weltgeschichte beherrscht hat, aber der jetzt eben auch durch die Globalisierung, indem diese großen Kulturkreise – von Huntington kommt das Schlagwort ja – erstmals in der Weltgeschichte aufeinandertreffen, jetzt mehr und mehr ins Zentrum des Weltgeschehens rückt.
Und die große Auseinandersetzung zwischen der westlichen Kultur und der islamischen, die kann man eben mit klassenkämpferischen und materialistischen Voraussetzungen nicht wirklich verstehen.
Deutschlandfunk Kultur: Da bin ich mir nicht so sicher. Aber ich würde auch da noch mal darauf beharren, dass wir in der Situation sind, in der die Soziologie zum Beispiel erstens von der Wiederkehr der Klassengesellschaft spricht. Andreas Reckwitz in der "Gesellschaft der Singularitäten" hat das gerade getan und hat eine Dreidrittelgesellschaft mit einer neuen Mittelklasse, die globalisierungsoffen und auch, was die sozialen Verhältnisse betrifft, deregulierend, also im Hinblick auf Genderfragen, auf allgemeine Lebensfragen hin, orientiert ist.
Dazwischen gibt es die klassische Mittelklasse der höheren Dienstleistung. Und dann gibt es eine neue Unterklasse der Globalisierungsverlierer. Da finden tatsächlich erstmal die wesentlichen Konflikte statt, die sich an der Oberfläche in den ideologischen Reden zeigen.
Ideologie und Kritik
Herr Bayertz, wie würde denn Marx auf ein Verhältnis von Ideologie und tatsächlichen gesellschaftlichen Seins antworten auf eine solche Situation, in der wir vielleicht noch nicht die richtigen Begriffe haben, um eine Gesellschaft zu analysieren?
Kurt Bayertz: Zunächst ist natürlich vollkommen richtig, dass Marx da auf der analytischen Ebene der Überzeugung war, dass die Kräfte, die die Weltgeschichte bewegen, nicht die ideologischen Kräfte sind, auch nicht die kulturellen Kräfte. Aber das heißt umgekehrt nicht, dass er ideologische Bewegung, kulturelle Bewegung als irrelevant angesehen hätte. Ich meine, wenn man so ein Werk wie die "Deutsche Ideologie" oder andere von Marx betrachtet, da setzt er sich wirklich über viele hundert Seiten mit ideologischen Positionen auseinander.
Was die Gegenwart betrifft und die grundlegenden Tendenzen der Gegenwart, die gesellschaftliche Kraft, die in den letzten 200 Jahren das Gesicht dieser Erde maßgeblich und mit großem Abstand maßgeblich geprägt hat, ist das Kapital oder der Kapitalismus oder die bürgerliche Klasse oder wie immer wir das nennen wollen. Es kommt mir nicht auf den Begriff an. Darauf die Aufmerksamkeit zu lenken, ist, glaube ich etwas, was wir von Marx lernen können.
Wie wir dann darauf politisch reagieren, ist eine zweite Frage. Hier bin ich ein bisschen skeptischer. Unter den vielen kulturellen Kämpfen, unter diesem Schlagwort der Wiederkehr der Religion und was alles diskutiert wird zurzeit, darunter die entscheidende Triebkraft der gesellschaftlichen Veränderung in die Zukunft hinein nicht zu übersehen, das ist eine Lektion, die wir von Marx lernen sollten.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Jongen, würde das bedeuten, dass die AfD zu schnell auf die Seite der Ideologien rutscht und zu wenig die gesellschaftliche und ökonomische Wirklichkeit in diesem Lande beachtet?
Marc Jongen: Ja, es kommt drauf an, was man unter Ideologie versteht. Der böse Blick auf alle theoretischen Äußerungen ist durch Marx in die Welt gekommen. Und das nennt sich Ideologiekritik. Nichts ist das, was es zu sein scheint. Es steckt immer etwas anderes, eine Absicht und eben zumeist eine Herrschaftsabsicht dahinter. Und ein Rezipieren von Theorien und geltenden Weltanschauungen ohne diesen bösen Blick, den gibt's seit Marx nicht mehr. Das war gewissermaßen auch eine Bewusstseinsrevolution in dieser Unschuld. Dahinter kommt man nicht mehr zurück.
Kulturmarxismus und seine Folgen
Jetzt ist aber etwas passiert. Nämlich die Revolution hat auch ihre Kinder gefressen und dieser ideologische Blick oder ideologiekritische Blick ist natürlich auch auf Marx zurückgeworfen worden. Man spricht ja nicht umsonst von der marxistischen Ideologie. Also, auch Marx und die sozialistischen Gesellschaften sind unter diesen Verdachtsblick geraten.
Das ist, glaube ich, auch heute noch hoch aktuell, nämlich zu analysieren, wo sind denn heute ideologische Ladungen in unserem herrschenden Diskurs vorhanden, die wir nun von Marx lernend als ideologisch entlarven müssen, die aber nicht mehr die sind, die Marx noch vor Augen hatte, nämlich die bürgerlichen, sondern die ihrerseits sozusagen links und, wenn man so will, kulturmarxistisch kodiert sind.
Ich habe schon vorhin erwähnt, all dieses Reden von Weltoffenheit, Toleranz usw., da stecken ja gewisse Absichten und auch Herrschaftsabsichten von bestimmten gesellschaftlichen Kräften dahinter. Auch das muss jetzt sozusagen ideologiekritisch untersucht werden.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, aber Ideologiekritik im Sinne von Marx würde ja zunächst einmal nicht automatisch bedeuten, ein falsches Bewusstsein zu identifizieren. Das war ja die Auslegung der Frankfurter Schule. Bei Herrn Bayertz habe ich gelernt, dass es mit der Ideologiekritik und Marx eine schwierige Sache ist – Herr Bayertz, oder?
Kurt Bayertz: Ja, das ist eine schwierige Sache. Marx hatte entgegen anders lautenden Nachrichten niemals eine wirklich durchdachte und elaborierte Ideologietheorie. Ich glaube vor allen Dingen, dass es ganz falsch ist, so einen universalen Ideologieverdacht in die Welt zu setzen oder mit Marx zu verbinden.
Natürlich muss man sich alle Äußerungen im politischen Kontext ansehen und mal ein bisschen prüfen. Es gibt natürlich Theorien, die man nicht mit diesem Etikett versehen sollte und darf. Vor allen Dingen wundere ich mich ein bisschen, Herr Jongen, dass Sie unter diesem Begriff Kulturmarxismus bestimmte Theorien oder Auffassungen, Ideologien würde ich dann sagen, subsumieren, die nach meinem Dafürhalten mit Marx überhaupt nichts zu tun haben, political correctness zum Beispiel oder Sie haben eben von Genderismus gesprochen.
Selbst solche Begriffe wie Toleranz, Toleranz ist ja nicht speziell mit Marx verbunden. Toleranz ist eine Idee, die im 18. Jahrhundert aufgekommen ist und ganz unabhängig von Marx. Also, ich sehe so ein bisschen das Problem, dass wir jetzt unter dem Begriff Kulturmarxismus, früher sprach man von Kulturbolschewismus, eine Fülle von zum Teil aus meiner Sicht hochproblematischen Theorien, Theorieansätzen zusammenrühren, die mit Marx wenig zu tun haben.
Marc Jongen: Vollkommen richtig, Herr Bayertz, mit dem historischen Marx hat das sehr wenig zu tun. Wie es aber durch Transformationen dazu gekommen ist, dass das, was man die Linke nennt, sich dieser Begriffe heute bedient, die sich früher eben marxistischer Begriffe bedient hatte, da gibt es einen Impuls, der durch die Zeit geht, wo man eine gewisse Kontinuität feststellen kann.
Aber Sie haben völlig Recht. Mit dem historischen Marxismus hat das sehr wenig noch zu tun. Aber es kam eben dazu, weil das klassische Subjekt der Revolution, nämlich das Proletariat, in seiner Funktion versagt hat und man dann nach neuen Subjekten dieser Revolution suchte. Da kamen alle möglichen Minderheiten ins Spiel – die unterdrückten Völker der dritten Welt und die Frauen und die Schwulen usw., also, alles Mögliche ist da eingerückt in diese Stelle. Und im Zuge dessen kann man vielleicht in einem erweiterten Sinne von Kulturmarxismus sprechen.
Kurt Bayertz: Ja, ich würde schon darauf insistieren, dass wir diesen marxschen Impuls, eben zu schauen auf die wirklich wichtigen gesellschaftlichen Strömungen, und die gesellschaftlichen Strömungen, die auch über entsprechenden Einflüsse, Macht verfügen, dass wir darauf den Blick richten.
Ich meine, gegen Emanzipation der Frau ist ja nichts einzuwenden. Dass bestimmte Kräfte hier nicht nur zu weit gehen, sondern diesen Impuls geradezu pervertieren, scheint mir klar zu sein. Das Gleiche gilt auch für die postkolonialen Dinge. Wir sind alle für die Überwindung des Kolonialismus. Aber was da zum Teil unter dieser Fahne läuft, hat mit Marx überhaupt nichts zu tun und ist auch sonst politisch ganz schädlich.
Marc Jongen: Insofern zurück zu Marx. Darauf können wir uns einigen.
Deutschlandfunk Kultur: Zurück zu Marx würde aber für mich bedeuten, eben die Frontstellungen, die zum Beispiel zwischen den neuen Populisten, den Rechtspopulisten und zum Teil den Linken bestehen, auch wirklich aufzulösen. Weil, kein Mensch, jetzt gucken wir noch mal auf die Globalisierung, kein Mensch wird ja sagen, eine ungebremste Zuwanderung hält dieses Land und diese Sozialstruktur aus. Es wird Obergrenzen geben. Die stehen auch mittlerweile in den Koalitionsverträgen.
Ich glaube halt, dass die Verstellungen, die sowohl bei der Rechten stattfinden, bei Ihnen die Rückkehr zum Nationalstaat und Volkssouveränität als einzig heilig machendes politisches Instrumentarium, genauso falsch sind wie zum Beispiel also die Analyse von Didier Eribon oder Sarah Wagenknecht auf der linken Seite, die sagen: Na ja, der Populismus ist nur sozusagen eine Notwehr der unterprivilegierten Klassen, oder Sigmar Gabriel, der kürzlich im Spiegel sagte: Das sind die Verirrungen der postmodernen Kultur. – Das halte ich alles für Oberflächenphänomene. Die wirklichen globalisierten Finanzstrukturen, die Digitalisierung sind eigentlich erstmal richtig zu begreifen und zu analysieren, bevor man sich so vorschnell heraus wagt.
Kurt Bayertz: Ja, vollkommen einverstanden. Mit solchen Diagnosen ist niemandem geholfen. Der Rechtspopulismus greift reale Probleme in dieser Gesellschaft auf, die von bestimmten Teilen der herrschenden Eliten bisher nicht richtig ernst genommen worden sind, und die jetzt die Quittung dafür bekommen haben.
Also, da müssen wir einfach viel tiefer ansetzen und müssen uns genauer angucken, was in der Gesellschaft passiert, und die Maßnahmen ergreifen.
Die AfD und die konservative Revolution
Marc Jongen: Ich kann mit dem Ausdruck Rechtspopulismus hier in Bezug auf die AfD und in Bezug auf die Themen, über die wir hier sprechen, herzlich wenig anfangen. Das ist ein polemisches Etikett, das da angeklebt wird. Also, ich sehe das ...
Deutschlandfunk Kultur: "Genderismus" ist ja auch ein polemisches Etikett, Herr Jongen.
Marc Jongen: Aber Gender Studies ist ja eine Eigenbezeichnung. Und Gender Mainstream, das sind ja Eigenbezeichnungen ...
Deutschlandfunk Kultur: Das hört sich aber anders an.
Marc Jongen: Ja, das wird aber zurückgespiegelt. Aber lassen Sie mich sagen, was es stattdessen ist. Ich glaube, was wir wollen, ist eine Art von bürgerlicher konservativer Revolution, um dieses Schlagwort jetzt auch mal aufzugreifen, was jetzt auch andere bürgerliche Parteien, wie wir meinen, zu Unrecht für sich reklamieren.
Deutschlandfunk Kultur: Alexander Dobrindt meinen Sie, der das gefordert hat, ja?
Marc Jongen: Das ist nicht glaubwürdig. Aber der Sache nach ist es natürlich notwendig und meint auch eine Rückkehr zum klassischen Liberalismus, um das auch mal klarzustellen. Also, der klassische Liberalismus, der selbstbewusst sozusagen die Werte der Aufklärung verteidigt und gegenüber anderen Kulturen selbstbewusst durchsetzt und einfordert, der droht verloren zu gehen. Das ist eigentlich der Grundimpuls der AfD.
Deutschlandfunk Kultur: Das hört sich jetzt so gut an, Herr Jongen, aber mit dem Begriff der konservativen Revolution spielen Sie ja auf einen Begriff von Armin Mohler, der in den 70er-Jahren versuchte, die Weimarer Gegenbewegung zu fassen und sie vom Nationalsozialismus zu differenzieren. Darunter fasste er aber auch Leute, die klarerweise Antidemokraten waren, die völkisch orientiert waren, die zum Teil antisemitisch waren, antibürgerlich, dafür elitär, und zum Teil rassistisch orientiert.
Ist das denn wirklich der angemessene Begriff, um jetzt mal ideologiekritisch nachzufragen, um eine politische Richtung vorzugeben?
Marc Jongen: Also, wie ich schon gerade sagte, von diesen Strömungen der Zwischenkriegszeit unterscheidet sich der Begriff, wenn man ihn heute aufgreift, natürlich grundlegend. Er meint jetzt auch eine Rückkehr zur Demokratie und zum Liberalismus, die gefährdet sind. Insofern ein provokanter Begriff. Da wir heute von Marx sprechen und für Marx die Revolution auch sehr wichtig war und dieser Begriff jetzt auch von unseren politischen Konkurrenten schon aufgegriffen wurde, habe ich ihn verwendet.
Konservativ und revolutionär zugleich?
Man könnte es auch etwas zivilisierter fassen, wenn Sie wollen, aber die Lage ist so dramatisch oder diese Dinge sind so bedroht, dass es vielleicht doch gerechtfertigt ist, diesen martialischen Begriff zu verwenden. Aber er hat nichts mehr zu tun mit diesen antidemokratischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit. Das will ich ganz deutlich sagen.
Kurt Bayertz: Das reizt mich natürlich, auch zur konservativen Revolution noch was zu sagen. Ich meine, man muss sich einfach klar sein, das ist eine Sprechblase, die innerlich inkonsistent ist, und zwar aus folgendem Grund – da können wir noch mal schön zu Marx zurückkommen:
Marx hat den Kapitalismus für die revolutionärste Gesellschaftsformation der Geschichte erklärt. Das heißt, der Kapitalismus ist die eigentlich revolutionäre Kraft in unserer Gegenwart. Und das spüren wir übrigens täglich, wie er unsere Lebensweise verändert und immer wieder erneuert.
Konservativ zu sein und zugleich revolutionär, das ist bedeutet eben, man möchte gewisse Dinge, die einem lieb geworden sind, bewahren. Man möchte aber nicht an die eigentlich revolutionäre Kraft, nämlich den Kapitalismus rangehen. Der soll unangetastet bleiben. Und Herr Dobrindt ist mir jedenfalls nicht als Systemveränderer präsent.
Deutschlandfunk Kultur: Eher nicht.
Kurt Bayertz: Eher nicht, ja. Genau. Also, da zeigt sich schon die ganze Hohlheit dieser Phrase. Man kann nur konservativ* sein, wenn man Antikapitalist ist.
Marc Jongen: Vor dem Hintergrund der marxistischen Prämissen ist das natürlich absolut richtig, Herr Bayertz. In Bezug auf Herrn Dobrindt gebe ich Ihnen auch sehr Recht. Das sind wirklich hohle Phrasen in dem Zusammenhang.
Deutschlandfunk Kultur: So. Wir müssen jetzt einen Stopppunkt setzen. Marx trifft auf die AfD. Marx trifft auf die Politik. Marc Jongen und Kurt Bayertz, herzlichen Dank für das Gespräch.
*) Wir haben an dieser Stelle nachträglich die Verschriftlichung dem Wortlaut angepasst.